Corona deckt auf, unbarmherzig. Kollegiale Verhältnisse, politische und berufliche Netzwerke, Freundschaften und sogar Ehen zerbrechen an unterschiedlichen Einschätzungen über Corona und Corona-Maßnahmen. Manche versuchen, die Einheit dadurch zu retten, dass sie den Diskurs vermeiden. Andere versuchen, sich an „Orten jenseits von richtig und falsch“ (siehe Editorial StdZ 4/2020) zu treffen, um jeweilige Meinungen und Einschätzungen anzuhören und gewaltfrei stehen zu lassen. Aber auch da gibt es Grenzen. Im Falle von Corona werden Meinungen oft nicht bloß als Meinungen eingeschätzt. Sie „tun“ – angeblich oder tatsächlich – auch etwas. Sie unterwandern die Solidarität mit den Schwächsten, oder sie nehmen umgekehrt schweres Leiden von anderen Schwächsten billigend in Kauf. Unter diesen Umständen ist es kaum noch möglich, eine bloß moderierende Position einzunehmen, und vielleicht ist es auch gar nicht mehr erstrebenswert. Schließlich geht es um Leben und Tod, um Nähe und Distanz bis in die engsten Beziehungen hinein, um Arbeitsplätze und betriebliche Existenzen, um existentielle Überforderungen und schweren Schaden. Die Spaltungsdynamik geht in alle sozialen Schichten hinein und auch in alle politischen Lager von extrem rechts bis extrem links. Corona pulverisiert.
Dass Corona aufdeckt, trifft positiv wie negativ zu. Das Virus deckt auf, dass Deutschland ein funktionierendes Gesundheitssystem hat; hierzulande mussten nicht wie in New York Särge gestapelt werden. Es deckt auch auf, dass es viel konkrete Solidarität zwischen Menschen gibt. Von wegen bloß lauter „Ich-AG´s“! Corona deckt aber auch Herzensenge und Allmachtsansprüche der Angst auf. Social Distancing macht Räume auf, in denen soziale Spannungen und verkehrte Prioritäten zum Vorschein kommen, politisch und privat. Wenn sich Belegschaften in Schulen, Krankenhäusern und anderen Betrieben in Überängstliche und Sorglose spalten (um nur die Extreme zu benennen), dann werden darin auch charakterliche Dispositionen, lebensgeschichtliche Traumata und eingefahrene Überlebensstrategien sichtbar. Politisch legt Corona eine Fülle von gesellschaftlichen Konflikten bloß. Sie betreffen alle großen Fragen der Zeit, von der Digitalisierung des Bildungs- und Gesundheitssystems über die Lieferketten in Zeiten der Globalisierung bis hin zu den falschen Verheißungen des „technologischen Paradigmas“ (Papst Franziskus: Laudato si‘), das zum Beispiel mit der bloßen Fokussierung auf Rettung durch Impfung nicht nur Probleme löst, sondern auch Probleme schafft.
Mit großer Wucht bricht in Corona-Zeiten auch die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf. Eine ganze Gesellschaft diskutiert nun über die Frage, ob die Informationen der maßgeblichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stimmen, beziehungsweise ob sie richtig interpretiert werden. Diese Debatte muss sich die Wissenschaft allein aus zwei Gründen gefallen lassen: Zum einen präsentiert sie ihre Zahlen und Fakten nicht einfach nur „nackt“, sondern interpretiert sie, tritt in den Medien auf und formuliert Empfehlungen an die Politik. Darin ist sie eben auch politisch. Zum anderen gibt es innerhalb der wissenschaftlichen Community erhebliche Differenzen über das, was die „Fakten“ eigentlich sind und wie sie zu interpretieren sind: Kommt eine zweite Welle „mit ganz anderer Dynamik“ (Christian Drosten) auf uns zu oder befinden wir uns in einer „Dauerwelle“(Hendrick Streeck), mit der zu leben wir in den nächsten Jahren lernen müssen? Gibt die addierte Zahl der Neuinfektionen, die das RKI herausgibt, die Zahl des tatsächlichen Infektionsgeschehens wieder? Offensichtlich nicht, da sie nur widerspiegelt, wie viel Menschen auf das Virus positiv getestet wurden. Und was sagt diese Zahl im Verhältnis zu den Tests aus? Mehr Tests erhöhen die Zahl der positiv Getesteten. Und was ist mit der „Spezifizität“ (99%) der Corona-PCR-Tests? In einer coronafreien Gesellschaft würden also, wenn man weiter testet, immer noch Tausende positiv getestet werden. Wie verhält es sich schließlich mit der Relation von Infizierten zu Erkrankten? Und schließlich: Die Einschätzungen bei der Sterberate schwanken erheblich, je nachdem wie man zählt und wie der Begriff „Corona-Toter“ definiert wird. „Wenn Ihr Herz schwer geschädigt ist und Sie sterben im Fieber an Herzsuffizienz, sind Sie dann an oder mit Corona gestorben?“ (Alexander Dalpke)
Diese Debatten verwirren. Man kann sie ignorieren, weil sie verwirren. Doch die Zweifel lassen sich nicht wie Paste in die Tube zurückdrücken. Wissenschaftler verdienen Vertrauen, wenn sie sich an die Regeln des wissenschaftlichen Betriebes halten. Aber die Wissenschaft kann und darf nicht absolutes Vertrauen einfordern. Vielmehr muss sie immer die Bedingungen im Blick haben, unter denen ihre Aussagen widerlegt werden könnten. Es würde das Spaltungspotential von Corona schwächen, wenn alle, die mit Bezug auf Wissenschaft „Fakten“ behaupten, bescheidener im Auftreten würden. Ihnen müsste ein verantwortungsbewusster Journalismus zur Seite springen, der auch der Politik zugesteht, dass sie ihre Entscheidungen niemals auf letzte Gewissheiten gründen kann. Irrtümer sind keine Verbrechen, und Korrektur von Fehleinschätzungen darf kein politischer Suizid sein.