Die Zahlen der Opfer von sexualisierter Gewalt sind erschreckend, und das nicht nur in der katholischen Kirche. In einer Überschrift aus dem Jahr 2012 in der Augsburger Allgemeinen hieß es, „Jeder Achte ist betroffen“. Das berührt auch den Alltag kirchlicher Pastoral. Die Psychologin Erika Kerstner geht davon aus, dass in jeder Gruppe von vier Christinnen und Christen eine Person anwesend ist, die in ihrem Leben einmal sexuelle Gewalt erfahren hat.1 Wie jede Gewalt hat auch sexualisierte Gewalt an Kindern gewöhnlich eine lebenslange Nachgeschichte. Sexuelle Gewalt aber verletzt ein Menschenleben besonders tief, weil sie Menschen in ihren Fähigkeiten zu vertrauen und zu lieben berührt. Sie trifft den zentralen Nerv eines spirituellen und sozialen Sinngefüges. Danach gibt es kaum einen Lebensbereich, der von der Gewalterfahrung nicht berührt ist. Auch meine folgenden Überlegungen können daher für Opfer sexueller Gewalt belastend sein. Es ist eine Urangst von Menschen, dass sie selbst, eigene Kinder oder Verwandte von sexualisierter Gewalt betroffen werden. Auch das macht das Thema schwer und Versuche, es zu vermeiden, nachvollziehbar.
Nach oben verlängerte Autorität
Sexualisierte Gewalt hat aber nicht nur für die einzelnen Betroffenen eine jeweils persönliche Nachgeschichte, sondern sie hat auch Voraussetzungen in einer langen religiösen und kulturellen Vorgeschichte. In der katholischen Kirche hat sexualisierte Gewalt einen theologisch spirituellen Wurzelgrund in männlich-väterlichen Dominanzmustern. Betroffene haben Autorität oft als nach oben verlängert und von oben gedeckt erfahren. In der Autoritätsperson erleben sie daher nicht nur den Menschen selbst, sondern eine größere und höhere Macht.
Eine betroffene Frau, der ihre Peinigung in ihrer eigenen Familie widerfahren ist, sagt: „Gott war mir – jenseits eines bewussten Gottesbildes – bis zu meinem 40. Lebensjahr ein unberechenbarer Tyrann – er war wie meine Eltern. Da konnte auch ein theologisch verantwortetes Gottesbild nicht dagegen ankommen. Meine Erfahrung wusste es besser – genauer: schlimmer – als jede Theologie.“2 Ihre Stimme ist typisch. Vergleichbare Aussagen gibt es von vielen Betroffenen. Eine andere Betroffene hat sexualisierte Gewalt durch ihren Pfarrer erfahren. Ihre Erfahrung ist ganz ähnlich: „Über mir war der Pfarrer und dann kam gleich Gott, der Pfarrer war wie Gott.“ Die Erlebnisse und Erfahrungen eines Kindes mit den Eltern zerfließen in der späteren Erinnerung mit den Vorstellungen und Bildern von Gott. Und nicht nur die Eltern prägen lebenslang die Beziehung zu Gott, sondern auch andere Autoritätspersonen: Pfarrer, Lehrerinnen, Trainer, nahe Verwandte. Wenn Kinder durch solche Autoritätspersonen gepeinigt werden, tragen sie in späteren Freundschaften und Liebesbeziehungen Wunden mit sich, die sie ähnlich einschränken wie eine schwere körperliche Verletzung. Beziehungen, die sie gewöhnlich als positiv erfahren, werden toxisch. Wo Vertrauen zuhause sein könnte, ist Misstrauen und grundsätzliche Skepsis eingezogen. Liebe, die dem Leben Sinn geben kann, wird als beschädigt oder gar zerstört erlebt. Und dies berührt auch das Erleben der Beziehung zu Gott. Viele Betroffene sexualisierter Gewalt erfahren sich in ihrer Beziehung zu Gott als Geschlagene und Verletzte.
Was ist Patriarchat?
Wenn menschliche und göttliche Autorität ohne deutliche Grenzmarkierungen ineinanderfließen, ist dies in der kirchlichen Tradition durch patriarchale Strukturen begünstigt. In den 1970er- und 80er-Jahren war Patriarchat ein Verständigungsbegriff für feministische Theologinnen und alle, die mit ihnen sympathisiert haben. Mit dem Patriarchat konnte frau vieles der Kritik unterziehen, was mit der männlichen Dominanzstellung in Familie, Kirche, Gesellschaft und Himmel zusammenhing. Feministische Theologie führte mit dem Begriff Patriarchat Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen auf einen systemischen Zusammenhang zurück. Aber Patriarchat lässt sich heute nicht mehr nur feministisch bestimmen, sondern hilft als analytischer Begriff. Patriarchen sind nicht nur angry white men, ebenso wenig wie Gott ein old white man ist. Patriarchat ist nicht an Geschlecht und Hautfarbe gebunden. Unter Patriarchat verstehe ich vielmehr bestimmte Muster, Autorität zu verkörpern und sich ihr zu ergeben. Das Bild Gottes als alter, weißer gütiger Vater, aber gleichzeitig als machtvoll-strenger Richter hat diese Autoritätsmuster allerdings unterstützt und verbreitet.
Der Ausdruck Patriarchat meint wörtlich „Vaterherrschaft“ und kommt bereits in den biblischen Schriften vor, genauer gesagt findet sich dort das griechische Wort „Patriarch“. Abraham wird im Hebräerbrief Patriarch genannt (Hebr 7,4). Die Apostelgeschichte nennt die zwölf Söhne Jakobs „Patriarchen“ (Apg 7,8 f.) und sogar David wird dort „Patriarch“ (Apg 2,29) genannt. Mit diesem Begriff rekonstruierte das griechisch-sprachige Judentum die biblische Ursprungsgeschichte Israels nach dem späteren hellenistisch-römischen Familienbild ihrer Umgebung. Soziale und hierarchische Verhaltensmuster der hellenistisch-römischen Familie wurden damit in die Urgeschichte Israels zurückübertragen. Die Geschichten von den Müttern und Vätern Israels wurden so zu einer Patriarchengeschichte, in Kinderbibeln zu einer Geschichte von alten, weisen Männern mit langen weißen Bärten. In den biblischen Schriften selber wurde dies aber kaum kritisch gesehen.
Auch als der Begriff in der Frühen Neuzeit wieder aufgegriffen wurde, war er ursprünglich nicht kritisch gegenüber der Herrschaft von Vätern gemeint. Der englische Verfassungstheoretiker Robert Filmer rechtfertigte in seinem Traktat Patriarcha3 die Monarchie im englischen Bürgerkrieg. Seine Begründung war ebenfalls biblisch und griff noch weiter zurück als zur biblischen Patriarchenzeit:
Nach Filmer hatte Gott Adam die Herrschaft über alle seine Nachkommen anvertraut. Sie war bei der Sintflut an Noah übergegangen, und danach hatte sich die Väter-Herrschaft über Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet über den gesamten Weltkreis ausgebreitet. Robert Filmer zog daraus weitreichende staatstheoretische Konsequenzen:
“1. That there is no form of government, but monarchy only, 2. That there is no monarchy, but paternal. 3. That there is no paternal monarchy, but absolute, or arbitrary [willentlich, entschieden]. 4. That there is no such thing as an aristocracy or democracy. 5. That there is no such form of government as a tyranny. 6. That the people are not born free by nature”.4
In säkularer Weise spielt Filmer dabei politische Begründungsmuster durch, die in den theologischen Begründungen für die amtliche Struktur der katholischen Kirche bis heute wirksam sind. Auch die katholische Kirche versteht die bischöfliche Herrschaft patriarchal-monarchisch. Das lateinische Kosewort für Vater papa ist die Anrede für den Papst als Bischof von Rom; dabei fragt sich, was eigentlich ein papa emeritus sein soll. Ob der Papst oder ein Bischof Macht abgibt oder aufteilt, hängt weitgehend von seiner Klugheit und seinem Wohlwollen ab. Ein Recht auf die Teilung hierarchischer Vollmachten gibt es kaum. Außerhalb von Gewalterfahrungen wird die patriarchale kirchliche Hierarchie oft nicht als Tyrannei erlebt, sondern – zumindest gelegentlich – als wohltuende Konzentration der Verantwortung. Häufiger erscheint sie allerdings als intransparent, weil sie Abhängigkeiten von väterlicher Güte schafft. Demokratische Elemente oder auch aristokratische Elemente einer kollegialen Herrschaft der Besten werden aus theologischen Gründen weitgehend abgelehnt. In der Staatstheorie hat sich Filmers biblisch-patriarchale Begründung der Monarchie allerdings nicht lange gehalten; bereits John Locke hat ihr entschieden widersprochen.
Radikal kritisch wurde die patriarchale Struktur der Familie dann in den sozialphilosophischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels gesehen. Diese unterziehen die glorifizierenden Bilder bürgerlicher Liebe und Familie einer radikalen Kritik. In Mozarts Zauberflöte reichen Weib und Mann an die Gottheit an und ihr gedeihliches Zusammensein soll vor „Weibertücken“ geschützt werden, und in Schillers Gedicht Die Glocke steht die Familie als fest gemauertes Fundament für den Frieden auf der Erde. Marx und Engels haben diese Idealisierungen als patriarchal ungerecht enttarnt. Ihre kritische Analyse der Familie spiegelt die Massenarmut der Arbeiterschaft im frühen Kapitalismus und in der Industrialisierung wider. Friedrich Engels sprach davon, dass die Einzelehe „Unterjochung des einen Geschlechts durch das andere“ sei: „Der erste Klassengegensatz“, – so Engels – „der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.“5 Zusammen mit anderen sozialistischen Autoren erwarteten die beiden, dass auf einer höheren Stufe der zivilisatorischen Entwicklung ein ursprüngliches Mutterrecht als Freiheit, Gleichheit und klassenlose Geschwisterlichkeit wiederhergestellt werde.
An die frühsozialistische Patriarchatskritik hat die Frauen-Emanzipation in den 1970er- und 80er-Jahren angeknüpft – dieser ideologische Hintergrund wurde ihr häufig zum Vorwurf gemacht. Allerdings hat die sozialistische Kritik der bürgerlichen Familie auch sozialspsychologische Mechanismen freigelegt, die tatsächlich den Missbrauch autoritativer Macht begünstigen, und das nicht nur innerhalb der Kirche. Sie hat patriarchale Autoritätsrollen aufgedeckt, die von Männern wie auch von Frauen eingenommen werden können. Sie finden sich schon in den biblischen Schriften, etwa im Hebräerbrief. Der Brief propagiert ein in der Antike verbreitetes Erziehungsideal, er greift Verse aus dem biblischen Buch der Sprichwörter auf (12,5-6) und verlängert die Autorität des Pädagogen nach oben hin zu Gott. Dort heißt es (Hebr 12,7-9):
„Haltet aus in der Züchtigung! Gott behandelt euch wie Söhne. Denn welchen Sohn gibt es, den sein Vater nicht züchtigt? Würdet ihr nicht gezüchtigt, wie es doch bisher allen ergangen ist, dann wäret ihr keine legitimen Kinder, ihr wäret nicht seine Söhne. Ferner: An unseren leiblichen Vätern hatten wir harte Erzieher und wir achteten sie. Sollen wir uns dann nicht erst recht dem Vater der Geister unterwerfen und so das Leben haben?“
Diese Verse richten sich an Männer, die an die Unterwerfung in ihrer eigenen Jugend erinnert werden. Solche Männer setzen die anerzogenen Autoritätsrollen bruchlos an ihren eigenen Kindern fort, und sie werden vom Hebräerbrief ermahnt, dass auch Gott ihnen gegenüber in einer solchen Autoritätsrolle agiert.
Patriarchal verstandene Autorität erzeugt im Gegenüber eine Mischung zwischen Angst und Liebe, zwischen Hass einerseits – und andererseits der Identifizierung mit der väterlichen Autorität gegenüber den schwächeren Gliedern einer Gemeinschaft. Die Erfüllung der Pflicht nimmt im patriarchalen Autoritätsverständnis eine hohe Priorität ein, die Suche nach dem persönlichen Glück erzeugt dagegen oft Schuldgefühle. Diese psychologischen Autoritätsdynamiken wirken sich auch auf Sexualität und Liebe aus, denn sie gehören zu den elementarsten Quellen von persönlichem Glück und innerem Frieden. Ein Autoritätsmodell, dessen Kalkül auf eine Mischung zwischen Angst und Zuneigung zielt, birgt ein Risiko, Menschen in ihrer Liebesfähigkeit zu verletzen. Opfer sexueller Gewalt nehmen Autorität charakteristisch in einer Spaltung wahr, als gütig und hilfreich und anderseits hinterhältig und willkürlich. Oft sind sie von der gütigen Seite angezogen gewesen und haben dann erfahren, wie die bittere Härte der anderen Seite zuschlägt.
Wenn Missbrauchsopfer dafür Gott anklagen, weil er sie nicht vor ihrem Trauma bewahrt hat, löst das oft weitere Schuldgefühle aus, weil Autoritäten in einem patriarchalen System nicht kritisiert werden dürfen, schon gar nicht Gott.
Patriarchat und Hoffnung
aus dem Neuen Testament
Der Verweis auf den Hebräerbrief hat gezeigt: Auch die biblischen Schriften haben Teil an patriarchalen Strukturen. Das erste Christentum übernimmt die patriarchalen Strukturen aus dem Judentum, in dem es wurzelt. Durchgängig hat die Vater-Sohn-Beziehung zentrale Bedeutung. Paulus lässt keine Einsicht in die untergeordnete oder gar unterdrückte soziale Stellung von Frauen erkennen, er legitimiert sie sogar. Die patriarchale Ordnung zeigt sich auch im Bereich der Sexualität: Im Römerbrief nennt Paulus das sexuelle Zusammenkommen von einem Mann mit einer Frau einen „natürlichen Gebrauch“ (Röm 1,26)6. Natürlich ist also, dass Männer Frauen sexuell gebrauchen. Frauen und Männer, die sich diesem natürlichen Gebrauchen und Gebrauchtwerden widersetzen, sind dem Zorn Gottes ausgeliefert. Schon die Voraussetzung, dass es einen legitimen Gebrauch von Menschen zur Befriedung sexueller Bedürfnisse gäbe, aber widerspricht der Gegenseitigkeit der Liebe, erst recht gibt es keinen legitimen sexuellen Gebrauch von Kindern oder Jugendlichen.
Aber es gibt im Neuen Testament auch Ansätze, die patriarchalen Strukturen zu überwinden. Jesus lehnt „Vater“ als Anrede für christliche Amts- und Ehrenträger ab. Dem Oberhaupt der Familie – d.h. dem Patriarchen – wird die Macht genommen, weil sie Gott gehört. Die väterliche Autorität wird also nicht zusätzlich durch die göttliche Autorität religiös von oben legitimiert. Die Analogie zwischen dem Vater in der menschlichen Familie und Gott als Vater wird bestritten, der Unterschied wird betont: Gott ist Vater Unser in den Himmeln (Mt 6,9b).
Jesus und später auch Paulus nennen diejenigen, die zu ihnen gehören, „Schwester“ und „Bruder“. An die Stelle der familiär-strukturierten Liebe tritt schon in den ersten christlichen Gemeinden die Liebe zwischen Schwestern und Brüdern, die philadelphia (1 Thess 4,9, Hebr 13,1 und 1 Petr 1,22). Und an die Stelle der biologischen Familie als wirtschaftlicher und häuslicher Einheit tritt die ekklesia als eine Hausversammlung. Wer Hauszugehöriger ist, wird durch die Beziehung zu Jesus als dem Messias bestimmt, nicht durch die biologisch-ökonomische Struktur der Familie. Die theologische Rede von der Kirche als familia Dei ist dagegen problematisch, weil sie gesellschaftliche Familienvorbilder auf die Kirche überträgt. Wenn Paulus von Geschwistern spricht, dann nicht so, dass die anderen Rollen der biologischen Familie ergänzt werden können, und Gott die Rolle als gemeinsamer Vater einnimmt. Die Christen sind nicht deshalb Geschwister, weil sie Gott gemeinsam als Vater haben, sondern weil sie als Schwestern und Brüder zu Christus gehören. In der christlichen Gemeinschaft soll sich daher niemand „Vater“ nennen und ebenso niemand einen Vater spielen, als wäre er Gott oder gottähnlich. Wenn das geschieht, wird die allein auf Gott bezogene Vateranrede zumindest gestört, wenn nicht zerstört, und damit auch die Gottesbeziehung massiv irritiert.
Gotteskrise und Glaube
Der Wiener Theologe Wolfgang Treitler ist selber ein Betroffener sexualisierter Gewalt. In einer lesenswerten Novelle mit dem Titel „Sehr gut“ hat er seine Erfahrungen verarbeitet und theologisch reflektiert. Darin erzählt er auch von den Schwierigkeiten des Protagonisten, Gott noch als Vater zu sehen. Die Metapher ist für ihn bankrottgegangen, weil sein Peiniger ganz bewusst die Vatermetapher eingesetzt hat, um an ihn heranzukommen. An Stelle des Vater Unsers betet er:
„Mein Vater im Himmel, ist dein Name denn noch heilig? Dein Reich ist nicht gekommen. Und wenn dein Wille geschehen ist an mir, dann hast du verloren. Das zähe tägliche Brot erhielt ich aus der Küche, besseres von Freunden. Schuld wurde in mich hineingeprügelt und aus mir herausgefingert, Schuld, die ich nie hatte und die ich auch nicht vergeben werde. Versuchungen wurden mir erspart. An diesem guten Ort hier aber habe ich mich selbst gelöst in einer Kraft und in einer Herrlichkeit, die mir mein Körper geschenkt hatte, in dem ich ohne diese Herrlichkeit nicht hätte aushalten und überleben können. Amen.“7
Auch dieses Gebet ist typisch. Für viele Betroffene sexualisierter Gewalt ist die Frage nach Gott keine theoretische Frage, sondern unmittelbar existenziell: Wo bist Du, Gott? Wer bist Du, dass ich Dich nicht verstehe? Wo bist Du gewesen, als ich gepeinigt wurde? Auch die Gegenseitigkeit der Vergebungsbitte im Vater Unser ist für sie schwer verständlich: Sie können das, was ihnen geschehen ist, nicht vergessen und die Schuld, die an ihnen geschehen ist, nur schwer vergeben. Ihre Stimmen klagen Gott an, ähnlich, wie es Ijob in der Bibel tut, zusammen mit Beterinnen und Betern in vielen Psalmen. Nur wenige Opfer aber gelangen zu der Erfahrung Ijobs, in ihrer Klage auch zu einer Begegnung mit Gott auf Augenhöhe zu finden. So sagt es Ijob am Ende: „Bisher kannte ich dich nur vom Hörensagen, doch jetzt habe ich dich mit eigenen Augen gesehen“ (Ijob 42,5). Die Missbrauchskrise wird deshalb zu einer existenziellen Gotteskrise. Und diese Gotteskrise birgt die Gefahr, dass Menschen die Suche nach Gott als einem gerechten und liebenden Gegenüber aufgeben.
Wenn Glaube in der Missbrauchskrise für Menschen auch heute die Botschaft bleiben soll, dass der Gott des Lebens die Mächte des Todes besiegt hat, dann ist dafür ein konsequentes patriarchatskritisches Verstehen der Quellen dieses Glaubens notwendig, der biblischen Schriften wie der theologischen Tradition. Es verlangt ebenso, dass sich Kirche nicht länger als der nach unten verlängerte Arm der Autorität Gottes versteht. Amtsträger sind nicht Väter und nicht exklusiv Stellvertreter Gottes; alle Menschen sind dies, weil sie Gottes Ebenbild sind. Ein neues Verstehen der Quellen des Glaubens kann zeigen, dass Gott anders ist als menschliche Mütter und Väter. Gott führt nicht in Abhängigkeit, sondern lässt Menschen auf Adlersflügeln fliegen. Gott führt in die Freiheit, auch in die Freiheit, wieder oder neu zu vertrauen.