Mit „Religion“ verbinden wir ein weites Bedeutungsfeld: Öffentliche Rituale, Amt, Institution, Buch, Lehre, Glaubensbekenntnis, Kirchengebäude. Predigt, Glaubenswissen und der Unterricht dazu. Lange Geschichte und reiche Traditionen. Große Versammlungen. Theologische Reflexion. Verwaltung, Recht und „Struktur“. Hierarchie und Kontrolle. Alte Gewänder und Gesänge, Kerzen und Ikonen, Glocken und Weihrauch. Mönche, Nonnen, Priester – hochreligiöse Menschen, viele von ihnen alt und manche auch weise. Gott, nahbar im Ritus und präsent in Machttaten.
Auch mit „Spiritualität“ assoziieren wir Vielfältiges: Persönliches Ergriffensein durch Gott oder seinen Geist. Gottsuche in der Stille. Auch Gottferne, Leere, Trostlosigkeit. Abgeschiedenheit von der lärmenden Welt und einfaches Leben. Leben aus christlichen Werten wie Liebe und Barmherzigkeit, Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Großzügiges Teilen mit anderen, Diakonie. Geistliche Gemeinschaften und gemeinsames Gebet. Unterscheidung der Geister, individuell und in Gruppen. Mystische Versenkung. Überschreiten der Grenzen von Religionen, Konfessionen, Kulturen. Menschen von überall. Gott, spürbar, geheimnisvoll, ungreifbar.
Der Katholizismus bestand schon immer aus viel Religion, der deutsche mit seiner starken Institutionalisierung, seinen Funktionärsstäben, seinen Verbänden und Gremien nochmals mehr. Hingegen ist im Protestantismus die Institution weniger bedeutsam, zumindest in der Theorie – doch in Deutschland ist seine faktische Institutionalisierung in den Landeskirchen weit fortgeschritten. Andere Religionen, insbesondere asiatische, verstehen sich deutlicher als Spiritualität. Überregionale Organisation und Struktur brauchen sie nicht.
Corona hat nun – insbesondere in Deutschland – ganz viel Religion abgewürgt, völlig ungeplant und unabsehbar. Das wurde erstaunlich klaglos hingenommen. Nicht einmal Ostergottesdienste gab es. Das weiterhin gut bezahlte Personal wurde in seinem klassischen Aufgabenprofil weniger gebraucht und geriet teilweise in Sinnkrisen. Wurde stattdessen die Spiritualität stärker? Die gespenstische Stille in den Straßen, das viele Zuhausesitzen, die wegbrechende Arbeit führten viele zum Nachsinnen, zur spirituellen Suche, auch zu mehr Kommunikation im engen Kreis. Andere vereinsamten. Manche wurden in Krise und Verwirrung, ja in Zweifel, in Depression, in existentielle Ängste und in reale Nöte gestürzt und dadurch neu auf die Gottesfrage geworfen. Bisherige religiöse Praxis brach weg, andererseits brachten im Internet gestreamte Andachten viele Kirchgänger – und manche Nichtkirchgänger – dazu, zu Hause zu beten, alleine oder in Familien. Viele machten die überraschende Erfahrung, „es geht ja auch ohne Gottesdienst“, ohne Kirche, ohne „Religion“. Viele halfen den Nachbarn, ganz diakonisch.
Wächst in der Krise die Spiritualität? Natürlich frei herumsuchend, ungesteuert, bisweilen anarchisch und chaotisch, aber doch auch kreativ, innovativ, oft schmerzhaft oder über Schmerzen angeregt. Wächst ein eher mystischer und weniger kirchlicher Glaube? Nach Corona werden die Kirchen wohl nicht mehr so voll sein wie vorher. Dass jemand nur Religion lebt, ohne persönliche Spiritualität, das geht schon lange zurück und wird mit Corona weiter zurückgehen – ist das ein wirklicher Verlust?
Natürlich braucht der katholische Glaube Religion: Der Mensch ist ein Sinnenwesen, er will Rituale, den Kontakt mit Konkretem, mit Institutionen, und er braucht Gemeinschaftserlebnisse. Das sagen nicht nur Religionsfunktionäre, die ihre Pfründe zu wahren haben; jeder vernünftige Zeitgenosse weiß das. Religion ist sinnlicher und intellektueller, öffentlicher und politischer – all das macht den Menschen aus. Doch ohne Spiritualität wird Religion verschwinden, denn Spiritualität ist persönlicher, intimer, sie vollzieht sich in der Herzenskammer sowie in Beziehungen. Frei weht der Geist, und ohne ihn zu spüren, ist in religionsloser Umgebung Religion nicht mehr plausibel.
Nach Corona wird die Religion sich verändern – noch ist schwer abzusehen, wie stark und wie. Der Kirche wird es guttun, gegen alle Verlustängste den Rückgang von Religion zu tolerieren und das spirituelle Leben zu fördern. In der Corona-Zeit hat sie dazu – sicher mit Mühe und keineswegs genügend – einiges gelernt: nicht nur die Technik des Streamens, auch das Beten zuhause, auch die Relevanz der Gottesfrage…
Ziel der Kirche ist ja nicht, Mitglieder zu rekrutieren, die Institution zu bewahren, die rechte Lehre zu verbreiten, Politikerinnen und Politiker zu beeinflussen… Ihr Ziel ist, das Reich Gottes zu fördern – und dieses ist mehr Spiritualität als Religion: Vertrauen in einen geheimnisvollen Gott; Miteinander der Menschen aus Glaube, Hoffnung und Liebe; weltweite Gerechtigkeit und Friede im Heiligen Geist. Wo in 2000 Jahren Christentum Religion und Spiritualität miteinander lebten und sich gegenseitig bereicherten, war oft der Glaube in Blüte. Wird Corona zum Anstoß, dass Spiritualität wächst und so auch Religion wieder authentischer wird? Dass Kirche weniger für sich selbst arbeitet, sondern mehr für das Reich Gottes?