Rezensionen: Kunst & Kultur

Richter, Franziska (Hg.): Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert. Reflexionen Kulturschaffender und Kreativer.
Bonn: Dietz 2020. 192 S. Kt. 16,–.

Der Schock sitzt tief: Das Corona-Virus hat für viele Kulturschaffende nicht nur rasend schnell die materielle Grundlage hinweggerafft, es hat auch Selbstverständnis und Inhalt aller Kunst radikal verändert. Künstlerinnen und Künstler reagieren mit großer Sensibilität auf diese Neuerungen und versuchen, sich ihnen künstlerisch zu nähern, auch wenn für sie wohl genauso unabsehbar und unbegreiflich wie für alle anderen Menschen ist, wohin die Reise gehen wird.

Das Buch bringt knapp 30 Beiträge von Kulturschaffenden: Schauspielerinnen und Fotografen, Autorinnen und Intendanten, auch Kulturmanager und Politikerinnen. Sie alle erzählen ihre Erfahrungen der Krise, und sie reflektieren über Veränderungen, Perspektiven, auch über ihre Unsicherheit und Zukunftsangst. Beeindruckende Fotos aus der Corona-Zeit ergänzen die Texte. Naturgemäß haben die Beiträge unterschiedlichen Charakter und Qualität, manche bleiben recht vage und abstrakt bezüglich der Zukunft, manche allzu appellativ oder pathetisch. Als Zeugnisse sollen die Beiträge gesellschaftlich aufrütteln. Die soziale Lage vieler Kunstschaffender war schon vor Corona prekär und ist es noch viel stärker geworden. Eine Gesellschaft, die nur das materiell und gesundheitlich Notwendige als „systemrelevant“ definiert und in der Krise entsprechend fördert, muss lernen, auch die kulturellen und geistigen Anlagen der Menschen hochzuschätzen und jene Personen, die aus diesen und für diese Bedürfnisse leben, besser zu stützen.

Kulturarbeit wird weniger selbstverständlich, ist daher neu zu debattieren; sie wird vermutlich regionaler und nationaler sein. Die in der Corona-Zeit große Solidarität der Bevölkerung auch mit Kunstschaffenden – wird sie bleiben? Wird sich der Staat in Zeiten riesiger Verschuldung aus der Kulturförderung zurückziehen? Wie verändert der Digitalisierungsschub das kulturelle Leben? Wird traditionelle Kunst, da leichter zugänglich, siegen über experimentelle Kunst? Wird Kunst noch mehr kommerzialisiert? (M. Schindhelm, 78 ff.) Wenn Zahlen und Fakten zum Maß aller Dinge werden: Wie wieder zu einem vernunftbasierten, kreativen Austausch von Ideen finden? (J. Marinic, 126 ff.) Mehrere Beiträge zeigen auf, dass Corona die soziale Ungleichheit verstärkt: Arme können weniger Distanz halten, werden schneller arbeitslos oder krank, haben kaum Zugang zur Medizin. Und Corona verstärkt Rassismus, der gleich zu Beginn der Krise etwa gegen asiatisch aussehende Menschen ausbrach (F. Ataman, 143). Das ökologische Anliegen dringt stark durch: Lernen wir durch Corona hinreichend, dass der reiche Westen seinen Lebensstil ändern muss? Appelliert wird, gegen den Trend zu Populismus und zu autoritären Regierungen, an Demokratie, Zivilgesellschaft, Solidarität, starke soziale Netzwerke und starke Parlamente – diese würden sich in Krisen als resilienter erweisen; all dem kann man nur von Herzen zustimmen.

Stefan Kiechle SJ

 

 

Roth, Patrick: Gottesquartett. Erzählungen eines Ausgewanderten.
Freiburg: Herder 2020. 224 S. Gb. 22,–.

Patrick Roths neuer Band mit Erzählungen umkreist Tod und Auferstehung, Grenz- und Verwandlungserfahrungen, Psychologie und Religion. Und das in einer überaus intensiven, verwandelnden Weise.

Gottesquartett besteht aus einem Rahmen und den vier titelgebenden Erzählungen. Ein deutscher Schriftsteller, der nach fast vierzig Jahren in Los Angeles nach Deutschland zurückgekehrt ist, fliegt mit seinem neuen Manuskript im November 2019 nochmals nach L.A. Dort ist eine gute Freundin gestorben, Dianne Edinger, eine Psychotherapeutin. Der Autor hat eine kleine Gedenkrede für sie geschrieben. Doch die Trauerfeier fällt aus. Wildfires, unkontrollierbare Waldbrände, bedrohen die Wohngebiete.

Also fassen der Autor, den wir getrost mit Patrick Roth identifizieren können, und drei Freunde, sein amerikanischer Übersetzer Wyatt, seine Frau Vera, eine Grafikerin, sowie die ehemalige Daytime-Soap-Darstellerin Ava einen Plan: Sie lesen sich die vier Erzählungen an vier Tagen reihum vor, auf einer Terrasse am Meer.

Ergänzt, symbolisch gespiegelt und kommentiert werden sie in vier weiteren Erzählungen, der besagten Rede auf Dianne, einem Vorwort sowie einer Erinnerung Roths an seine früheste Amerikazeit; hinzu kommt eine herrlich-heitere Erzählung von Wyatt.

Mit der Zahl Vier geht Patrick Roth aufs Ganze, wie die „vier Himmelsrichtungen das Ganze der Welt bezeichnen, vier Jahreszeiten das ganze Jahr, vier Evangelisten die ganze Botschaft“. Aber sein Erzählsinn richtet sich nicht nur nach oben, sondern auch nach innen: in die hochsymbolischen Erzählweisen von Traum, Film und Bibel. Vernetzt sind die Geschichten durch archetypische Bilder von Feuer und Funke, ihre Leitfiguren kommen aus dem Alten und dem Neuen Testament: der Prophet Samuel, der als vielleicht erster Therapeut die religiöse Quintessenz der Seele entdeckt, der Patriarch Abraham, der mit Gott ums Erbarmen rechtet, der junge David, der sich mit einem treffenden Stein für den Kampf mit Goliath rüstet, und Saulus-Paulus mit einer merkwürdigen Version seiner Bekehrungsvision.

Es macht den besonderen Reiz und die außergewöhnliche Spannung dieser Geschichten aus, dass sie nicht nur erzählt, sondern auch vorgelesen, besprochen und erklärt werden (und auch Gestalten aus Film und Literatur enthalten, von Hitchcock bis Michelle Pfeiffer, von Hölderlin bis Kafka). In einer kleinen Auslegungshilfe sagt uns der Autor sogar, „wie zu lesen sei“: im Warten auf das Unerwartete, auf das zukommende Unbewusste. Das hat tiefenpsychologisch Hand und Fuß – und wird uns immer wieder in exemplarischer, sprachlich anschaulicher Dichte vor Augen geführt.

Es bleiben zentrale Fragen an Literatur und Religion: Wobei hilft uns die Kunst des Erzählens und Erinnerns? Wie kann man beim Lesen auf sich selbst stoßen? Wie können aus Mythos und Legende eigene Seelendialoge werden? Warum verbirgt sich Gott vor uns nicht? Was haben psychologische Projektionen mit der Nachfolge Christi zu tun? Und vor allem: Was hat es damit auf sich, wenn sich Gott in uns verwandelt, will heißen: nicht nur im Geheimnis der Menschwerdung, sondern auch in einer je individuellen Gottes-Erfahrung oder religiösen Lesespur? 
Patrick Roths Gottesquartett ist Arbeit an der Religion, es ist ästhetisch packende Literatur, eine eindringliche Erzählung, ein faszinierendes Buch, in dem Bibel und Mythos noch brennen.

Michael Braun

 

 

Heubner, Christoph: Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen.
Göttingen: Steidl 2019. 104 S. Gb. 14,80.

Der Schriftsteller Christoph Heubner – in den 1980er-Jahren Leiter des Osteuropa-Referats der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und seit 20 Jahren Geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees – hätte diese Geschichten schon früher aufschreiben können. Aber vielleicht brauchte das Niederschreiben gerade solcher Geschichten seine Zeit.

Erzählt werden in dem kleinen Buch sowohl auf eindrückliche wie einfühlsame Weise drei Geschichten, die jeweils für sich stehen, die aber alle miteinander verbunden sind, „weil sie sich auf den gleichen schrecklichen Ort beziehen und dieselbe Vorgeschichte haben“: das leere Haus. Eine junge Frau kehrt zurück, sie hat Unvorstellbares überlebt. In ihrem Herzen trägt sie das Haus ihrer Familie, ein leeres Haus. Einen langen Weg geht die Frau, der sie schließlich in eine neue Heimat führt, weit weg von den Schatten der Vergangenheit, nach Pittsburgh.

Ein Stück Wald und eine Wiese. Ein alter Mann und eine alte Frau stehen in einem Wäldchen. Es riecht seltsam, grauer Staub scheint sich auf alles herabzusenken. Die Liebsten wurden schon zu den Duschen geschickt, nackt. Die Kleidung sorgsam gefaltet. Sie aber stehen da und warten. ‒ Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen. Felka Platek, ein jüdisches Mädchen aus Warschau, will Malerin werden, gegen alle Konventionen und gegen den Willen ihrer Eltern. Sie verlässt ihre Familie und geht nach Berlin. Dort trifft sie den Maler Felix Nussbaum, der Beginn einer Liebesgeschichte. Doch diese Geschichte hat kein gutes Ende. Felka Platek und Felix Nussbaum werden in Auschwitz ermordet.

In seinem Nachwort beschreibt der Autor die Vorgeschichte dieses Buches, die sich über mehr als vier Jahrzehnte erstreckt und in verschiedenen Ländern spielt, überall dort, wo Auschwitz-Überlebende für sich eine neue Heimat gefunden haben. Nach zahllosen Begegnungen und Gesprächen mit jüdischen Überlebenden, die Christoph Heubner an ihren Erinnerungen und Empfindungen, ihrer Verlorenheit, ihrer Empörung und ihrem Leben teilhaben ließen, sind diese Texte entstanden. „Und in ihnen stecken auch die Worte, mit denen die Überlebenden die Bilder ihrer ermordeten Familienangehörigen beschwören.“ In einem der Gespräche fiel der Satz: „Wir Überlebenden sind der Bruchteil, die anderen sind der Ozean, die Asche.“ Viele der Gespräche – so Heubner ‒ mussten übersetzt werden. Nicht übersetzt werden mussten dabei die Worte: „Halt“, „Achtung“, „Appell“, „Schornstein“, „Rauch“, „Arbeit macht frei“.

Zur Vorgeschichte dieses Buches gehört auch dies: Die französisch-jüdische Auschwitz-Überlebende Simone Veil – unter anderem die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments – sprach am 27. Januar 2004, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust und dem Tag der Befreiung von Auschwitz, vor dem Deutschen Bundestag. Am Rande ihres Aufenthaltes in Berlin führte sie auch ein längeres Gespräch mit Christoph Heubner, bei dem es unter anderem um die Frage ging, wie mit den Erinnerungen der Überlebenden umzugehen ist, wenn von ihnen keiner mehr am Leben sein würde. Die Befürchtung Simone Veils war, dass irgendwann der Staub über den Toren der Archive liegen und die Oberhand gewinnen würde. Sie „drängte, ruhig und bestimmt: Ihr müsst unsere Geschichten weiterschreiben, ihr müsst euch die Fakten und unsere Erinnerungen aneignen und künstlerische Wege finden, unseren Emotionen eure Emotionen hinzuzufügen.“

Dieses Buch, in dem die Erinnerungen der Überlebenden literarisch erfahrbar werden, ist sehr zu empfehlen, insbesondere in einer Zeit der Ausgrenzung und des Rassismus, des Rechtsextremismus und eines wachsenden Judenhasses.

 Wolfgang Brinkel

 

 

Morsbach, Petra: Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand.
München: Penguin 2020. 363 S. Gb. 22,–.

Warum schreibt ein versierter Romancier wie Morsbach (PM) einen Essay, wenn es um verbotene Lust bei einem Kardinal, um pure Geldgier einer Politikerin und Geltungssucht eines Professors geht? So oder so eine heftige Krimiserie. PM kämpft für Gerechtigkeit und gegen die Doppelmoral der Kirche (Quelle: Das Buch Groër: eine Kirchenchronik, von Hubertus Czernin), für staatliches Recht (Schlussbericht des Untersuchungsausschuss Modellbau) und für die künstlerische Freiheit an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.

Im Fall des Kardinals von Wien zeigt PM, wie immer mehr Macht sexualisierte Gewalt verdeckte. Erst ein Interview eines Betroffenen – es wurden mehr und mehr – überführte Groër: eine bewährte Methode. Bis der Täter (nie laisiert und verurteilt) ins Exil geschickt wurde, dauerte es viel zu lange. Bevor Groër ins Kloster Göttweig eintrat, wurde er von Prior B. Goossens 1974 auf seine sexuellen Umtriebe angesprochen. „Es war und ist vorbei“, antwortete der Mönch in spe (s.Q. 46). Dieses Geständnis zitiert PM nicht, sondern ein „Halbgeständnis“ (61). Groër brachte 21 Männer mit in den Konvent, der seither gespalten war. Zwölf Jahre später wurde der Mönch Bischof von Wien.

PM ordnet die Fakten mit kaltem Verstand anhand der Feinanalyse der Sprache. Wut aufseiten der Betroffenen versus falsche Solidarität unter Bischöfen. Ihre Empörung (29) in autoritärem Ton seziert PM meisterlich. Mit Gottes Hilfe Verbrechen zu vertuschen ist vorbei. Bischof K. Krenn wollte damals keinem Persilscheine ausstellen, „nur weil er sich Opfer nennt“ (109). Menschenverachtender Zynismus! PM zielt auf den Machtmissbrauch der Hierarchie insgesamt – teils bis heute im Amt. Einzelne Mönche und Ehemalige blieben dagegen hartnäckig und sprengten Lügengebäude. 2003 wurde Groër von Kardinal Meisner beerdigt, der seinerseits in seinem Erzbistum vertuschte (Christ&Welt 41).

Im Fall von Ch. Haderthauer und ihrem Ehemann, die als Leiterin der Staatskanzlei in München wegen der Modellauto-Affäre zurücktrat, ist PM völlig paragrafensicher. Es grüßt  ihr Roman „Justizpalast“. Der Untersuchungsausschuss (UA) vernebelte bewusst die Strafsache und stärkte den Machtapparat der Parteien in Bayern. „Je abwegiger eine Gruppe handelt, desto mehr Solidarität fordert sie ein“ (168). Sowohl der Kirche als auch der Politik war jedes rhetorische Mittel recht, um makellos dazustehen. Wie? Recht wurde vom System gebeugt.

Im letzten Fall ist PM befangen. Aber „ohne diesen Blick wäre der vorliegende Essay nicht entstanden“ (220). PM macht sich nicht wie Loriot über Dichterlesungen lustig, sondern forderte sie unerbittlich in der Akademie der Schönen Künste ein, obwohl nur wenige Kollegen diese Praxis bis heute teilen. Des Pudels Kern liegt wohl weniger in der Anwendung der Regel gegen Lesungen von Mitgliedern, als vielmehr in dem Versuch des Präsidenten (ein Germanist), mithilfe seiner Gefolgsleute Verbote zu erteilen. Die Freiheit der Künstler im Namen der Freiheit der Kunst zu beschneiden, das ist der wunde Punkt bei PM, während Prof. B ihren „unsäglichen Verleumdungsbrief“ an den damaligen zuständigen Staatsminister monierte. Haben beide Grenzen überschritten in diesem „Akademieabenteuer“ (295)? PM setzt in allen drei Fällen auf lebendige Menschen, die Widerspruch wagen (214). Am Ende wird sie selbst zur Furie, weil die Macht der Mächtigen nur so zu bändigen sei. Mit 33 nützlichen Tipps schließt das lesenswerte Lehrbuch über Macht. Ein Muss für Aufklärer.       

 Georg Maria Roers SJ

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