Advent in Ängsten

Krankheit ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein soziales Problem. In der Antike zeigte sich das besonders deutlich am Aussatz. Diese Erkrankung war zwingend mit sozialer Ausgrenzung verbunden. Die Kranken beteiligten sich selbst an ihrer Ausgrenzung, aus Solidarität, um die Gesunden vor sich zu schützen. „Der Aussätzige soll rufen: Unrein, unrein! Solange er die Krankheit an sich hat, bleibt er unrein!“ (Lev 13,45). Predigten vor Corona-Zeiten pflegten meist diese Ausgrenzungs-Verhältnisse zu geißeln, um dann umso mehr Jesus zu preisen, der mit der Berührung der Aussätzigen die Ausgrenzung überwindet und zugleich den Preis dafür zahlt: „Ein Verachteter, und wir haben ihn nicht geachtet. Doch unsere Krankheiten, er hat sie getragen“ (Jes 53,3 f.).

Ein Unterschied zwischen Aussatz zu antiken Zeiten und Corona in der Gegenwart besteht darin, dass die Unterscheidung zwischen ansteckend und nicht-angesteckt bei Corona nicht funktioniert. Über die reale Infektiosität des Corona-Virus streiten sich die Gelehrten. Faktisch aber lauert seit März dieses Jahres die Angst vor der Ansteckung in der Begegnung aller mit allen. Sie hat ein doppeltes Gesicht: Die Angst infiziert zu werden, sowie die Angst zu infizieren. Alle tragen beide Ängste in sich. Mal bilden die beiden Ängste eine Interessensgemeinschaft, mal eine Interessenskollision, die je unterschiedlich gelöst wird.

Auch das Motiv der Ausgrenzung ist durch Corona in die Gesellschaft zurückgekehrt. Am Anfang steht die schlichte Einsicht, dass Abstandhalten vor Ansteckung schützt, also: Wenn alle voneinander Abstand halten, sind alle geschützt. Doch dann kommen die Unterschiede: Es gibt Menschengruppen, die schutzbedürftiger sind als andere. Es gibt Menschen, die nur mit Mühe oder gar nicht Abstand halten können – aus beruflichen Gründen wie in fast allen sozialen Berufen, oder aus der Lebenssituation heraus wie bei Kindern, Jugendlichen, Kranken, Dementen oder anderen Personengruppen. Menschen werden unterschiedlich schwer von Lockdown- und Quarantänemaßnahmen betroffen, die kleinen Leute und die sozial Schwachen mehr als die Starken und Abgesicherten. Es ist für Menschen aus nachvollziehbaren Gründen auch unterschiedlich schwer, den Sinn der Maßnahmen zu verstehen.

In Corona-Zeiten zeigt sich auch, dass Angst von Objekt zu Objekt springt. Der selbstständige Kleinunternehmer hat Angst vor der Ansteckung, aber weniger wegen der Krankheit, sondern wegen der Quarantäne, die ihn und seinen Betrieb existenzgefährden würde. Das Kind, das ein Räuspern im Hals verspürt, hat Angst, aber weniger wegen der Krankheit, sondern weil seinetwegen die ganze Schule geschlossen werden könnte. Die Leitung des Altenheims erlässt strengere Regeln als die politisch vorgeschriebenen, um zu verhindern, dass sie der Nachlässigkeit bezichtigt wird, falls es zu einem Corona-Ausbruch im eigenen Haus kommt. Auch viele Verantwortliche in der Kirche machten in den letzten Monaten einen verschüchterten Eindruck wegen ihrer Angst, ein Hotspot zu werden und dann in den Medien am Pranger zu stehen.

Wie lässt sich angesichts dieser gesellschaftlichen und kirchlichen Lage die Adventsbotschaft verkünden, als Vorfreude auf die Botschaft der Engel? „Fürchtet euch nicht“ rufen sie den Hirten auf dem Feld zu (Lk 2,10). Das bedeutet nicht: „Habt nicht das Gefühl der Angst“, sondern: „Richtet euch auf und erhebt euer Haupt!“ (Lk 21,28), also: „Lasst euch von der Angst nicht lähmen, sondern macht euch auf den Weg, damit euch die Freude nicht entgeht“. Jesus hat in der „großen Freude“ (Lk 2,10) der anbrechenden Heilszeit beide Aspekte der Angst überwunden. Er hat ansteckende Menschen umarmt und anschließend mit Tausenden Festmähler gefeiert. Auch in der Menschwerdung Gottes liegt nicht nur ein Potential der Selbstgefährdung – siehe Krippe und Kreuz –, sondern auch eines der Gefährdung anderer. Das zeigt der gefahrvolle und schmerzliche Weg Josefs und Mariens von Beginn an bis zum Ende.

Die Vorfreude auf das Kind in der Krippe ist eine Freude mitten in Gefahren. Was kann das in Corona-Zeiten konkret bedeuten? Zunächst: Kopf und Herz frei halten für die Unterscheidung der Geister. Aus der Angsttherapie ist bekannt: Ängsten muss man ins Auge blicken, gerade auch berechtigten Ängsten. Der Abwägung zwischen den Risiken muss sodann das Tun folgen. Die Angst spielt sich im Kopf ab, die Reflexion über die Ängste auch. Der Sieg über die Angst aber entscheidet sich in der Wirklichkeit, im Handeln mitten in den Ängsten. Das gilt allemal für Weihnachten, das Fest der Nähe schlechthin. Adventliche Vorfreude stellt sich nicht ein, wenn Nähe angstbesetzt ist und es aus Infektionsschutzgründen sogar sein soll. Vor Ort wird sich in den Gemeinden entscheiden, ob und wie das Ja der Kirche zur Nähe Gottes gesprochen wird. Daran hängt sehr viel für die Verkündigung der Weihnachtsbotschaft. Mit dem Primat des Abstandes über der Nähe wird die Verkündigung allerdings nicht gelingen.

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