"Die Tradition bin ich"Pius IX. und die "Erfindung des Katholizismus"

150 Jahre nach dem Ersten Vatikanischen Konzil legt der Kirchenhistoriker Hubert Wolf ein neues Werk dazu vor: „Der Unfehlbare: Piux IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ (München 2020). Klaus Schatz SJ ist emeritierter Kirchenhistoriker in Frankfurt am Main, Sankt Georgen. Er widerspricht Wolfs Thesen zum Ersten Vatikanischen Konzil in einigen Punkten. Eine kritische Rezension.

Passend zum 150-Jahr-Gedenken des 1. Vatikanums hat der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf eine leicht lesbare, faszinierende und vor allem provozierende Geschichte geschrieben, deren Grundthese lautet: Der „Katholizismus“ lag durch die Französische Revolution in Trümmern und musste erst neu „erfunden“ werden.1 Die „Tradition(en)“, auf die er sich berief (insbesondere die angeblich „tridentinische“) sind in Wirklichkeit in wesentlichen Punkten eine Neuschöpfung. Es wurde, vor allem durch Pius IX. und wesentlich geprägt durch dessen Persönlichkeit, eine Kirche und ein Katholizismus geschaffen, die mit dem Papst stehen und fallen und deren Traditionsbezug ganz in der Papstbindung aufgeht.

Entsprechend beginnt Hubert Wolf (11-13) mit der Szene vom 18. Juni 1870, wo ein erzürnter Pius IX. dem Kardinal Guidi, der sich in seiner Konzilsrede zur Unfehlbarkeit um einen Kompromiss mit der Minorität bemüht hatte, das Wort entgegenschleuderte „La tradizione sono io“ („Die Tradition bin ich“) – wobei Wolf nicht versäumt, in der Anmerkung darauf hinzuweisen, dass der Rezensent die letzten Zweifel an der historischen Authentizität dieser Äußerung zerstreut hat.2 Dann aber beginnt die Geschichte mit dem denkwürdigen Jahr 1792: gleichzeitig das Geburtsjahr von Giovanni Maria Mastai, des späteren Pius IX., und das Jahr des „Generalangriffs auf die Tradition“ durch die Französische Revolution bis zur Schaffung einer neuen Zeitrechnung.3

In der Folge gelingt es Wolf, immer wieder den Lebens- und Berufsweg Mastais mit der allgemeinen welt- und kirchenpolitischen Entwicklung zu verzahnen. Dazu gehört nicht zuletzt der Versuch des angeblich anfangs „liberalen“ Pio Nono, durch Güte und Menschlichkeit, aber ohne klares Konzept eine Alternative zur strengen Repressionspolitik seines Vorgängers Gregor XVI. zu schaffen – was schließlich in der Revolution von 1848 scheiterte, aber bei dem immer emotional empfänglichen, aber niemals nüchtern konzeptionell denkenden Papst ein Trauma schuf, das sich in übernatürlicher Erhöhung (vor allem im Vertrauen auf die übernatürliche Hilfe der Gottesmutter) in allen seinen späteren Entscheidungen auswirkte.

Wie sollte nach der Katastrophe der Französischen Revolution und ihren Folgeerscheinungen, also dem Zerbrechen der bisherigen Einheit von kirchlicher und weltlicher Ordnung, eine neue „katholische Identität“ entstehen? Hier gab es nicht eine einzige Lösung, sondern „Keime im Plural“ (98 f.). Konkret gab es im Wesentlichem in den drei Jahrzehnten von 1815 bis 1848 fünf Optionen, die zum Teil ineinander übergingen, aber doch unterschiedliche Schwerpunkte aufwiesen (99-109): 1. die „Restauration“ im Sinne der „Heiligen Allianz“ als Rückgriff auf die Zeit vor 1789; 2. die „Romantik“, mehr gefühlsbetont, letztlich aber Flucht in die „heile Welt“ eines verklärten Mittelalters, die es jedoch nie gegeben hatte, und die außerstande war, die Probleme der Gegenwart zu bewältigen; 3. die „Aufklärung“, die Katholizismus mit modernem Denken versöhnen wollte und ihre stärkste Identifikationsfigur im Konstanzer Generalvikar Wessenberg fand; 4. das „Staatskirchentum“, zunächst der dominierende Sieger des Umbruchs von 1789-1815; 5. der „Ultramontanismus“, in welchem die Papstbindung Angelpunkt der Neuorientierung war. Er nahm zum Teil die Elemente der ersten beiden Standpunkte auf, erwies sich aber als flexibler und vor allem nach 1848 als fähiger, die katholischen Massen zu gewinnen und zu mobilisieren.

„Erfindung einer neuen Tradition“

Aber – dies ist die zentrale These Wolfs – der „Ultramontanismus“, auf die „Tradition(en)“ angewiesen, konnte nicht umhin, diese Tradition(en) zu „erfinden“, da ihre historische Realität vielgestaltig und nicht geeignet für ihre Instrumentalisierung in der Gegenwart war. Dazu gehört schon die Fiktion des nach-tridentinischen einheitlichen Katholizismus. Nachdem das Konfessionalisierungs- und Sozialdisziplinierungsparadigma, wie es von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard für die Frühe Neuzeit vertreten wurde, durch Peter Hersche und Rudolf Reinhardt der Kritik unterzogen und zumindest modifiziert ist, spricht man hier eher von Katholizismen im Plural (88-91), bei denen sich zentripetale und zentrifugale Kräfte (insbesondere der französische Gallikanismus) die Waage halten (90-97). Eine „Erfindung“ ist insbesondere das „tridentinische Seminar“ (122-129), also das Ideal der möglichst geschlossenen, gegen Fremdeinflüsse abgeschotteten klerikalen Erziehung: eine Spitze gegen das Universitätsstudium lag dem tridentinischen Seminardekret noch fern. Erfunden wird auch der „tridentinische Bischof“ (131-140). Zwar ist dem tridentinischen und dem „ultramontanen“ Bischofsideal des 19. Jahrhunderts der Primat der Seelsorge gemeinsam, aber der wirkliche „tridentinische Bischof“ verstand sich als Nachfolger der Apostel eigenen Rechts, während der angeblich „tridentinische“ Bischof des 19. Jhd. „nichts anderes als ein päpstlicher Oberministrant“ gewesen sei (139) – eine groteske Simplifizierung, speziell für markante Figuren wie Ketteler und viele andere!

Nicht so leicht abzuweisen ist freilich die Behauptung Wolfs, dass die Gegner der Unfehlbarkeitsdefinition auf dem 1. Vatikanum „die wirklichen tridentinischen Väter“ waren, „die sich bewusst in die Tradition dieses Konzils hineinstellten“, indem sie sich auf dieses Konzil beriefen, das in der Primatsfrage und insbesondere dem Verhältnis zu den Bischöfen vor Definitionen zurückschreckte, die nicht durch den Konsens der Väter gedeckt werden konnten (146). Eine Erfindung stellt schließlich die „tridentinische Messe“ dar (141-145), verstanden als Einheitsliturgie. In Wirklichkeit ging es dem im Auftrag des Konzils geschaffenen Missale Pius V. von 1570 nur darum, den „Wildwuchs“ der vorigen Zeit zu beschneiden, während über zwei Jahrhunderte alte liturgische Eigentraditionen in Geltung bleiben sollten.

Auf „Erfindung einer neuen Tradition“ läuft schließlich die Definition der Unbefleckten Empfängnis Mariens von 1854 hinaus, weil hier das Glaubensbewusstsein der (gegenwärtigen) Kirche an die Stelle der Tradition trete (198). Hier allerdings wäre es angebracht gewesen, auf das auch Theologen wenig bekannte wahre Paradox dieses Dogmas hinzuweisen: dass es im Abstand von 515 Jahren erst von einem Konzil ohne Papst und dann von einem Papst ohne Konzil definiert wurde. Denn das „konziliaristische“ Basler Konzil hat 1439 erst im Dekret „Sacrosancta“ seine Überordnung über den Papst dogmatisch definiert (was zur definitiven Trennung dieses Konzils vom Papst führte), und dann – auch um die Marienfrömmigkeit als kirchenpolitische Waffe einsetzen zu können – die Immaculata Conceptio. Dies wurde 1854 (natürlich ohne Erwähnung des Präzedenzfalls Basel) gleichsam „päpstlich nachgeholt“.

Und schließlich gehört in die Kategorie der „Erfindung“ auch die des „ordentlichen Lehramtes“ (234-237), konkret durch den Jesuitenpater Joseph Kleutgen, dessen skandalöse Verwicklung in den Fall des römischen Nonnenklosters San Ambrogio hier Wolf noch einmal auf zehn Seiten rekapituliert (219-229). Dieses „ordentliche Lehramt“ (magisterium ordinarium) wurde dann durch das Breve „Tuas libenter“ von 1863 gegen den Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger und die Münchener Gelehrtenversammlung dieses Jahres kirchenamtlich sanktioniert. Dies, so Wolf, sei etwas Neues: Bisher habe nur das feierliche „außerordentliche Lehramt“ von Konzilien zur unbestrittenen Tradition der Kirche gehört (236). Damit sei der Bereich der verbindlichen Lehre faktisch ausgeweitet auf alle päpstlichen Lehräußerungen, in welcher Form auch immer, und darüber hinaus auch auf die Entscheidungen der römischen Kongregationen (235).

Erfindung des charismatischen Papsttums

Es folgt im Wesentlichen die Darstellung des 1. Vatikanischen Konzils (257-295), bei der sich der Autor mit einigen im Folgenden zu nennenden Einschränkungen auf die dreibändige Darstellung des Rezensenten stützt. Zwei Ergebnisse des letzten Kapitels („Che bello papa! Die Erfindung der charismatischen Papstherrschaft“) sind jedoch besonders erwähnenswert. Im Jahre 2000 hat Wolf zusammen mit dem Rezensenten auf der Konferenz der deutsch-sprachigen Kirchenhistoriker in Innsbruck eine Erklärung gegen die bevorstehende Seligsprechung Pius IX. vorgelegt, die einstimmig angenommen wurde.4 Dass die Bedenken, die auch 1974 von dem Advocatus diaboli Raffaelo Perez vorgebracht wurden (313-316) in dem Prozess nicht etwa, wenn auch nur mit Scheinargumenten, widerlegt, sondern von vornherein als irrelevant abgetan wurden, geht aus den Akten des Seligsprechungsprozesses hervor, die Wolf hier zum ersten Mal auswertet. Denn der Gegenrelator, der Schweizer Kirchenrechtler Carlo Snider, geht in seinem Votum (316-319) gar nicht auf die historischen Argumente ein; ihm genügt es, dass Pio Nono eine „historische Mission“ für die Kirche erfüllt habe. „Mit der Argumentation Sniders lässt sich jede Seligsprechung problemlos begründen, denn was historisch als Fehler oder gar als Verbrechen erscheint, gehört vielleicht zum göttlichen Heilsplan, den der Historiker nicht erkennen kann“ (219).

Außerdem rekurriert Snider auf das besondere „Charisma“, das Pius IX. besessen und das von den Gläubigen anerkannt worden sei. Tatsächlich habe Pius IX. „das charismatische Papsttum erfunden“, das dann Johannes Paul II. zur Vollendung geführt habe (329) – wobei man freilich, dies sei kritisch angemerkt, bei nur wenigen Päpsten im Jahrhundert zwischen 1878 und 1978, vielleicht bei Johannes XXIII., von „charismatischem Papsttum“ sprechen kann. Gerade aber dies führe zur persönlichen Überforderung und kippe, so beim gegenwärtigen Papst, leicht um. Denn hier kommt „fast alles auf die Person des Papstes an, der sich vor allem als Projektionsfläche der Wünsche der Gläubigen eignen muss. Man folgt als Katholik nicht mehr automatisch dem Papst wegen seines Amtes, sondern wenn seine Person überzeugt und sein Charisma gefangen nimmt. Franziskus schlug nach seiner Wahl so viel Sympathie entgegen, weil sein einfacher Lebensstil in der Nachfolge des armen Jesus und des Poverello aus Assisi viele überzeugte“. Sobald er aber die auf ihn projizierten Reformerwartungen nicht oder nur zögerlich erfüllte, „schwand seine Autorität auf drastische Weise. Vom Hoffnungsträger wurde er zum „Ankündigungspolitiker“ (329).

Unterbewertung der Kontinuitäten

Aber die zentrale Auseinandersetzung mit Wolf muss sich um den Begriff der „Erfindung von Traditionen“ und seine Anwendbarkeit auf die Neuformierung des Katholizismus im 19. Jhd. und nicht zuletzt seinen Umgang mit der „tridentinischen“ Tradition drehen. Dieser Begriff ist von Eric Hobsbawn und Terence Ranger für die „Nationen“ im 19. Jhd. und ihre Erfindung ihrer Nationalgeschichten geprägt worden (147 f.). Zu Recht weist Wolf darauf hin, dass hier ein Agnostizismus unangebracht und es Aufgabe der kritisch arbeitenden Kirchengeschichte ist, zwischen „authentischen“ und „erfundenen“ Traditionen zu unterscheiden, Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzuzeigen.

Aber überakzentuiert er nicht an entscheidenden Stellen die Diskontinuitäten und unterbewertet die durchaus vorhandenen starken Kontinuitäten? Denn in sehr vielen Fällen kann man nicht von einer „Neuerfindung“ sprechen, sondern dass eine bereits vorhandene, oft schon vorher dominante Traditionslinie aufgegriffen, in den Mittelpunkt gestellt und die anderen zumindest zurückgedrängt, manchmal auch – aber dann meist nicht endgültig – eliminiert werden. Dies gilt schon für die Berufung auf Trient. Sicher ist Trient vielgestaltig. Aber die „ultramontane“, papstzentrierte Tradition war sicher in Trient vorhanden und auch sehr wirksam, konnte sich nur gegen den Widerstand der französischen und zum Teil auch der spanischen Konzilsväter nicht durchsetzen. Dass sich auf dem Konzil weder die „Papalisten“ noch die „Gallikaner“ durchsetzten, war dann weder eine Vorentscheidung im einen noch im andern Sinne, sondern den (kirchen-)politischen Möglichkeiten geschuldet. Und wenn Trient nach dem Mainstream heutiger sozialgeschichtlicher Forschung „ein Katalysator für Moderne und Modernisierung erster Ordnung“ war (150), dann fragt sich doch: welcher „Moderne“? Doch wohl der der Frühen Neuzeit, nicht der ganz anderen „Moderne“ der Aufklärung. Sonst verfällt man einer ähnlich unhistorischen Vereinnahmung wie diejenigen, die im 19. Jhd. Trient zu einem „restaurativen Bollwerk gegen die böse Gegenwart“ (ebd.) zu machen suchten.

Dass jedenfalls die Päpste vor 1870 „noch nicht über den Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit“ verfügten (150), stimmt vor allem für den ersteren eindeutig nicht. Ein Beleg sind gerade die Ereignisse im Gefolge der Französischen Revolution und die Behebung des Schismas zwischen „konstitutioneller“ (d.h. mit der Revolution kollaborierender) und „eidverweigernder“ Kirche in Frankreich im Napoleonischen Konkordat 1801, indem (auf Betreiben Napoleons) Papst Pius VII. alle Bischöfe absetzte und einen ganz neuen Episkopat schuf. Sicher haben diese Ereignisse, wie Wolf zu Recht hervorhebt, eine epochale Bedeutung: Eine solche eklatante Manifestation der päpstlichen vollen Jurisdiktionsgewalt hat es weder vorher noch nachher gegeben. Napoleon soll bei dieser Gelegenheit gesagt haben: „Wenn es keinen Papst gegeben hätte, hätte man ihn erfinden müssen“ (36). Aber es gab ihn eben schon, und hätte es ihn nicht gegeben, Napoleon hätte ihn niemals erfinden können.

Entsprechend werden auch die „zentrifugalen“ Tendenzen der Frühen Neuzeit bei Wolf überbewertet. So stimmt es eindeutig nicht, dass im 3. Gallikanischen Artikel von 1682 „jeder Anspruch auf einen päpstlichen Jurisdiktionsprimat“ als „römische Anmaßung verworfen“ wird (93). Abgelehnt wird dort nur eine unbeschränkte päpstliche Jurisdiktionsgewalt, diese habe vielmehr ihre Grenze in den allgemein anerkannten kirchlichen Gesetzen und in den Gewohnheiten der Kirche Frankreichs.

Das ordentliche Lehramt –
eine kirchliche Revolution?

Wie verhält es sich aber mit der „Erfindung“ des „ordentlichen Lehramts“ durch Kleutgen und dann im Breve „Tuas libenter“ Pius IX.? Hier hat sich der Rezensent bereits vorher mit der These Wolfs kritisch auseinandergesetzt,5 und diese Ausführungen sollen hier wiederholt werden. Es stimmt, dass der Terminus „magisterium ordinarium“ (m.o.) von Kleutgen stammt und dann in „Tuas libenter“ erstmals in einem offiziellen kirchlichen Dokument verwendet wurde. Wenn jedoch Wolf darin eine kirchliche Revolution sieht, da bisher „nur das feierliche „außerordentliche“ Lehramt von Papst und Konzilien ... zur unumstrittenen Tradition der Kirche“ gehörte (236), oder er vorher schreibt, bis 1854 hätten „lediglich Ökumenische Konzilien“ das feierliche Lehramt der Kirche innegehabt (210), dann wäre zu fragen: Wie ist es denn im 17. und 18. Jhd. mit den zahlreichen päpstlichen Entscheidungen gegen Jansenismus, Quietismus, Laxismus etc., bei denen doch keineswegs nur „silentium obsequiosum“, sondern innere Glaubenszustimmung verlangt wurde?

Hinzu kommt, dass die Formulierung des m.o. in „Tuas libenter“ keineswegs der von Wolf vorgetragenen maximalistischen Ausdeutung Vorschub leistet. Denn dort heißt es, die katholischen Gelehrten seien im Gewissen nicht nur an ausdrückliche Definitionen gebunden, sondern auch an all das, „was durch das ordentliche Lehramt der ganzen über die Erde verstreuten Kirche als von Gott geoffenbart gelehrt und deshalb [!] in allgemeiner und beständiger Übereinstimmung von den katholischen Theologen als zum Glauben gehörend festgehalten wird“6. Streng genommen ist das eine katholische Selbstverständlichkeit (und wurde auch von Döllinger nicht bestritten), sofern der katholische Glaube, in Schrift und Tradition vorgegeben und vom kirchlichen Lehramt vorgelegt, nicht in dogmatischen Definitionen aufgeht, die vielmehr nur gelegenheitsbedingte Fixierungen und Abgrenzungen darstellen. Hier ist der Ausdruck „Dogma“ mehrdeutig, von Döllinger sicher im Sinne „verbindlicher Glaubenslehre“ verstanden – falsch wird es, wenn man darunter „dogmatische Definition“ versteht und dann meint, über diese hinaus sei der Theologe nicht gebunden, was übrigens „Tuas libenter“ selbst Döllinger ausdrücklich nicht unterstellt.7

Gewiss heißt es danach in „Tuas libenter“, die Theologen müssten sich auch den Entscheidungen unterwerfen, die in Lehrfragen von den römischen Kongregationen gefällt wurden, sowie auch den Doktrinen, die durch den allgemeinen und konstanten Konsens der Katholiken als „theologische Wahrheiten und Schlussfolgerungen“ sicher festgehalten werden, selbst wenn ihre Leugnung nicht eigentlich häretisch sei.8 Aber es stimmt nicht, was Wolf behauptet (235), dass diese Entscheidungen in „Tuas libenter“ zum eigentlichen m.o. gerechnet werden; und es wird auch nicht gesagt, mit welchem Grad der (inneren oder auch nur äußeren) Zustimmung diese anzunehmen sind, geschweige denn dass Unfehlbarkeit für sie beansprucht wird.

Der Rezensent möchte daher an folgender Deutung festhalten: Der sicher „neue“ Begriff des m.o. ist, gerade auch bei Kleutgen, nicht eine „maximalistische“ Ausweitung des päpstlichen Lehramtes, sondern ein Differenzierungsprozess einer vorher eher global verstandenen päpstlichen Unfehlbarkeit: Es wird nicht mehr alles als unfehlbar verstanden, sondern – unterhalb der eigentlichen Definitionen – eher die Gesamtlinie, wodurch man einzelne anstößige oder im Nachhinein problematische Entscheidungen aus der Schußlinie herausnehmen kann. In diesem Kontext sei verwiesen auf einen wenig bekannten Brief Kleutgens vom 12.12.1865 an seinen Mitbruder Schneemann in Maria Laach.9 Es ging um die Frage der Unfehlbarkeit des „Syllabus“, die von den Laacher Jesuiten mehrheitlich, aber nicht einheitlich, behauptet wurde. Kleutgen äußerte sich hier sehr zurückhaltend: die römischen Theologen und Kongregationen würden nicht so „frisch“ und unbekümmert wie die Laacher antworten; nicht überall dort, wo Gehorsam gefordert sei, gehe es um Glaubenszustimmung zu einer unfehlbaren Entscheidung Hier garantiert also das m.o. noch keinesfalls die Unfehlbarkeit einer Einzelentscheidung.

Zum Verlauf des Ersten Vatikanums

In der Darstellung des Verlaufs des 1. Vatikanums orientiert sich Hubert Wolf am Standardwerk des Rezensenten, das er gar als „nicht zu übertreffen“ einstuft (287, Anm. 6). Dennoch sind ihm einige Fehler unterlaufen, die bei einer aufmerksameren Lektüre hätten vermieden werden können: „Sie [die fünf Konzilspräsidenten] konnten Rednern jederzeit das Wort entziehen und eine Aussprache über ein bestimmtes Dekret einfach beendet erklären“ (267). Beides konnten sie nicht einfach eigenmächtig. Nach den Zusatzregeln zur Geschäftsordnung vom 22.2.1870 konnten sie Redner nur unterbrechen, wenn diese vom Thema abwichen. Natürlich konnte dies eine Ermessensfrage sein; aber die genauere Untersuchung der konkreten Anwendung hat gezeigt, dass die Praxis eher behutsam war und nur spurenweise in einzelnen Fällen eine Parteilichkeit gegenüber Rednern der Minorität nachgewiesen werden kann.10 Auch Redner, die die Lehre der päpstlichen Unfehlbarkeit scharf angriffen, wurden nicht unterbrochen, und die längsten Reden dauerten bis zu anderthalb Stunden. Und was den „Schluß der Debatte“ betraf, so hatte hier das Plenum des Konzils das letzte Wort: Auf Antrag von zehn Vätern (die sich sicher leicht fanden) konnten (freilich nicht: mussten) die Präsidenten die Frage zur Abstimmung vorlegen.

„Pius IX. machte seine Zuwendungen [um ärmeren Bischöfen aus Italien oder den Missionen den Aufenthalt zu ermöglichen] jedoch von ihrem Wohlverhalten abhängig“ (268). Der Einwand mangelnder Freiheit wegen finanzieller Abhängigkeit vom Papst oder der Propaganda ist zwar auf dem Konzil immer wieder geäußert worden; konkret lässt sich aber kein einziger Fall nachweisen, wo in diesem Sinne Druck ausgeübt worden wäre.11

Die Geschäftsordnung „Multiplices inter“ habe als notwendiges Quorum für eine dogmatische Konzilsentscheidung zumindest moralische Einstimmigkeit vorgesehen, was dann – nachdem klar geworden sei, dass ein Fünftel der Väter die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit bekämpfte – durch die Zusatzregeln von Februar 1870 aufgegeben worden sei (168 f.). In Wirklichkeit enthielt „Multiplices inter“ nichts über die notwendige Mehrheit bei der Schlussabstimmung, aber die Zusatzregeln auch nicht: Dort war nur festgelegt, dass bei den Abstimmungen über einzelne Modi und ganze Kapitel die einfache Mehrheit genüge. Weil jedoch nahelag, dass dann per analogiam auch für die Schlussabstimmung die einfache Mehrheit genüge, war die Minorität alarmiert und forderte – bekanntlich vergeblich – das Prinzip der moralischen Einstimmigkeit bei konziliaren Glaubensentscheidungen ein. Aber wenn man bewusst durch die Zusatzregeln der Opposition einen Riegel hätte vorschieben wollen, hätte man die Mehrheit bei der Schlussabstimmung ausdrücklich festgelegt – vielleicht auf zwei Drittel, denn das hätte mit Sicherheit genügt.

„La traditione sono io“

Wir kommen auf die im Eingang des Buches berichtete Szene des 18. Juni 1870 zurück. Hat letztlich das Prinzip „La tradizione sono io“ obsiegt? Dann wäre die Subjektivität des Papstes letzter Maßstab des Glaubens der Kirche und man hätte nach den Worten Döllingers „eine neue Kirche gemacht“. Wolf sieht jedenfalls im Text des 1.Vatikanums keine Schranke gegen dieses Prinzip. „Alle Versuche, den Papst wieder an die Kirche zurückzubinden ... mögen zwar pastoral verständlich sein ... Sie können aber angesichts der ausdrücklichen Zurückweisung einer notwendigen Zustimmung der Kirche nicht überzeugen“ (288). Hier scheint er jedoch einer exzessiven Auslegung des „ex sese, non autem ex consensu ecclesiae“ verhaftet. Denn diese Formulierung, gegen den 4. gallikanischen Artikel gerichtet, negiert nur die Notwendigkeit einer nachträglichen Ratifikation, sagt jedoch nichts darüber aus, welche Art von (vertikalem oder horizontalem) Konsens vorher gegeben sein muss, damit der Papst überhaupt definieren kann.

Vor allem jedoch erwähnt Wolf nie, dass es im Text der Konstitution vorher heißt: „Denn den Nachfolgern Petri ist der Heilige Geist nicht verheißen, damit sie unter seiner Offenbarung eine neue Lehre kundtun, sondern damit sie unter seinem Beistand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung, bzw. die Glaubenshinterlage genau bewahren und getreu auslegen“. Und davor heißt es, die Päpste hätten durch verschiedene Hilfsmittel, von denen Konzilien und Befragungen aller Bischöfe nicht die einzigen sind, jedoch an erster Stelle genannt werden, „das zu halten definiert, was sie mit Gottes Hilfe als mit den Heiligen Schriften und den apostolischen Traditionen übereinstimmend erkannten“12. Schrift und kirchliche Überlieferung sind also in jedem Fall vorgegebene Norm für den Papst. Der sicher nicht zu entschuldigende Wutausbruch eines Papstes ist keine lehramtliche Autorität; und der Text des 1. Vatikanums sanktioniert nicht nur nicht das „La tradizione sono io“, sondern weist es der Sache nach klar zurück.

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