Bey, Henning / Walter, Meinrad: Johann Sebastian Bach. Weihnachtsoratorium. Stuttgart: Carus / Deutsche Bibelgesellschaft. 183 S. Gb. 28,–. Inkl. CD der Gaechinger Cantorey (Leitung: Hans-Christoph Rademann).
Bachs Weihnachtsoratorium gehört unbestritten zum großen deutschen Bildungskanon und ist dem bürgerlichen Publikum von Kindheit an sprachlich und melodisch vertraut. Dennoch gibt es viel Unwissen über seine textliche und musikalische Gestalt – die weniger leicht verstehbar ist als auf den ersten Blick zu vermuten. Das Buch von Bey und Walter hilft diesem Mangel ab und ist für Liebhaber Bachs eine Fundgrube. Es erschien in der Reihe „Wort//Werk//Wirkung“, die in ähnlicher Form schon Bachs Matthäuspassion und Beethovens Missa Solemnis vorgestellt hat und weitere Bände zu geistlichen Chorwerken plant.
Meinrad Walter erschließt ausführlich das Libretto des Oratoriums, in seiner komplexen Entstehung – in der Zusammenarbeit mit Picander großenteils im Parodieverfahren gebildet – und in seiner biblisch-theologischen und poetischen Formung. Als sehr anregend erweist sich die spirituelle Tiefe der Texte und ihre dichterische Gestalt. Im dritten Teil des Oratoriums beispielsweise zeigt Walter auf, wie schon der Schatten des Kreuzes auf die Krippe fällt, unter anderem im Symbol des Blutes der Beschneidung Jesu; oder im vierten Teil, wie Lebenskunst („Ich will nur Dir zu Ehren leben…“) und Sterbekunst („Sollt ich nun das Sterben scheuen? Nein, dein süßes Wort ist da“) verbunden und verschränkt sind.
Henning Bey entfaltet die bewegte Rezeptionsgeschichte des Weihnachtsoratoriums seit der Wiederentdeckung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, indem er große Autoren zu Wort kommen lässt, u.a. Dirigenten und Rezensenten, Theologen und Musikwissenschaftler. So kritisiert Eduard Hanslick, dass das Weihnachtsoratorium kein rechtes Drama enthalte („viel Licht ohne Schatten“) und die Dichtung schwach sei. Für Nietzsche ist „die Musik oft unheilig mit Weltlichem gemischt“. Byung-Chul Han zeigt hingegen wertschätzend auf, wie, unter anderem durch die Verwendung des Begriffs „Wollust“, Weltliches und Geistliches bei Bach nicht zu trennen sind, sondern ineinanderfließen. Einige Texte weisen nochmals darauf hin, wie im Weihnachtsoratorium entgegen dem ersten Eindruck purer Freude und Herrlichkeit doch die Passion Jesu immer schon gegenwärtig ist, musikalisch wie textlich.
Ergänzt wird das Buch durch eine CD-Neuaufnahme der Gaechinger Cantorey: die Tempi flott, das Klangbild durchaus sinnlich-üppig, aber zugleich leicht und hell, beschwingt, bisweilen etwas trocken, aber auch heiter und oft tänzerisch, mit wunderbaren Gesangssolisten und einem sehr klangschönen, transparent und textdeutlich singenden Chor.
Stefan Kiechle SJ
Assmann, Jan: Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst. München: C.H. Beck 2020. 272 S. Gb. 28,–.
Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven in diesem Jahr finden sich allenthalben Neuerscheinungen zu dem Musiker, seinem Leben und seinem Werk. Unter diese Bände reiht sich nun auch eine Monografie von Jan Assmann ein. Der bekannte Kulturwissenschaftler analysiert hier die große Missa solemnis Beethovens, indem er nicht nur ihre musikalischen Eigenheiten hervorhebt, sondern sie auch in einen größeren kulturwissenschaftlichen, liturgischen, theologischen und historischen Kontext einbettet. Auf den ersten rund 130 Seiten bietet Jan Assmann so einen schnellen Durchzug durch die Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Die Form ist derart komprimiert, der Inhalt so auf den Punkt, dass man dem Autor zu dieser Leistung nur gratulieren kann.
Assmann behandelt zunächst liturgische Aspekte: Er erläutert die Geschehnisse im Abendmahlssaal, auch im Zusammenhang mit ihren jüdischen Wurzeln. Sodann führt er in das „Ordinarium Missae“ ein, für das er den Begriff eines „Libretto der Messe“ nutzt (87). Assmann stellt fest, dass Beethovens Missa solemnis gerade deswegen ein so großer Schritt in der Entwicklung von Kirchenmusik als Kunst war, weil er, wenn auch nicht bei den ersten Kompositionsschritten, so doch später, die Messe bewusst für eine konzertante Aufführung schrieb: „Die revolutionäre Bedeutung von Beethovens Schritt, eine Messe als Oratorium aus dem Gottesdienst auszugliedern (unabhängig davon, ob es nun in der Kirche oder im Konzertsaal aufgeführt wird), kann man heute nicht mehr verstehen, wo nichts natürlicher ist als Bachs h-Moll-Messe, Mozarts c-Moll-Messe oder Haydns Nelsonmesse im Konzertsaal aufzuführen“ (13).
Der zweite Teil des Bandes ist dezidiert der Missa solemnis gewidmet. Gekonnt interpretiert Assmann sie in einer Verbindung von Theologie und musikalischen Beobachtungen. Diese Methode dürfte der Komposition gerecht werden, die ja in erster Linie die Botschaft der Messtexte transportieren wollte. Beethoven sei es darauf angekommen, „seine Messe so intensiv und expressiv mit religiösen Emotionen gleichsam aufzuladen, dass sie sich in Kopf und Herzen der Zuhörer als ein sakraler Vollzug ereignen und den Konzertsaal in einen sakralen Ort verwandeln konnte“ (220). So zeigt Jan Assmann in „Kult und Kunst“ in hervorragender Weise, wie wissenschaftliche Erkenntnis für ein breites Publikum aufbereitet werden kann: Stück für Stück bietet der Autor Hinführungen zum Thema, ohne platt zu schreiben. Beinahe fesselnd ist dieses Werk, das daher nur empfohlen werden kann.
Benedikt Bögle
Gigl, Maximilian: Sakralbauten. Bedeutung und Funktion in säkularer Gesellschaft (Kirche in Zeiten der Veränderung 3). Freiburg: Herder 2020. 602 S. Kt. 54,–.
Jede Kirche ist ein Haus Gottes, behaupten viele Theologen. Warum soll ich mir dann noch eines anschauen? Ich kenne doch schon eines. Sechs Millionen Besucher im Kölner Dom jährlich, 13,4 Millionen in Notre Dame schauen sich diese Kirchen trotzdem an, obwohl sie schon ein Haus Gottes kennen. Auf welche Weise eine Kirche durch ihre Funktion, Geschichte, Bauweise und Ausstattung Haus Gottes sei, auf diese Frage sind Theologen, Historiker und Kunsthistoriker von ihrem Studium her gleich schlecht vorbereitet.
Maximilian Gigl nimmt in seinem Buch für die Antwort die Religionssoziologie zu Hilfe. Er vergleicht die Religionsbegriffe von Thomas Luckmann, Niklas Luhmann, José Casanova, Detlef Pollack, Charles Taylor und Hans Joas und entwickelt aus kirchenamtlichen Verlautbarungen und statistischen Untersuchungen Kriterien für die Bedeutung von Sakralbauten in der heutigen Gesellschaft. In vier Fallstudien zur Umgestaltung von Sakralbauten (Maria Geburt, Aschaffenburg-Schweinheim), zur Profanierung (St. Bonifatius, Düren) und zum Abbruch (St. Ludgerus, Ennigerloh und St. Raphael Berlin-Gatow) analysiert er Pressemeldungen, Leserbriefe, veröffentlichte Zuschriften, Pfarrbriefe und digitale Blogs. Im Kapitel „Häuser für den obdachlosen Gott“ entwickelt der Autor vier Bausteine für eine Theologie des Sakralbaus in der säkularen Gesellschaft: Symbol, Nähe und Distanz, Gratuität, offenes Grab. Er beschreibt damit Alterität und Transzendenz; der Begriff der Gratuität weist auf das Umsonst-Angenommen-Sein, auf die Liebe des sich selbst schenkenden Gottes, die im Sakralbau sichtbar wird. Das Buch behandelt auch evangelische Kirchen, Synagogen und Moscheen. Es weist die hohe Bedeutung von Sakralbauten für die gegenwärtige Gesellschaft nach und gibt damit auch Empfehlungen für das kirchliche Handeln.
Wenn der Autor im Kapitel „Theologie von Sakralbauten“ beschreibt (76) wie der Schmuck der Tempel ins Innere der Kirchen wanderte und dabei auch der Altar in die Kirche kam, so übersieht er die Rauchentwicklung beim Verbrennen eines Stiers, die in Innenräumen unerträglich wäre, und den Prozess der Archaisierung und Paganisierung, den Arnold Angenendt in seinem Buch „Offertorium, das mittelalterliche Meßopfer“ (Münster 2013) geschildert hat. Nur die Anpassung an jüdische und heidnische Opferauffassungen hat im 2. und 3. Jahrhundert aus dem Tisch des Herrn bei Paulus den Altar werden lassen und aus dem Gemeindevorsteher (presbyter) den Priester (hiereus, sacerdos). Angenendts Offertorium ist in den Augen des Rezensenten die größte Lücke in dem 43 Seiten umfassenden Literaturverzeichnis. Es wirft einen paganen Schatten auf den Sakralbegriff des Autors. Verzeihlicher ist das Fehlen von „Change and Decay, the future of our churches“ (London 1977), in dem der Direktor des Victoria & Albert Museums und andere Kirchenfreunde auf die Verluste an kultureller Substanz beim Abbruch von Kirchen in Großbritannien hinweisen: Eisengitter, keramische Bodenbeläge, Buntglasfenster, Gemälde, Skulpturen, Orgeln und anderes. Zum Aschaffenburger Kirchenumbau wäre noch das schöne Buch „laetitia vacui – nichts als freude. Maria Geburt Aschaffenburg“ (Lindenberg 2009) nachzutragen und schließlich die Denkmalpflege als säkulare Institution zur Bewahrung (auch) von Sakralbauten, oft gegen die Intentionen der Bistümer und der zusammengelegten Gemeinden. Die umfangreiche Literatur zur Umnutzung von Kirchen der letzten Jahrzehnte ist erfasst und ausgewertet. Dadurch wird diese Dissertation (LMU München) zum aktuellen Handbuch in der heutigen Lage der Kirche in Deutschland.
Peter B. Steiner