Rezensionen: Wissenschaft & Bildung

Schellhammer, Barbara / Goerdeler Berthold (Hgg.): Bildung zum Widerstand. Darmstadt: wbg 2020.
308 S. Gb. 38,–.

Die Hochschule für Philosophie in München veranstaltete im Sommersemester gemeinsam mit der Carl-Goerdeler-Stiftung eine Ringvorlesung zur Frage „Wie geht Bildung zum Widerstand?“ Allein schon die Fragestellung erfreut das Herz des Rezensenten, überzieht doch die OECD seit Jahren die Öffentlichkeit eher mit dem Imperativ, das Bildungssystem habe sich „an eine durch Wandel, Komplexität und wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnete Welt anzupassen.“ (zitiert in der Einleitung, 14).

Was liegt da näher, als auf die Einsichten von Männern und Frauen über sich selbst und über grundlegende menschliche Haltungen einzugehen, die diese im Widerstand gewannen (Teil 1, 31-95)? Es klingt so einfach, wenn Carl Friedrich Goerdeler etwa schreibt: „Das größte Problem ist die Wiederherstellung des Anstands.“ (92) Die „Wiederherstellung“ oder auch „Zielbestimmung“ als zentrale Erwartung an Bildung zu benennen macht allerdings ein Panorama von anspruchsvollen Themen auf, zu denen die Philosophie nicht schweigen darf. So findet sie dann auch in Teil 2 (Herausforderungen für heute, 97-303) zu authentischer Zeitgenossenschaft.

Sechzehn Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen und Erfahrungshintergründen äußern sich in dem vorliegenden Band. Zunächst geht der Blick auf Carl Friedrich Goerdeler, Robert Bosch, Claus Schenk von Stauffenberg, auf das Schweigen über den Widerstand – und ganz am Ende des Bandes noch einmal auf die Weiße Rose (290-299). Teil 2 widmet sich Fragen der Gegenwart: Wie kann Widerstand heute gelingen, (97-107) insbesondere auch Widerstand gegen den Populismus (114-134), und dies im aktuellen Hochschul- und Schulbetrieb (135-155, 156-164), gerade auch in der Förderung ästhetischer Kompetenz (187-206), die übrigens im Kompetenzfächer von PISA erst gar nicht vorkommt? Wie können Evangelikale gegen Donald Trump, das „Werkzeug Gottes“ antreten (167-186)? Was ist „radikales Mitgefühl“ (207-225), wie ist Wissenschaft heute politisch herausgefordert (226-247), und was sagen uns die Erkenntnisse über Faschismus zum heutigen Handeln in globalen Krisen (248-268, 269-289)?

Julia B. Sagebiel entfaltet (106-112) ein Dialog-Konzept, das sich dem Lagerdenken entzieht und dadurch Perspektiven der „Einbindung“ eröffnet: „Der Dialog ist eine besondere Form des Gesprächs, der über den Austausch von Argumenten hinausgeht. Er setzt die innere Bereitschaft des Zuhörens voraus, Urteile, Meinungen und Annahmen in der Schwebe zu halten. Dieses In-der-Schwebe-Halten bedeutet die zeitweilige Aufhebung von Standpunkten, gegen oder für etwas zu sein, um einen Raum zu schaffen, in dem Gedanken einander kreativ beeinflussen können“ (109). Es mag überraschen, aber gerade in Zeiten der Polarisierung ist dieses raumeröffnende Zuhören tatsächlich ein Akt des Widerstands – zu dem dieser Band ermutigt.

Klaus Mertes SJ

 

Reiss, Karina / Bhakdi, Sucharit: Corona Fehlalarm – Zahlen, Daten, Hintergründe, Berlin: Goldegg 2020. 159 S. Kt. 15,–.

Auf den Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen halten sie dieses Buch hoch. Es steht auf der Spiegel-Bestsellerliste und gilt als der Argumenten-Lieferant für die Maßnahmengegnerinnen und -gegner. Faktencheck-Portale wie „Correctiv“ setzen sich inzwischen intensiv mit den Äußerungen der Autoren auseinander. Wenn die Namen des Professoren-Ehepaars von Demo-Rednern auf der Bühne genannt werden, brandet Applaus auf. Bhakdi und Reiss selbst gehen nicht auf Demonstrationen: Bhakdi: „Ich habe volles Verständnis für die Teilnehmer, weil das Leute sind, die leiden. Ich selbst würde allerdings nicht dahin gehen, denn es ist nicht mein Job zu demonstrieren. Mein Job ist es aufzuklären. Ich versuche zu erklären, wie Immunität und Impfung funktionieren. Ich versuche zu erklären, warum das Maskentragen in den Schulen sofort aufhören soll“ (Cicero 9/2020, 50).

Bhakdi und Reiss vertreten die Auffassung, dass die Politik auf die Ausbreitung des neuen Virus überreagiert hat. Sie setzen sich mit der Frage nach der Gefährlichkeit des Virus auseinander (17-46), zeichnen die Situation in Deutschland nach (47-72) und kritisieren die Begründungen für die Lockdown-Maßnahmen (73-84). Nach einem Überblick über die Kollateralschäden der Maßnahmen (85-102) folgt der sympathisierende Blick auf Schweden (103-112) und auf Länder mit anderen Strategien – der Vergleich mit Italien, New York etc. erfolgte bereits zuvor (38-46). Das Buch schließt mit Überlegungen, welche Maßnahmen eigentlich richtig gewesen wären (113-124), mit einem scharfen Urteil über die Rolle der Medien (125-140) sowie mit Schlussüberlegungen, wie es weitergehen könnte. Die Autoren setzen dabei voraus, dass die Pandemie eigentlich schon seit Mitte April zu Ende ist, und dass die Anti-Corona-Maßnahmen dazu mehr oder weniger nichts beigetragen haben.

Eine Kenntnisnahme und sachliche Auseinandersetzung mit den Argumenten des Buches lohnt. Sie ist sogar dringend geboten, wenn man ein Interesse daran hat, den Extremisten auf allen Seiten nicht das Feld zu überlassen. Die große Schwäche des Buches ist allerdings der Ton, in dem es geschrieben ist. Man spürt die persönliche Kränkung, trotz der eigenen wissenschaftlichen Reputation (Bhakdi leitete 22 Jahre lang das Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Mainzer Universität, Reiss forscht und lehrt auf dem Gebiet von Biochemie, Infektionen, Zellbiologie und Medizin an der Universität Kiel; beide sind Träger vieler renommierter Preise) unter die Covidioten und Verschwörungstheoretiker gerechnet zu werden, ähnlich wie es dem ehemaligen SPD-Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg ergeht, der sich von Anfang an im Netz gegen den Lockdown wandte.

Diese Zuschreibungen sind auch tatsächlich nicht in Ordnung. Bhakdi und Reiss teilen dann aber leider auch ihrerseits aus, besonders gegen „die Herren“ Wieler und Drosten vom Robert-Koch-Institut. Warum muss man sich z.B. über Wieler erheben, weil er „nur“ Tierarzt ist? Und muss man so pauschal „den Politikern“ Versagen vorwerfen? Kann man nicht ein bisschen differenzieren? Eine Politik, die auf Bhakdis und Reiss Alternativvorschläge einginge, z.B. die Beschränkung auf den Schutz von Risikogruppen, müsste doch auch Kollateralschäden verantworten, zum Teil dieselben wie der Lockdown, und würde ebenfalls Empörungspotential in der Gesellschaft freisetzen und die politischen Instrumentalisierer auf den Plan rufen.

Es bleiben aber, wenn man das abzieht, auch ernste Fragen. Was bedeutet es, dass der Lockdown am 23.3.2020 erfolgte, obwohl da der Peak der Infektionen schon überschritten war? Wie verhält sich die Zahl der Tests zur Zahl der Infektionen? Wie hoch ist Sterblichkeit tatsächlich? Wie ist das Verhältnis von Infektionen und Erkrankungen? Aus welchen Gründen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai 2009 im Zusammenhang mit der Schweinegrippe die Definition von „Pandemie“ verändert? Und so weiter. Je politischer die Konsequenzen aus der Beantwortung solcher Fragen sind, umso mehr gehören sie tatsächlich in den öffentlichen Diskurs. Eine Frage, die das Buch noch offen stellt, ist allerdings inzwischen beantwortet: Die zweite Infektions-Welle ist da.

Klaus Mertes SJ

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