Die Ausgangslage zwischen evangelischer und katholischer Kirche in der DDR in Bezug auf Fragen des gesellschaftlichen Engagements von Christen und Kirchen könnte unterschiedlicher kaum sein. Das zeigt auch der Blick auf die Haltung der beiden Kirchen gegenüber den Friedens-, Gerechtigkeits-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, die sich Ende der 1970er-Jahre bildeten. Aus diesen Gruppen ging die DDR-Bürger- und Oppositionsbewegung hervor, die umfassende demokratische Reformen für das Land forderte. Die Friedliche Revolution des Herbstes 1989 war der politische Kulminationspunkt dieser Entwicklung. Der Ruf „Wir sind das Volk“ von 80.000 „DDR-Bürgern“ am 9. Oktober 1989 in Leipzig wurde zum Anfang des Endes der DDR und ihres „real-existierenden Sozialismus“. Er führte die Macht der SED ad absurdum.
Wie haben die beiden großen Kirchen auf diesen Prozess reagiert? Die einen sprechen von einer „protestantischen Revolution“ (Ehrhart Neubert). Sie sagen damit nicht mehr und nicht weniger, als dass den evangelischen Kirchen das historische Verdienst zukommt, in den 80er-Jahren die Zeichen der Zeit erkannt und die nötige Aufmerksamkeit und die richtigen Mittel gefunden zu haben, um die Akteure des Aufbruchs zu unterstützen. Sie boten ihnen ein schützendes Dach für ihre Aktivitäten und bewahrten sie so vor dem Zugriff der DDR-Sicherheitsorgane. Das war für beide Seiten kein Sonntagsspaziergang, aber es funktionierte. Andere sprachen von einer „Revolution der Kerzen und Gebete“ oder von „gewaltfreier Revolution“ – inhaltliche Zuschreibungen, die zum Ausdruck bringen wollen, dass die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR einen maßgeblichen Einfluss auf den gewaltfreien Verlauf dieser Revolution hatte. Gregor Giele, katholischer Propst von Leipzig, bekannte im Oktober 2019: „Für mich ist klar, dass die Friedliche Revolution ohne diesen kirchlichen Einsatz nie stattgefunden hätte. Ich gehe auch so weit, zumindest für die Evangelische Kirche zu sagen, dass sie der Hauptakteur der Friedlichen Revolution gewesen ist.“1
Andere halten die Distanz der katholischen Kirche gegenüber dem DDR-Regime für entscheidend. Die Berliner Bischofskonferenz (BBK) hat die DDR-Demokratiebewegung im Herbst 1989 nicht unterstützt, die Bischöfe haben katholische Christen nicht zur Teilnahme an Friedensgebeten ermutigt oder gar dazu eingeladen. Historiker sprechen von einem „Totalausfall“ der katholischen Kirchenleitung in den Wochen und Monaten des Herbstes 1989. Eine Ausnahme war der Hirtenbrief des Magdeburger Bischofs Johannes Braun (1970-1990), der am 23./24. September 1989 von allen Kanzeln im Bischöflichen Amt Magdeburg verlesen wurde.2 In diesem Brief zeichnete der Bischof ein ungeschminktes Bild der katastrophalen Lage in der DDR und forderte die Menschen auf, sich in die gesellschaftliche Diskussion einzumischen und ihm ihre Reform-Vorschläge mitzuteilen. Braun kam mit seinem Hirtenbrief „wie Zieten aus dem Busch“3 – eine Anspielung auf den preußischen Reitergeneral von Zieten im 18. Jahrhundert, der seine Kontrahenten durch überraschende Angriffe zu verblüffen pflegte. Der Alleingang Brauns wurde in der Bischofskonferenz kritisiert, sein Brief fand breite Zustimmung in den Gemeinden und in der Öffentlichkeit.
Viele der damals Beteiligten heben die Bedeutung des engen ökumenischen Zusammenwirkens von Evangelischen und Katholiken an der Basis hervor. Katholische Laien, Priester und Gemeinden hatten längst das kirchenpolitische „‘Korsett‘ der Bischofskonferenz“4 abgeworfen. Sie kooperierten auf eigene Rechnung mit der Demokratiebewegung, unterstützten sie vor Ort und öffneten ihre Kirchen, um gemeinsam mit den Evangelischen zu beten und anschließend auf der Straße zu demonstrieren. Propst Gregor Giele benennt den Kontext: „‘Schwerter zu Pflugscharen‘ - das ganze Friedensthema, der ‚Konziliare Prozess um Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung‘ und Gerechtigkeitsfragen, da musste der katholische Christ sich eigentlich andocken an die evangelischen Initiativen (…) Und da sind wir sehr froh, dass wir offene Arme gefunden haben und damals schon eine Ökumene begonnen haben, die bis heute im deutschlandweiten Vergleich herausragt.“5 Aus der Not geboren war die „Gruppe der 20“, die sich in Dresden im Anschluss an Gewalteinsätze von Sicherheitskräften gegen Demonstranten am Abend des 7. Oktober 1989 bildete. Der katholische Domvikar Frank Richter konnte im direkten Gespräch mit den Sicherheitskräften ein Ende dieses Gewalteinsatzes erreichen. Am folgenden Tag übergab die „Gruppe der 20“ einen Forderungskatalog an den Dresdner Oberbürgermeister Berghofer – ein Beispiel gelungener deeskalierender Konfliktbearbeitung.
Nach der Maueröffnung am 9. November 1989 war nicht mehr zu leugnen: Die DDR ist am Ende, der Anschluss an die BRD zeichnet sich ab. Viele Katholiken übernahmen nun politische Verantwortung als Moderatoren an den Runden Tischen der unmittelbaren Nach-Wende-Zeit und später in den Kommunen und demokratischen Institutionen der neuen Bundesländer. Die katholische Soziallehre, jahrzehntelang eingemottet, wurde zum Entree für das politische Engagement der Katholiken in der DDR. In den Reformgruppen kursierte der Slogan „Die Protestanten haben die Revolution gemacht, und die Katholiken haben die Macht übernommen.“
Wie ist zu verstehen, dass die BBK im Herbst 1989 eine so distanziertes Position zu den Gruppen der gesellschaftlichen Erneuerung einnahm? Was waren die Gründe für ihr abwartendes, ja ablehnendes Verhalten?
Die katholische Ausgangslage
Sieben Faktoren kennzeichnen die katholische Ausgangslage:
1. Pastorale Orientierung. Die katholische Kirche war „in Mitteldeutschland“ seit der Reformationszeit eine gesellschaftliche Minderheit, sie verstand sich als „Kirche in der Diaspora“. Nach Gründung der DDR 1949 galt das in einem doppelten Sinn: Konfessionell gegenüber den protestantischen Mehrheits-Kirchen, ideologisch-weltanschaulich gegenüber dem kommunistischen SED-Regime, das sich „das Absterben der Religion“ zum Ziel gesetzt hatte. Die katholischen Jurisdiktionsbezirke Schwerin, Magdeburg, Erfurt und Meiningen gehörten zwar weiter zu ihren Mutter-Bistümern Osnabrück, Paderborn, Fulda und Würzburg im Westen, waren aber praktisch von ihnen „abgenabelt“. Das führte zur Bildung einer eigenen regionalen „Berliner Ordinarienkonferenz“ in der DDR, aus der 1965 die „Berliner Bischofskonferenz“ wurde. Lediglich die Bistümer Meißen und Berlin und die Apostolische Administratur Görlitz lagen ganz auf DDR-Gebiet; das Bistum Berlin war geteilt in einen Ost- und einen West-Teil. In dieser Situation fokussierte die katholische Kirche ihre Tätigkeit pastoral voll und ganz auf die drei Lebensfunktionen von Kirche: Martyria (Glaubenszeugnis und –verkündigung), Leiturgia (Gottesdienst) und Diakonia (Caritas). Man argumentierte, die Diasporakirche müsse sich darauf konzentrieren, „die kleine Herde“ (Lk 12,32) beieinander zu halten. Die kirchliche Konsolidierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg und die vorrangige Aufgabe, eineinhalb Millionen katholische Flüchtlinge aus dem Osten zu integrieren und seelsorglich zu betreuen, beanspruchte Personal und Ressourcen völlig.
2. Angst vor ideologischer Irritation. Als der Magdeburger Weihbischof Wilhelm Weskamm 1951 als Bischof nach Berlin wechselte, gab er seinem Nachfolger Friedrich Maria Rintelen (1951-1969) den Rat: „Benutze nie das Wort Frieden. Es ist in unserer Situation immer missverständlich“. Rintelen erinnerte sich bei seiner Emeritierung 1970: „Ich habe mich immer an diesen Rat gehalten“. Die Episode zeigt wie in einem Brennglas die Gefahr, in der die katholische Kirche in der DDR sich zu befinden meinte und gegen die sie die Gläubigen schützen wollte: dass sich die Kirche, wenn sie vom Frieden redet, mit der sozialistischen Friedenrhetorik der DDR verwechselbar macht und ihre eigenen Mitglieder irritieren könnte. Um der Klarheit und Eindeutigkeit des christlichen Zeugnisses willen wollte die Kirche lieber ganz vom Frieden schweigen, als mit ihrer Rede vom Frieden Verwirrung zu stiften und von den Kommunisten für deren Ziele missbraucht zu werden. Für den Marxismus basiert Frieden auf Parteilichkeit und Klassenkampf, für die Kirche gründet Frieden auf Versöhnung. Diese ideologische Unvereinbarkeit durfte nicht verwischt werden. In der Konsequenz führte dieses Schweigen dazu, dass es zwischen 1950 und 1990 so gut wie keine pastoralen Aktivitäten der katholischen Kirche in der DDR zum Thema Frieden gab. Ausnahmen waren das Magdeburger Jugendforum „Einige Leute loben den Frieden“ vom September 1968 anlässlich der 1000-Jahrfeier des Erzbistums Magdeburg,6 und die Arbeitsgruppe „Mut zum Frieden“ der Delegiertenversammlung beim Dresdner Katholikentreffen im Juli 1987.7 Dort wurde der Wunsch nach mehr ökumenischer Gemeinsamkeit mit den evangelischen Kirchen in der Friedensfrage formuliert. Die Arbeitsgruppe „Justitia et Pax“ der BBK, gemäß Konzils-Beschluss 1968 eingerichtet, bestand ausschließlich aus Klerikern; Laien-Christen waren nicht berufen worden. Die Pastoralsynode der DDR-Bistümer tagte zwischen 1973 und 1975 in Dresden. Sie verabschiedete einen Beschluss „Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden“, dessen pastorale Empfehlungen blass blieben und heute in Vergessenheit geraten sind.
Politische Abstinenz
3. Der Primat „politischer Abstinenz“. Unter dem Berliner Bischof und späteren Kardinal Alfred Bengsch (1961-1979) ist das Prinzip der „politischen Abstinenz“ in der katholischen Kirche in der DDR administrativ durchgesetzt worden. Um die Ausübung der seelsorglichen Kernaufgaben nicht zu gefährden, wurde eine pragmatische Strategie der Konfliktvermeidung gegenüber dem SED-Staat entwickelt: einerseits Schutz der Gläubigen vor Drangsalierungen des SED-Staates, andererseits bewusster Verzicht auf Impulse, das sensible Thema „Weltverantwortung der Christen“ zu konkretisieren. Kardinal Bengsch hatte auf dem II. Vatikanischen Konzil im Dezember 1965 gegen die Pastoral-Konstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) gestimmt, weil er ihre Aussagen auf eine Kirche unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur für nicht anwendbar hielt. Stattdessen bestimmten kirchenpolitische Erwägungen die Entscheidungen über pastorale Prioritäten. Diese wurden hierarchisch-zentralistisch von Berlin aus durchgesetzt. Bengsch betrachtete den Primat der Kirchenpolitik als alternativlos für eine Kirche, die in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen System überleben will. Er benutzte dazu gern die biblische Erzählung von Daniel in der Löwengrube (Dan 6,1-29): Eine Kirche, die mit dem Löwen in der Grube sitzt, darf den Löwen weder kitzeln noch am Schwanz ziehen, wenn sie da heil wieder rauskommen will. Sie muss sich möglichst still verhalten, um den Löwen nicht zu reizen.
4. Keine „Ökumene in politicis!“ Aus dem Prinzip der politischen Abstinenz folgte eine strikte Vermeidung von Äußerungen oder Aktivitäten, die den Eindruck erwecken konnten, die katholische Kirche würde in sozialethischen oder friedenspolitischen Fragen gemeinsame Sache mit der evangelischen machen. Die BBK reagierte allergisch auf alle Versuche, ihre Haltung in Fragen des christlichen Weltdienstes mit der der evangelischen Kirchen zu vergleichen oder beide gegeneinander auszuspielen. Sie unterliege in ihren Entscheidungen anderen Beurteilungskriterien: „Wir sind nicht eine Landeskirche, sondern katholische Weltkirche in einem Land.“8 Als ich Anfang der 80er-Jahre in einer Gemeindeveranstaltung die fehlende Ermutigung der katholischen Kirche kritisierte, sich als Katholiken in der kirchlichen Friedensdekade in der DDR zu engagieren, antwortete ein Teilnehmer: „Ach wissen Sie, da müssen wir doch gar nicht mitmachen. Das erledigt unser Heiliger Vater in Rom für uns.“ Ab 1980/81 formierte sich in den evangelischen Kirchen in der DDR, ausgehend von der jährlich durchgeführten Friedensdekade, eine eigene kirchliche Friedensbewegung unter dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ (Mi 4,3). Immer häufiger schlossen sich daraufhin junge, von der eigenen Kirche allein gelassene katholische Christen evangelischen Friedensgruppen an. Das erhöhte den Druck auf die eigene Kirche und verschaffte den evangelischen Friedensgruppen ein erfreulich ökumenisches Profil.
In deutlichem Kontrast zur Auffassung der BBK „Keine Ökumene in politicis!“ stand die Ermahnung, die Papst Johannes Paul II. den Bischöfen aus der DDR im Oktober 1982 bei ihrem Ad-limina-Besuch in Rom mit auf den Weg gab: „Besonders aktuell ist die Antwort der Kirche auf die Fragen vor allem junger Menschen nach der Natur des Friedens, wie Christus ihn verkündet, gelebt und geschenkt hat, sowie nach den konkreten Wegen, wie wir uns in der heutigen Situation diesem Frieden nähern können. Hierüber sollte auch ein Gedankenaustausch mit den evangelischen Gemeinschaften versucht werden“9. Die DDR-Regierung war irritiert, bei den Berliner Politprälaten löste das Votum des Papstes Verärgerung aus, in den evangelischen Kirchen blieb es nahezu unbekannt. Das starre Festhalten der BBK am Prinzip „Keine Ökumene in politicis“ hatte sich für Rom bereits Anfang der 80er-Jahre überlebt.
5. Post-konziliare Aufbrüche. Mit Ungeduld fragten nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils katholische Christen, welche Konsequenzen aus den Beschlüssen des Konzils für die Kirche in der DDR zu ziehen sind. Zentral war die Erwartung einer situationsbezogenen Rezeption der Pastoral-Konstitution Gaudium es spes. Der Leipziger Oratorianer und Studentenpfarrer Wolfgang Trilling schickte im Dezember 1967 ein Gutachten der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Studentenseelsorger in der DDR zu „Fragen des Weltdienstes in der heutigen Welt und Situation“ an Kardinal Bengsch: „Nicht mehr Abkapselung, sondern Offenheit“ sei das Gebot der Stunde. Der „Korrespondenzkreis“, aus der Katholischen Studentengemeinde in Halle (Saale) hervorgegangen, verschickte zwischen 1966 und 1969 auf eigene Faust „Offene Briefe“ zu Fragen des Dialogs der katholischen Kirche mit dem Marxismus. Der DDR-weite Arbeitskreis „Pacem in terris“ (1963-1972), der im Auftrag der BBK Impulse für eine situationsbezogene Rezeption der katholischen Soziallehre unter DDR-Bedingungen erarbeiten sollte, musste seine Tätigkeit auf Geheiß von Kardinal Bengsch einstellen, als sie „zu politisch“ wurde.
Der Aktionskreis Halle (AKH), eine überregionale Gruppierung von Priestern und Laien, die 1969/70 im Raum Halle-Leipzig-Magdeburg entstanden war und als freie Vereinigung in der katholischen Kirche für die Konzils-Rezeption eintrat, veröffentlichte Pfingsten 1982 eine „Stellungnahme zum Friedenszeugnis der Kirche in der DDR“10. Darin forderte der AKH, die Friedenfrage müsse endlich „zum Thema eines verbindlichen öffentlichen Gesprächs auf allen Ebenen der katholischen Kirche in der DDR“ werden. Mit seiner bloßen Existenz und mit seinen Aktivitäten unterlief der AKH die Strategie der „politischen Abstinenz“ der BBK und störte den kirchenpolitischen Status quo zwischen Kirche und DDR-Staat. Vom zuständigen Magdeburger Bischof Johannes Braun wurde der AKH nicht als „kirchliche Gruppe“ anerkannt; das signalisierte Braun auch seinen staatlichen Gesprächspartnern. Damit bewegten sich die AKH-Mitglieder außerhalb der Legalität der DDR. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) resumierte, vom AKH gehe eine aktive ideologische Diversion gegen die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR aus. Obwohl durch eine unheilige Allianz zwischen Kirche und Staat in seiner Existenz bedroht, überlebte der AKH die DDR. Der Kirchenhistoriker Sebastian Holzbrecher stellte fest: „Was 1989 in dem Aufsehen erregenden Hirtenbrief von Bischof Johannes Braun zum ‚gesellschaftlichen Engagement‘ der Katholiken in der DDR ausgesagt und gefordert wurde, praktizierte der Hallenser Aktionskreis aus eigener Initiative bereits seit 1969/70.“11
6. Pastorale Neuausrichtung. Nach dem Tod von Kardinal Bengsch im Dezember 1979 kam es zu einem pastoralen Paradigmenwechsel. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke (1981-2012) hielt 1981 einen programmatischen Vortrag zum Thema „Der Weg der Kirche in unserem Raum – Versuch einer pastoralen Standortbestimmung“. Wanke ging es in diesem Vortrag nicht um Kirchenpolitk, sondern um die theologische Wirklichkeit der katholischen Kirche in der DDR. „Der kirchenpolitische ‚Status quo‘, so nützlich er auch sein mag und in der Vergangenheit war, indem er dazu beitrug, Konflikte zu minimieren, kann die Kirche letztendlich nicht von ihrer eigentlichen Aufgabe dispensieren, Kirche für die Menschen zu sein.“12 Denn „Kirche ist nicht Selbstzweck. Auch die Kirche hier bei uns ist nicht um ihrer selbst willen da. Sie ist da um einer Aufgabe willen; wenn sie diese nicht erfüllt, dann ist sie wie eine Trompete, die keinen Ton mehr aus sich entlässt. Man kann sie putzen und im Futteral verwahren, aber sie weckt keinen mehr auf.“13 Dem setzte Wanke das Zukunftsbild einer „Kirche als Raum brüderlicher Solidarität“ entgegen, das die verengte Perspektive auf das Konfliktfeld Kirche/Staat durch eine Neu-Ausrichtung auf das Verhältnis Christ/Gesellschaft überwindet. Es gehe darum, „das Evangelium Jesu Christi auf ‚mitteldeutsch‘ zu buchstabieren.“14 Die Kirche müsse unterschiedslos auf die Menschen in der DDR zugehen – unabhängig von ihrer Kirchenzugehörigkeit.
Zum katholischen „Welttag des Friedens“ am 1. Januar 1983 veröffentlichte die BBK ihren ersten und einzigen gemeinsamen Hirtenbrief zum Thema Frieden.15 Er beendete das jahrzehntelange Schweigen der Bischofskonferenz zur Friedensfrage. Die Bischöfe stellten sich „den bedrängenden Fragen der Erhaltung und Sicherung des Friedens in der heutigen Zeit“, sie sahen darin ein exemplarisches Bewährungsfeld für den Weltdienst der katholischen Christen in der DDR. Der Hirtenbrief fand Anschluss an die ökumenische Friedensdiskussion der 1980er-Jahre. Theologische Einsichten, sicherheitspolitische Konzepte und friedensethische Konsequenzen kamen erstmals miteinander ins Gespräch. Eine Präferenz für den waffenlosen Friedensdienst von Wehrpflichtigen der DDR wurde erkennbar.
Die „Ökumenische Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR“ (ÖV) 1988-1989 vereinte 126 Delegierte aus 19 Kirchen und kirchliche Gemeinschaften aus der DDR und trat auf Einladung des Stadtökumene-Kreises Dresden im Februar 1988 erstmals zusammen. Sie war eine Antwort auf die Einladung der Weltversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983, sich als Kirchen zu einem „konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ zu verbünden. Für die katholische Kirche in der DDR bedeutete der konziliare Prozess den Durchbruch zur aktiven Beteiligung an der ökumenischen Debatte über die Zukunftsfragen der Menschheit. Die BBK nominierte buchstäblich in letzter Minute 26 katholische Delegierte und 2 Berater für die Teilnahme an der ÖV; ursprünglich wollte sie zwei „Beobachter“ schicken. 12 Themengruppen erstellten in achtzehnmonatiger Arbeit 12 Ergebnistexte, die anschließend den beteiligten Kirchen übergeben wurden, darunter der Text „Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung“. Beobachter interpretierten die ÖV als „ein Vor-Parlament der Friedlichen Revolution“; die Stasi wertete ihre Beschlüsse als den umfassendsten politischen Forderungskatalog, der jemals in der DDR formuliert wurde. Viele Delegierte trafen sich mit ökumenischem Aufwind im Herbst 1989 bei Friedensgebeten, Kundgebungen und Demonstrationen der Friedlichen Revolution wieder. Der Theologe Lothar Ullrich (Erfurt), katholischer Berater, charakterisierte die ÖV als „eine Handlungseinheit noch getrennter Kirchen“16. Selten waren Christen und Kirchen gemeinsam so nah an den gesellschaftlichen Problemen und bei den Menschen in der DDR wie in diesen 18 Monaten.
„Unser Versagen auf katholischer Seite“
7. Georg Sterzinsky, seit September 1989 Bischof von Berlin, nutzte sein Grußwort als Vorsitzender der BBK an die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Februar 1990 zu einem Bekenntnis. „Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um in Ehrlichkeit evangelischen Christen und Gemeinden zu danken für ihren Einsatz und den Mut bei den Ereignissen des vergangenen Herbstes (…) Wir werden noch viel überlegen müssen, worin eigentlich unser Versagen auf katholischer Seite bestanden hat. Die Erkenntnis ist noch nicht gereift. Das Bekenntnis ist noch nicht ausgesprochen. Wir haben nicht zu hoffen gewagt, dass Demonstrationen, Willensbekundungen, Willensäußerungen zu einem Erfolg führen könnten. Wir haben deshalb bedauerlicherweise uns sehr zurückgehalten und viel zu wenig an den Vorbereitungen des Neuaufbruchs beteiligt…“17
Kardinal Sterzinsky starb im Juni 2011. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung 1990 spielte sein kritischer Rückblick keine Rolle mehr. Er geriet – auch infolge neu aufkommender konfessioneller Selbstbehauptung der beiden großen Kirchen – schnell unter die Räder neuer Herausforderungen und Aufgaben, die die katholische Kirche in den neuen Bundesländern nun zu bewältigen hatte.