„Schreiben als Form des Gebetes“, heißt es in einer von Kafkas späten Aufzeichnungen. Das erinnert an den religiösen Grund von Schrift, von Literatur und Kunst. Nur ist diese theophane Schicht der Literatur heute vielfach in Vergessenheit geraten, verschütt gegangen unter den Geschichten einer bau- und erfindungslustigen Postmoderne. Nicht so bei Jon Fosse. Der 1959 in einer protestantischen Familie geborene, nach Jahren in Österreich nun in Oslo lebende Autor ist ein Wunderkind der norwegischen Literatur, hat 2015 den Preis des Nordischen Rates bekommen und wird immer wieder als Nobelpreiskandidat gehandelt. Fosse, der auch Sprachberater bei der neuen norwegischen Bibelübersetzung war, beherzigt in seinen Dramen wie Romanen die theologischen Ursprünge des Erzählens, ganz ohne Gelehrsamkeit und konfessionelle Dogmatik. Im Grunde schreibt er – zumal nach seiner persönlichen Konversion zum Katholizismus – in Form des Gebets: weltfromm und nicht unbedingt gläubig, innig und bedächtig, befreit vom Beschleunigungsdruck der digital-globalen Moderne.
Dem kommt die norwegische Fjordlandschaft, aus der Fosse stammt und in deren langen, kalten Wintern seine Geschichten spielen, sehr entgegen. Es ist ein Erzählraum der Innenschau, der Pflege von Haus und Hof, der langsamen Wege, ein Raum ohne Handys, Internet und soziale Medien, aber wohl darum auch ein Ort von Vereinsamung und drohender Flucht in den Alkohol. Die mehr als 30 Dramen des als „norwegischer Beckett“ gehandelten Fosse, die seit den 1990er-Jahren in 50 Sprachen übersetzt sind und weltweit gespielt werden, kommen mit wenigen Figuren aus. Sie spielen auf Friedhöfen, in alten Zimmern oder auf Parkbänken, wie in Becketts Warten auf Godot. Monologisch sind Fosses Dramen freilich nicht. Interessant sind, so sagt er selbst, „die Bilder dessen, was zwischen Menschen vorgeht, auf einer Ebene, die mit sozialer Dynamik zu tun hat, sie aber nicht verortet.“ Fosses Figuren kommen sich näher und gehen auseinander, sie tun sich weh und machen einander Freude, „sie erschaffen sich gegenseitig“.
Diese Selbsterschaffung seiner Figuren ist ein Schlüssel zu Fosses Werk, besonders zu Der andere Name. Unter diesem Titel sind 2019 die ersten beiden Bände einer Heptalogie erschienen, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt in ein bedachtsames, dem Adagio von Fosses Prosa angemessenes Deutsch. Der andere Name entwirft mit dem Maler Asle eine Figur, den die Leser schon aus früheren Romanen kennen, etwa aus der Trilogie (2016), deren erster Band, Schlaflos (2008), eine abgekühlte Version der biblischen Weihnachtsgeschichte ist. Asle wohnt nach dem Tod seiner Frau allein in einem kleinen Ort an der Südwestküste Norwegens, seine wichtigsten Bezugspersonen sind der Fischer und Kleinbauer Asleik, der Galerist Beyer und der in der Stadt lebende, alkoholkranke Asle, ein Namensvetter und Berufskollege, den der andere Asle ins Krankenhaus bringt.
Sonst passiert nicht viel in dieser Geschichte. Umso mehr kommen die Gespräche der Figuren und ihre inneren Bewegungen in den Blick. Fosse bevorzugt den persönlichen Erzähler, der aus seiner eigenen Perspektive erzählt, empathisch und ausführlich, aber nie abschweifend oder nebensächlich. Der olympische Fabulierer postmoderner Welten ist Fosse ebenso fremd wie der autobiografische Allwisser, der – wie sein erfolgreicher Kollege und ehemaliger Schüler auf der Universität Bergen, Karl Ove Knausgård, in dem Romanzyklus Mein Kampf (2009-2011) – lange Selfie-Geschichten erzählt. Noch radikaler bei Fosse ist sein Bruch mit der postmodernen Syntax. Seine Romane sind ein einziger langer Bewusstseinsstrom, in Absätzen gegliedert nur, wenn Gespräche wiedergegeben werden. Auffällig ist auch, dass durchgehend Punkte fehlen. Kein Satz kommt zu einem grammatischen Ende. Es ist so, als ob die Sätze von Jon Fosse nicht zu Bett wollen, sie bleiben wachsam und offen.
Dieses unendliche Erzählen drückt eine Haltung aus, die der des Gebets auf mehrfache Weise ähnelt. Es ist rhythmisch und zyklisch, hat viele Wiederholungen, die den Leser zum Wiedererkennen einladen und zum Aufmerken. Asle hält die kleinen Horen ein, betet das Vaterunser und das Ave Maria, auf Lateinisch. Aber er macht das im privaten, nicht im kirchlichen Raum, demütig vor der Schöpfung, die von ihrem zwar noch gegenwärtigen, aber abwesenden Schöpfer getrennt ist. Die Geschichte des Schöpfergottes, der den Menschen so lange als böse ansah, bis er selbst Mensch wurde, gekreuzigt wurde und durch die Auferstehung von den Toten zum „lieben Gott“ wurde, ist auch die Geschichte des Menschen, der die Verbindung zu Gott – im Paradies – gekappt und sich dem Bösen überlassen hat, aber zum Guten fähig und geboren ist. Der andere Name ist ein Name für Gott selbst. Er initiiert ein Erzählen, das immer wieder, notwendigerweise, auf das zurückkommt, wonach der Erzähler – und seine ihm ähnelnde Figur – jenseits der Literatur sucht; „in der Stille ist Gott zu hören und im Unsichtbaren ist er zu sehen“, heißt es einmal im Roman. Solche zirkulären und oftmals paradoxen Gedankenfiguren geben den ersten beiden Romanen der Heptalogie einen meditativen Anstrich, ja eine mystische Tiefe, die von Meister Eckhart herkommt, zu dem sich Fosse in Interviews und seinen Gnostischen Essays (1999) bekannt hat. Er schätzt aber auch Heidegger und Wittgenstein und ist davon überzeugt, dass der Glaube, wenn überhaupt, nur als Gnade zu haben ist.
Der Erzähler Jan Fosse ist also ein Erschaffer, kein Erfinder. Er baut weder vorhandene Welten um, noch zaubert er fremde Welten hervor. Er formt neue Bilder und erschafft eigenartige Lebensräume, kennt aber auch die „Provokation des Nicht-Seins“. Zu dieser Grammatik der Schöpfung (George Steiner) gehört unabweisbar das, was die Asle-Figur in Fosses Romanen macht. Asle malt Bilder, das heißt: Er erschafft Form, die Tiefe und Inhalt bekommt durch ihre Verwandtschaft mit Mystik und Theologie. Am Anfang des ersten Romans sehen wir Asle, der wiederum sein eigenes Bild betrachtet: ein „längliches“ Bild, mit einem braunen und einem lila Strich, die sich in der Mitte kreuzen. Die Anordnung der Striche kommt uns im Alltag so oft entgegen, auf Flaggen und Bahnübergangsschildern etwa, dass ihr religiöser Ursprung gar nicht mehr bewusst ist. Der Roman erinnert daran: Das Bild stammt aus der christlichen Ikonografie, die gekreuzten Striche bilden den griechischen Buchstaben für den Christus und das Andreaskreuz. So liefert der Roman seinen roten Faden gleich mit: Asles Bilder haben „auf ihre eigene Weise mit dem Reich Gottes zu tun“. Überkreuzt werden religiöse Chiffren und säkulare Zeichen, Gott und die Welt – und schließlich auch die Figuren selbst – in ihrer doppelten Spiegelung. Asle erscheint einmal wie die gute und wie die schlecht geratene Version des Künstlers und dann wieder als ein und dieselbe Person.
Es ist deshalb hilfreich, beim Lesen des Romans das zu tun, was der Maler mit seinem Bild macht: gegenüber dem Kunstwerk eine betrachtende Haltung einzunehmen, in dem zu versinken, was man sieht oder was man liest, bis dass die Bilder „stumm reden“ und „wahr reden“ können. Zwei überkreuzte Striche sorgen dafür, dass das Bild zum Betrachter sprechen kann. Es kann dann etwas entstehen, das „etwas“ durch den Maler sieht, das nicht aus ihm selbst kommt, sondern von etwas anderem, Höherem vielleicht, das man mit Gott oder mit einem „anderen Namen“ bezeichnen kann.
Der andere Name ist ein Roman der Anfänge, ein Schöpfungsroman mit mystischen Zügen, der zugleich spannend und entschleunigt zu lesen ist. Ein literarisches Gebet ist der Roman natürlich nicht. Paul Celan hat, Kafkas Zitat aufgreifend, daran erinnert, dass man, wenn man schreibt, nicht beten kann. Denn das Schreiben verhindert gefaltete Hände.