Unter dem Eindruck der Aufdeckung und des Ausmaßes von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche ist im Dezember 2019 von den deutschen Bischöfen ein neuer Reformdialog der katholischen Kirche in Deutschland eröffnet worden. Dieser neue katholische Reformprozess, auch Synodaler Weg genannt, soll dazu beitragen, dem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche entgegenzuwirken. Zu den Themen, die in diesem synodalen Prozess angesprochen und diskutiert werden sollen, gehört neben der Frage klerikaler Macht zentral auch die lehramtliche katholische Sexualmoral. Sie hat offensichtlich auch bei kirchlich orientierten und engagierten Katholiken ihre orientierende Kraft verloren1 und die Autorität des Lehramts in moralischen – und zwar nicht nur sexualethischen – Fragen selbst untergraben.
Dabei scheint in der Auseinandersetzung der theologischen Ethik mit der lehramtlichen Sexualmoral in den letzten 50 Jahren deutlich geworden zu sein, dass es in diesem „Dauerkonflikt“2 nicht genügt, einzelne Normen etwas moderater zu formulieren oder den Tonfall zu ändern. Es scheint überfällig, die lehramtliche Sexualmoral im Ganzen – gerade auch die Begründungsansätze, die ihren Normaussagen zugrunde liegen – auf den Prüfstand zu stellen. Es scheint notwendig, nach einer realitätsbezogenen, lebbaren und damit auch verantwortbaren christlichen Sexualethik zu fragen, die in unserer Gesellschaft durchaus eine wertvolle Bedeutung haben könnte. Im Folgenden sollen zunächst die sexualethischen Argumentationsmodelle – das naturrechtliche und das personalistische – vorgestellt und ihre Problematik aufgezeigt werden. Im Anschluss werden Neuansätze der Moraltheologie nach dem Zweiten Vatikanum genannt und der Ansatz einer verantwortungsethischen Sexualmoral skizziert.
Im Einklang mit den Zielen der Natur:
Das naturrechtliche Argumentationsmodell
Von den Anfängen des Christentums an und mindestens bis zum Zweiten Vatikanum, aber auch noch darüber hinaus, stellt das naturrechtliche Argumentationsmodell in der katholischen Kirche den maßgeblichen Ansatz dar, wie ethische und damit auch sexualethische Normaussagen begründet werden. Nach diesem Modell besteht das grundlegende Kriterium dafür, welches sexuelle Handeln als erlaubt und welches als unerlaubt gilt, darin, ob das jeweilige Handeln der Natur des Menschen, ihrer ursprünglichen Ordnung und inneren Zielausrichtung entspricht oder nicht. Auf dieser Argumentationsbasis gilt nur dasjenige sexuelle Handeln als ethisch zulässig, das (a) innerhalb einer rechtmäßig geschlossenen und gültigen Ehe vollzogen wird, denn nur in der Ehe und durch die in ihr gegebenen Güter (Nachkommenschaft, Treue, Sakrament) werde – so bereits Augustinus3 – die durch die Ursünde bedingte Verselbstständigung des Begehrens und die damit gegebene Desintegration der menschlichen Natur wieder zurecht gebracht, und das (b) in jedem einzelnen Geschlechtsakt auf die Zeugung von Kindern hin offen ist, denn die Sexualität des Menschen sei natürlicherweise auf dieses Ziel hingeordnet. Umgekehrt gilt alles sexuelle Handeln vor und außerhalb der Ehe sowie jeder einzelne sexuelle Akt, der nicht auf Zeugung von Nachkommenschaft hin offen ist, also etwa praktizierte Homosexualität, Selbstbefriedigung, künstliche Empfängnisverhütung, als unnatürlich oder widernatürlich (contra naturam) und damit als „in sich schlecht“, als ausnahmslos unerlaubt und schwer sündhaft.4
Spätestens seit der Enzyklika Humanae vitae, in der Paul VI. ebenfalls unter Rekurs auf natürliche Gesetzmäßigkeiten die Verwendung aller künstlichen Kontrazeptiva verworfen hatte, wurde jedoch innerhalb der Moraltheologie die naturrechtliche Begründung infrage gestellt. Kritisiert wurde die Möglichkeit einer Begründung ethischer Normen unter Rückgriff auf die menschliche Natur und ihre Teleologie. Zwei wesentliche Einwände wurden geltend gemacht. Zum einen wurde (a) darauf hingewiesen, dass sich solche naturgegebenen Zielausrichtungen (Teleologien) der Natur des Menschen nicht wissenschaftlich eindeutig erkennen und nachweisen lassen. Sexualität ist in der Sicht der Humanwissenschaften zumindest polyvalent. Zum anderen wurde (b) deutlich gemacht, dass es selbst unter der Voraussetzung, dass sich solche Naturteleologien eindeutig und einvernehmlich erheben ließen, unzulässig wäre, daraus unmittelbar moralische Normen abzuleiten. Eine solche Ableitung durch den Schluss „unerlaubt, weil naturwidrig“ bedeute, einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen.5 Zudem lassen sich gegen den weitergehenden – etwa in Humanae vitae unternommenen – Versuch, naturhafte Gegebenheiten unter Rückbezug auf den Willen und Plan Gottes als ethisch normierend geltend zu machen,6 zwei weitere Einwände erheben. Zum einen nämlich lässt sich (a) dafür keine Begründung aus der Offenbarung der Heiligen Schrift angeben. Zum anderen ist (b) aus schöpfungstheologischen Gründen zu sagen, dass sich zwar alle weltliche Wirklichkeit restlos auf Gottes Wirken und Willen zurückführen lässt, dass sich aber gerade deshalb einzelne Fakten oder Ereignisse in der Natur nicht noch einmal in besonderer und damit ethisch verpflichtender Weise als Wille Gottes deklarieren lassen.7
Im Rahmen personaler Liebe:
Das personalistische Argumentationsmodell
Nun ist freilich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine deutliche Veränderung in der Begründung sexualethischer Normen durch das Lehramt festzustellen. In den Mittelpunkt rückte ein personalistisches Begründungsmodell. Danach besteht das Kriterium für ethisch erlaubtes und unerlaubtes sexuelles Handeln darin, ob es in eine Beziehung personaler Liebe integriert ist oder nicht. Volle Sexualität werde nur dann human und damit moralisch einwandfrei vollzogen, wenn sie in die vorbehaltlose Liebe integriert ist, in der sich Mann und Frau gegenseitig – im Sinne der Ganzhingabe – umfassend als Personen achten und annehmen und sich selbst dem jeweils anderen ganz schenken.
Grundlage für diese Argumentation ist das Verständnis von Sexualität als Ausdrucksmedium personaler Liebe.8 Voraussetzung dafür ist seinerseits ein Verständnis des Menschen als „Geist in Leib“, demzufolge sich die Seele im Leib ausdrückt und der Leib vom Geist durchlebt wird. Auf der Basis dieser anthropologischen Konzeption wird davon ausgegangen, dass die Liebe wesentlich die leibliche Dimension miteinschließt und sich darin ausdrückt, umgekehrt aber auch Sexualität nicht nur etwas Biologisches ist, sondern den Kern der Person betrifft. Deshalb werde sie nur dann auf humane – und damit ethisch zulässige – Weise vollzogen, wenn sie in die Beziehung wahrer personaler Liebe integriert ist.9 Außerhalb einer solchen personalen Beziehung der Ganzhingabe dagegen gehe der Sinn von Sexualität verloren, es werde von Personen wie von Dingen Gebrauch gemacht, es komme zu einer „Zivilisation der Dinge“.10
Ausgehend von diesem Verständnis der wechselseitigen Bezogenheit von Sexualität und personaler Liebe werden dann verschiedene normative Aussagen neu begründet. Eine erste Konsequenz (a) besteht darin, dass leibliche Ganzhingabe (Geschlechtsverkehr) nur dann human vollzogen und moralisch einwandfrei ist, wenn sie Ausdruck personaler Ganzhingabe ist, wie sie allein in der (vor allem auch zeitlich) vorbehaltlosen, d.h. ehelichen und treuen Liebe besteht. Ist dagegen die personale Ganzhingabe nicht gegeben, sondern besteht z.B. noch ein zeitlicher Vorbehalt, ist durch die geschlechtliche Vereinigung etwas zum Ausdruck gebracht, was auf personaler Ebene nicht besteht. Die sexuelle Vereinigung werde damit zu einer Lüge.11 Da eine solche vorbehaltlose Ganzhingabe aber nur innerhalb der Institution der Ehe verwirklicht sei, sei jeder außerhalb der Ehe vollzogene Geschlechtsverkehr ethisch unerlaubt.12 Eine zweite Konsequenz (b) ergibt sich für die Frage der künstlichen Empfängnisverhütung. Denn jede künstliche Trennung der beiden Sinngehalte des ehelichen Aktes, nämlich der liebenden Vereinigung und der prokreativen Dimension, führe dazu, dass die geschlechtliche Vereinigung, die ihrer ganzen Natur nach ein vorbehaltloses Sich-Schenken der Gatten zum Ausdruck bringe, nun durch den Vorbehalt der künstlichen Kontrazeption objektiv zu einem Sich-nicht-ganz-Schenken und damit zu einer widersprüchlichen Gebärde werde.13 So wird an den bisherigen sexualethischen Normaussagen festgehalten, sie werden nur teilweise14 anders, mit einem neuen Ansatz begründet.
An diesem personalistischen Argumentationsmodell ist sicher positiv hervorzuheben, dass für die ethische Bewertung sexuellen Handelns nicht mehr nur auf die Übereinstimmung sexueller Akte mit den angenommenen Zielausrichtungen der menschlichen Natur abgehoben wird, sondern dass die personale Dimension der gegenseitigen Liebe der Partner in den Mittelpunkt rückt. Sexualität wird als Ausdrucksmedium der Liebe und als eine positive und für die Liebe unverzichtbare Grundlage bejaht. Es wird unterstrichen, dass sexuelles Handeln an der Würde der Person des Anderen Maß zu nehmen hat und ihn nicht verdinglichen und zum Objekt der Befriedigung eigener Bedürfnisse machen darf. Allerdings lassen sich auch eine Reihe von Einwänden vorbringen.
So lässt sich angesichts des Kriteriums, dass leibliche Ganzhingabe allein und ausschließlich angemessener Ausdruck für eine vorbehaltlose personale Ganzhingabe im Rahmen der ehelichen Liebe sein könne und andernfalls eine Lüge darstelle, fragen, wie sich die Forderung dieser strikten und eindeutigen Korrelation begründen lässt. Ist die Ausdrucksbeziehung zwischen den verschiedenen Formen sexuellen Handelns einerseits und der personalen Beziehung andererseits tatsächlich so eindeutig festgelegt? Humanwissenschaftlich lässt sich dies kaum begründen. Unbestritten ist, dass volle sexuelle Gemeinschaft immer auch die Person berührt und deswegen nicht leichtfertig vollzogen werden sollte. Warum aber sollte es grundsätzlich ausgeschlossen sein, dass Geschlechtsverkehr angemessener Ausdruck auch für eine noch nicht völlig vorbehaltlose Liebesbeziehung ist, sondern ein Element des Weges darstellt, auf dem ein Paar zusammenwächst und in der Liebe zunimmt? Lässt sich die personale Ganzhingabe tatsächlich am Bestehen einer institutionellen Ehe messen? Beruht die Annahme der strikten Korrelation lediglich auf Evidenz oder Intuition aufgrund der Parallelität der Formulierung (volle Sexualität verlangt volle Liebe bzw. leibliche Ganzhingabe verlangt personale Ganzhingabe) oder lassen sich dafür auch humanwissenschaftliche Gründe namhaft machen?
Ebenso lässt sich fragen, warum durch die Verwendung künstlicher Kontrazeptiva objektiv ein Vorbehalt gesetzt ist, der eine vorbehaltlose personale Beziehung unmöglich macht. Kann es nicht sein, dass ein Ausschluss der Fruchtbarkeit aus dem einzelnen Liebesakt von anderen sittlichen Zielen her gerechtfertigt und verantwortlich und deshalb nur indirekt in Kauf genommen sein kann, etwa wenn ein Paar noch nicht in der Lage ist, Kinder angemessen zu versorgen und zu erziehen?15 Wird dadurch wirklich die volle personale Hingabe an den anderen zerstört? Wird mit diesem Argument nicht die Qualität der personalen Beziehung an die biologische Schicht der Person und damit wieder an die Natur gebunden?16
Weiter lässt sich fragen, wann überhaupt personale Ganzhingabe tatsächlich gegeben ist. Welches Paar kann sich sicher sein, ob seine Beziehung, die die Partner selbst als Liebe empfinden und bezeichnen würden, tatsächlich eine vorbehaltlose Ganzhingabe an den anderen ist? Ist dafür die formell geschlossene Ehe das entscheidende Kriterium? Doch kann es nicht auch außerhalb der Ehe personale Beziehungen geben, für die die leibliche Ganzhingabe angemessener und wahrhaftiger Ausdruck ist? Ist die formell geschlossene Ehe eine Garantie für die Vorbehaltlosigkeit der Beziehung? Liegt nicht auch in vielen Fällen des ehelichen Verkehrs eine Lüge vor, weil die Vorbehaltlosigkeit personaler Ganzhingabe ein so hohes Ideal darstellt, dass es in der Realität des ehelichen Alltags ebenso selten verwirklicht sein dürfte wie in nicht-ehelichen, aber durchaus verbindlichen Formen des Zusammenlebens, in denen die Partner Verantwortung füreinander übernehmen?
Schließlich ist auch zu fragen, ob wirklich jeder Verkehr, dem nicht eine vollkommen vorbehaltlose personale Ganzhingabe entspricht, schon als Gebrauchen des anderen als Objekt zu verstehen ist. Wird eine solche als ausschließlich suggerierte Alternative wirklich der Vielfalt menschlicher Beziehungen gerecht? Gibt es nicht dazwischen auch Abstufungen und durchaus Verantwortbares und Gutes?17
Humanwissenschaftliche Fundierung:
Neuansätze in der Moraltheologie
Ausgehend von solchen Bedenken sind in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der theologischen Ethik und der Religionspädagogik Entwürfe einer Sexualethik vorgelegt worden, die konkrete sexualethische Aussagen nicht mehr einfach aus Teleologien der Natur oder aus einer sehr voraussetzungsvollen Deutung der Einheit von Person und Leib oder von Person und Handlung ableiten, sondern bei ihrer Formulierung und Begründung die Einsichten der Humanwissenschaften einbeziehen.
So wurde zunächst die Einsicht in den vierfachen Sinn von Sexualität, den die Würzburger Synode herausgearbeitet hatte,18 aufgegriffen. Während in der Tradition nur die beiden Aspekte der Gemeinschaft und Zeugung als Sinndimensionen von Sexualität im Blick waren, wurde nun auch der Lustaspekt und der die Identität fördernde Aspekt von Sexualität hervorgehoben. Die vier Aspekte wurden dann in einer dynamischen Sicht19 so gedeutet, dass nicht in allen Lebensphasen immer und in jedem einzelnen Akt alle vier Sinnaspekte verwirklicht sein müssen, damit das jeweilige Handeln ethisch legitim ist.20 In der Konsequenz wurde angedeutet, den Vollzug der sexuellen Vereinigung und die prokreative Dimension der Sexualität zu entflechten, wobei jede Dimension für sich angemessen zu verantworten sei.21
Eine konsequente Einbeziehung der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse in die Begründung normativer Aussagen zur Sexualität findet sich im Entwurf von Bernhard Fraling.22 Auf der Basis des von Alfons Auer23 konzipierten methodischen Dreischritts zur Begründung von Normen – nämlich der humanwissenschaftlichen Grundlegung, der anthropologischen Integration und der Formulierung konkreter ethischer Weisungen und Normen – kam Fraling im Vergleich zu den lehramtlichen Äußerungen zu deutlich differenzierteren und situationsbezogeneren Bewertungen etwa von vorehelicher Sexualität, Empfängnisverhütung, Masturbation und Homosexualität.24 Umgekehrt machte Eugen Drewermann aus psychoanalytischer Sicht deutlich, wie bestimmte sexuelle Praktiken – etwa Homosexualität, Selbstbefriedigung, vorehelicher Verkehr, vor allem aber auch Fixierungen wie Voyeurismus und Exhibitionismus, Sadismus und Masochismus sowie Fetischismus – die Möglichkeit, Sexualität und Partnerschaft erfüllend zu erleben, infrage stellen können, wenn auch nicht müssen.25 Schließlich wurden auch die Auswirkungen von gesellschaftlich und kulturell geprägten Körperbildern und Rollenverständnissen auf das Glücken und Misslingen sexueller Partnerschaft untersucht, was nicht nur zur Kritik an restriktiven Tendenzen aus der Vergangenheit christlicher und bürgerlicher Moral, sondern auch zur Kritik an derzeit kulturell bestimmenden und unterdrückenden Vorstellungen und Bildern vom Körper und der Rolle von Mann und Frau veranlasste.26
Neueste Beiträge der Moraltheologie27 greifen diese Ansätze auf und führen sie im Sinne einer Sexual- und Beziehungsethik weiter, in der als Kriterien wesentlich die Beziehungsqualität und die gegenseitige Verantwortung leitend sind. Dieser Art der Ethik geht es nicht mehr „um die Bestimmung der Grenzen […], innerhalb derer sexuelle Befriedigung erlaubt und jenseits derer sie verboten ist. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit hat vielmehr die Verantwortung für die Beziehung zu stehen, in die Sexualität eingebettet ist“28. Ausgangspunkt sind die grundlegenden Werte einer glückenden Sexualität und Beziehung, im Blick auf die dann situationsbezogen zu entscheiden und zu handeln ist. Hervorgehoben wird schließlich auch der fundamentale Wert sexueller Selbstbestimmung,29 die ihre Grenze an der Würde und an der Selbstbestimmung des jeweils anderen hat. Selbstbestimmung, die aber zugleich die Selbstbestimmung anderer achtet und einbezieht, wird zum zentralen Kriterium auch einer zeitgemäßen und lebbaren Sexualethik.
Insgesamt geht es also in der neueren theologischen Ethik nach dem Zweiten Vatikanum nicht mehr um rigorose und ausnahmslose Verbote; ebenso wenig geht es um ein theologisch und anthropologisch überhöhtes und von der Alltagsrealität abgehobenes Ideal, an dem man nur scheitern kann. Es geht vielmehr darum, ausgehend von einer realistischen, humanwissenschaftlich fundierten Erfassung der Wirklichkeit menschlicher Sexualität, nach einem verantwortungsvollen Umgang mit dieser Wirklichkeit in Partnerschaft und Liebe zu fragen, bei dem auch im Blick auf die zentralen Werte situations- und personenbezogen sowie Güter und Übel abwägend zu urteilen und zu entscheiden ist. Im Unterschied zum naturrechtlichen und zum personalistischen Begründungsmodell ließe sich von einem verantwortungsethischen Ansatz sprechen.
Im Folgenden soll auf dieser sich innerhalb der theologischen Ethik abzeichnenden Linie versucht werden, die systematische Grundstruktur einer verantwortungsethischen Sexual- und Beziehungsethik von ihrem Ansatz her zu skizzieren.
Perspektiven – 13 Thesen zu einer
verantwortungsethischen Konzeption
der Sexualmoral
1. Für das Konzept einer verantwortungsethischen Sexual- und Beziehungsethik scheint es in einem ersten Schritt grundlegend zu sein, entgegen aller Lustfeindlichkeit und Dämonisierung sexueller Lusterfahrung den positiven, beglückenden und lebensförderlichen Wert von Sexualität herauszustellen und zu bejahen. Hier ist an zahlreichen Aussagen des Lehramts anzuknüpfen. Sexualität ist primär keine Bedrohung für den Menschen, sondern ermöglicht ihm die Erfahrung von Lust, Genuss und Freude, sie ermöglicht die Erfahrung von erotischem Begehren und Begehrt-Werden und ist – wie es bereits Thomas von Aquin formuliert30 – die Grundlage für die Liebe zwischen Menschen, in der man mit dem anderen zusammensein und das Leben teilen möchte. Sie ist schließlich auch die Grundlage für die Erfahrung der Weitergabe des Lebens, der Elternschaft und der Familie. Ohne Sexualität wäre eine solche Form der liebenden Beziehung zwischen Menschen, die – wenn sie gelingt – ein großes Glück darstellt, nicht möglich. All diese dadurch ermöglichten beglückenden Erfahrungen gehören mit zum positiven und lebensförderlichen Wert der Sexualität.
2. Ausgehend von diesem Wert menschlicher Sexualität ist dann in einem zweiten Schritt zu fragen: Wie kann Sexualität so gelebt und gestaltet werden, dass ihr beglückender und lebensförderlicher Wert nicht nur kurzfristig und für einen selbst, sondern auch langfristig gesehen und im Ganzen verwirklicht und gefördert wird? Mit dieser Frage sind die entscheidenden Kriterien für einen verantwortlichen Umgang mit Werten generell, also mit all dem, was für uns erstrebenswert und beglückend ist, angegeben. Zugrunde liegt diesem Kriterium die Einsicht, dass alles Handeln immer von einem bestimmten Wert begründet ist, bei seiner Verwirklichung aber immer auch zugleich Schäden und negative Konsequenzen verursacht oder zugelassen werden. Die Frage der Verantwortung besteht deshalb nicht darin, wie man nur Gutes verwirklichen kann; manchmal ist es notwendig, Übel zu verursachen, um ein grundlegenderes Gut zu verwirklichen. Die Frage der Verantwortung ist vielmehr, um welchen Preis das jeweils erstrebte Gut verwirklicht werden darf und welcher Preis zu hoch ist. Verantwortliches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass die verursachten Schäden und Übel möglichst geringgehalten werden. Sie dürfen nicht unverhältnismäßig sein und vor allem nicht kontraproduktiv werden und den angestrebten Wert gerade zerstören oder mindern, und dies langfristig gesehen und in universaler Perspektive.31 Gerade diese Entgrenzung der eigenen kurzfristigen und selbstbezogenen Sicht- und Handlungsweise und demgegenüber das Bemühen um Nachhaltigkeit und der Blick auf das Ganze machen ethisches und verantwortliches Handeln – auch im Umgang mit dem Wert der Sexualität und Liebe – aus.
3. Die Frage, wie man in diesem Sinne Sexualität verantwortlich leben kann, lässt sich freilich mit wissenschaftlichem und allgemein verbindlichem Anspruch nicht im Rückgriff auf vermeintliche positive Sinnvorgaben natürlicher Zielausrichtungen noch im Rückgriff auf ein intuitiv erfasstes und höchst voraussetzungsvolles Leib-Seele-Verhältnis beantworten. Zur Beantwortung dieser Frage ist man vielmehr konstitutiv auf die Erfahrung mit der Wirklichkeit selbst angewiesen. Es ist danach zu fragen, welche Lebensformen sich im Blick auf den angegebenen Wert in der Wirklichkeit unserer Welt, Kultur, Gesellschaft und Geschichte tatsächlich bewähren und welche sich nicht bewähren. Dabei ist man konstitutiv auf die Humanwissenschaften, auf die Erkenntnisse der Biologie, der Psychologie, der Soziologie und der Kulturwissenschaften zur Sexualität des Menschen angewiesen. Aus deren Ergebnissen und Einsichten lässt sich zwar nicht unmittelbar ableiten, was langfristig und im Ganzen zur Erfahrung des beglückenden Wertes menschlicher Sexualität führt – dies erfordert eine eigene, ethische Reflexion –, aber die Einsichten der Humanwissenschaften bilden die unhintergehbare Grundlage für die Beantwortung dieser Frage.
4. Dieser Ansatz bedeutet sicher, dass nicht bis in alle Einzelheiten hinein ein für alle Mal kulturübergreifend und geschichtsunabhängig feststeht, welches Sexualverhalten ethisch richtig und gut und welches ethisch falsch und verwerflich ist. Je nach kultureller und geschichtlicher Situation, aber auch nach der Lebenssituation des Einzelnen kann das, was einen verantwortlichen Umgang mit Sexualität ausmacht, variieren oder sich auch – etwa aufgrund neuer humanwissenschaftlicher Einsichten oder aufgrund gewandelter sozialer Gegebenheiten – verändern. Allerdings wird damit die Sexualethik auf eine breite, erfahrungsbezogene Basis gestellt und gerät nicht in die Gefahr, sich an einem Ideal zu orientieren, das jeden Wirklichkeitsbezug verloren hat und an dem man nur scheitern kann. Sexualnormen werden vielmehr nachvollziehbar und einsichtig begründet.
5. Andererseits führt ein solcher Ansatz keineswegs in einen heillosen Relativismus, in dem jeder egoistisch nur seine Lust zu verwirklichen versucht. Der Aspekt, dass der beglückende Wert der Sexualität in einer verantwortungsethischen Sexualmoral eben gerade nicht nur kurzfristig und egoistisch, sondern langfristig und im Ganzen in verhältnismäßiger und nicht-kontraproduktiver Weise zu verwirklichen ist, macht es möglich, auch Verhaltensweisen zu identifizieren, die unverantwortlich sind und nicht wieder durch andere positive Zwecke gerechtfertigt und geheiligt werden können. So lässt sich etwa Vergewaltigung oder sexuelle Gewalt gegen Minderjährige oder Abhängige als eine Art von Handlung identifizieren, die um der eigenen sexuellen Befriedigung willen Sexualität als beglückende Erfahrung für andere oft auch langfristig zerstört und unmöglich macht. Eine solche Handlung ist dann durch nichts zu rechtfertigen und ließe sich als „in sich schlecht“ und als Verletzung der Würde des Menschen bezeichnen.32
6. Ob bestimmte Arten des Handelns tatsächlich geeignet sind, eine erfüllende Sexualität langfristig und im Ganzen zu ermöglichen oder ob es der Verwirklichung dieses Ziel widerspricht, hängt eben nicht allein davon ab, was man sich wünscht, von subjektiver Willkür und vermeintlich guter Absicht, sondern davon, ob das, was man tut, angesichts der natürlichen Eigendynamiken und Eigengesetzlichkeit der menschlichen Konstitution ebenso wie die Eigendynamik gesellschaftlicher, geschichtlicher und kultureller Vorgegebenheiten auch tatsächlich das gewünschte und gewollte Ergebnis ermöglicht oder eher untergräbt. Diese Bedingungen und Vorgegebenheiten stellen damit eine Grenze des Verantwortbaren im sexuellen Tun dar. Das, was moralisch verantwortbar ist, wird nicht dem subjektiven Belieben überlassen, sondern hat seine Grenze an der Sache selbst und damit an der Natur der Sache. Mit der Berücksichtigung der Unbeliebigkeit natürlicher Vorgegebenheiten wird damit dem ursprünglichen und zentralen Anliegen der Lehre vom natürlichen Sittengesetz entsprochen.
7. In diesem Sinne lässt sich auf die ethische Problematik bestimmter sexueller Praktiken verweisen. So lassen Praktiken wie Cyber-Sex und virtuelle Sexualität, langfristig gerade denjenigen Wunsch unerfüllt, dessen leichte und bequeme Erfüllung sie versprechen. Die sexuelle Erfahrung bleibt hier, weil der Kontakt eben nicht leiblich vermittelt werden kann, defizitär und lässt unerfüllt.33 Ebenso lässt sich einsichtig machen, dass der Konsum von Pornografie nicht nur zu neuen Zwängen und Normierungen und Verklemmungen, sondern auch zu Fixierungen führen kann, die die Beziehungsfähigkeit stören und damit eine langfristig erfüllende Sexualität gerade verunmöglichen können. Das bedeutet freilich nicht, dass solche Formen der Sexualität aus gewichtigen Gründen, etwa aus therapeutischen Erwägungen, bei seelischen Störungen hilfreich sein können. Problematische Folgen lassen sich aber auch generell für die völlige Enttabuisierung und Banalisierung der Sexualität zeigen. Es kommt zu Überforderung oder Lustlosigkeit. Im Blick auf Prostitution ließe sich weiterhin individualethisch auf die menschliche Unerfülltheit dieser Art der Sexualität und sozialethisch auf teilweise herrschende Gewaltstrukturen verweisen.
8. Einsichtig machen lässt sich auch, dass ein Verhalten, in dem es nur darum geht, den anderen als Objekt und Gelegenheit zur Befriedigung der eigenen sexuellen Bedürfnisse zu gebrauchen, erfüllte Sexualität im Ganzen gerade nicht ermöglicht und möglicherweise auch bereits für sich selbst eher mindert oder untergräbt. Hier spielt die grundlegende anthropologische Einsicht, dass sexuelle Beziehungen nicht an der Oberfläche bleiben, sondern – aufgrund der leib-seelischen Ganzheit des Menschen – auch die Person und die Psyche und Identität eines Menschen zutiefst betreffen und verletzen können, eine zentrale Rolle. Daraus ergibt sich die Aufforderung, nicht leichtfertig, sondern bewusst und sorgsam mit der eigenen Sexualität und der Sexualität anderer umzugehen, also so umzugehen, dass Verletzungen des anderen und auch der eigenen Person vermieden werden. Andererseits lässt sich nicht jede sexuelle Beziehung vor der Ehe oder ohne formelle Eheschließung damit gleichsetzen, dass der andere zum Objekt der Befriedigung der eigenen Begierden gemacht wird. Angesichts der Erfahrung, dass sexuelles Handeln auch die Beziehung der Liebe vertiefen und festigen kann, wird in jedem Fall das angemessene und verhältnismäßige Tun abzuwägen sein. Ein generelles Verbot jedes vorehelichen Geschlechtsverkehrs jedenfalls hätte aus verantwortungsethischer Sicht zu zeigen, welcher Schaden dabei immer entsteht und warum er nie gerechtfertigt sein kann.
9. Allerdings scheint gerade eine feste und verlässliche Beziehung der Liebe, in der die Partner füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen, der ermöglichende und förderliche Rahmen für eine langfristig und – aufgrund der gesellschaftlich stabilisierenden Auswirkung – auch im Ganzen erfüllend gelebte Sexualität zu sein. Dabei kann der institutionelle Rahmen der Ehe dazu beitragen, eine solche feste und verlässliche Beziehung, die die Partner sich ja selbst wünschen, gegen die eigene Anfälligkeit und Unzuverlässigkeit zu sichern. Auch bietet sie einen verlässlichen Rahmen, der die Entscheidung zum Kind erleichtert und Geborgenheit für das Aufwachsen von Kindern bietet.34 Jedenfalls weist die geschichtliche und kulturelle Invarianz dauerhafter Paarbeziehungen, auch in einer institutionell geschlossenen Ehe, auf die Bewährung dieser Lebensform durch eine lange Erfahrung von Menschen hin.
10. Zu fragen ist aber auch, ob humanwissenschaftlich gesehen die institutionelle Ehe die einzige und allein angemessene Form eines Zusammenlebens darstellt, die erfüllend gelebte Sexualität langfristig und im Ganzen am ehesten ermöglicht. Die Ehe hat ja einen vielfachen Wandel im Verlauf der Geschichte erfahren. Durch die wesentlich längere Lebenserwartung der Menschen heute stellt sich die Frage erneut. Auch in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften wird die Erfahrung einer Beziehung gegenseitiger Liebe, in der die Partner verlässlich und verantwortlich zusammenleben und füreinander da sind, gemacht.35 Auch wäre wahrzunehmen, dass andere institutionelle Lebensformen wie etwa die Polygynie in manchen Kulturen Gründe haben können, die sie als Konsequenz verantwortlichen Handelns verstehen lassen.36
11. Ähnliches lässt sich auch im Blick auf homosexuelle Beziehungen sagen. Sexualethisch entscheidend scheint auch hier die Beziehungsqualität zu sein. Jedenfalls müsste – aus verantwortungsethischer Sicht – derjenige, der behauptet, homosexuelles Handeln sei ethisch unerlaubt und unverantwortlich, zeigen, welcher Schaden dabei eigentlich entsteht und dass es dafür keinen rechtfertigenden Grund gibt. Es genügt nicht, darauf zu verweisen, dass Homosexualität etwa seltener ist als Heterosexualität, oder sie deswegen abzulehnen und für widernatürlich zu erklären, weil man selbst keine solche Veranlagung hat, weil man es sich nicht vorstellen kann oder weil man es als unangenehm empfindet. Auch lassen sich aus dem Verweis auf die physische Verschiedenheit und Verwiesenheit der Geschlechtsorgane keine normativ-ethischen Aussagen ableiten, ohne dabei einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen.
12. Die Schwierigkeit, einen realen Schaden und die Unverhältnismäßigkeit dieses Schadens nachzuweisen, besteht auch hinsichtlich der Frage der Selbstbefriedigung. Zwar hat etwa Eugen Drewermann darauf hingewiesen, dass es zu Fixierungen auf sich selbst kommen kann, die eine Beziehungsunfähigkeit begründen und damit auch das Erleben von Sexualität in einer personalen Beziehung erschweren oder gar unmöglich machen. Dennoch wird sich eine solche krankhafte Form nur in den wenigsten Fällen wirklich nachweisen lassen.
13. Schließlich lässt sich im Blick auf die Frage künstlicher Empfängnisverhütung Folgendes sagen: In Humanae vitae heißt es ausdrücklich, dass die Verwendung hormoneller Kontrazeptiva etwa zu therapeutischen Zwecken zulässig ist, weil in diesem Fall die Verhinderung der Fruchtbarkeit selbst nicht direkt angestrebt, sondern nur indirekt in Kauf genommen wird.37 Nach moraltheologischer Tradition aber ist die Verursachung oder Zulassung eines Schadens dann nur indirekt in Kauf genommen (außerhalb der Intention) und nicht direkt intendiert, wenn sie verhältnismäßig ist und es dafür einen entsprechenden Grund (etwa die therapeutische Wirkung) gibt.38 Auf dieser Grundlage lässt sich aber sagen, dass es dann, wenn etwa ein Paar noch nicht angemessen für Kinder sorgen kann, gerade die Verantwortung für die Weitergabe des Lebens erforderlich macht, auf die Lebensweitergabe zu verzichten und sie zu verhindern. Es wäre kontraproduktiv und damit unverantwortlich, dennoch eine Schwangerschaft zu riskieren. Vielmehr scheint es ethisch geboten, eine Schwangerschaft zu verhindern. Aus Sorge um das Wohl möglicher Kinder wird dann aber die Verhinderung der Fruchtbarkeit nicht direkt intendiert. Die Handlung ist dann als „verantwortliche Familienplanung“ und nicht als egoistische „Empfängnisvereitelung“ zu bezeichnen, und dies unabhängig davon, ob als Weg die Ausnützung der natürlicherweise unfruchtbaren Zeiten oder ein künstliches Mittel verwendet wird.39