Lars van Triers Film „Dogville“ (2003) ist eine Parabel auf eine Menschheit, die mit bedingungsloser Liebe nicht umgehen kann. Nicole Kidman spielt als Grace eine Christusfigur, die ihresgleichen sucht. Von Haustür zu Haustür eilend, bietet sie sich gratis an, reine Gnade. Zuerst wird sie abgelehnt, weil sie das berechnete Gesellschaftsgefüge durcheinanderbringt. Später wird sie missbraucht. Als sie schließlich das Gericht über die Menschen bringt, will der Pastor sogar davon noch profitieren. Er schreibt gleich eine erbaulich-moralisierende Predigt. Zuviel für Grace. Sie zieht den Revolver und vollzieht das Gericht am Pastor eigenhändig. Am Schluss des Films bellt nur noch ein Hund namens Moses. Er allein überlebt.
Schon im Buch Hiob wird es als geschmacklos abgetan, aus Leiden moralische Belehrung abzuleiten. Und wer nur in Krisenzeiten vom Eingreifen Gottes spricht, hat von einem Gott, der Barmherzigkeit und Gnade will, nichts verstanden. Wer an Gottes Sprechen durch Zeichen glaubt, muss es auch im Guten und Schönen des täglichen Lebens benennen. Ruhige Zeiten laden auf jeden Fall ein, selbstloses Handeln einzuüben. Da wird das Fundament des Humanen einer Gesellschaft gelegt. Tugenden müssen eingeübt, Strukturen entwickelt werden. Nur so kann in Extremsituationen eine breite Solidarität tragen.
Solidarität ist im Kampf gegen das Corona-Virus in unserer Gesellschaft wirklich notwendig. Das Gemeinwohl muss vor kurzsichtige, eigennützige Ziele gestellt werden. Auch Kreativität im sozialen Umgang ist gefordert. Ob Rücksicht aufeinander und Verzicht angesichts der Einschränkungen und Einbußen in den kommenden Monaten tragen? Ob eine solche Haltung des Miteinanders nachhaltige Kraft entwickelt, überzogenen Individualismus zu bremsen? Ob die Corona-Krise auch bereitwilliger macht, sich der langfristig doch weit anspruchsvolleren Klimakrise mit all ihren sozialen Implikationen zu stellen? Wir wissen es nicht. Wir leben in kritischen, aber nicht in katastrophalen Tagen.
Daher sollten sie auch als Chance genutzt werden. Der erzwungene und freiwillige „Hausarrest“ lädt ein, sich auf die conditio humana zu besinnen. Die Fortschritte in Digitalisierung, Neuobiologie etc. lassen allzu leicht vergessen, dass wir Menschen mit unserem Leib immer in der analogen Welt leben werden: transhumanistischen Extrapolationen zum Trotz. Daran erinnert das Corona-Virus. Verletzlichkeit und Sterblichkeit bleiben. Sie nicht nur als Bedrohung, sondern auch als produktive Grenzerfahrungen zu sehen, lehrt die Existenzphilosophie eines Karl Jaspers. Angesichts der Erfahrung des Ersten Weltkriegs hat er sie formuliert. Er bringt in moderne Sprache, was die religiösen Traditionen seit je mit ihren Worten und Riten zu bewältigen und fruchtbar zu machen suchen: In Grenzsituationen wird das Leben der Krankheit oder sogar dem Tod abgerungen. Daran wird der Mensch. Jaspers sagt: „Grenzsituationen erfahren und existieren sind dasselbe“.
Nicht dass dies eine billige Tröstung für Menschen wäre, die durch Krankheit geplagt werden. Pastoren wie in „Dogville“ wären mehr Plage als Gnade. Sich mit Grenzsituationen zu befassen ist harte Arbeit. Grenzsituationen soll man nicht schaffen, allerdings auch nicht verdrängen. Und Politik darf sie auf keinen Fall ideologisch ausnutzen, um Randgruppen zu vernachlässigen oder autoritäre Führung durchzusetzen. Vielmehr gilt es zu akzeptieren, dass Verletzlichkeit und Sterblichkeit zum Leben gehören. Nicht alles ist machbar. Auch scheinbar nicht perfektes und voll ausgeschöpftes Leben hat seinen Wert. Der Torso hat seine eigene Schönheit, die die vollendete, klassische Statue nicht besitzt. Sterblichkeit zu leben heißt, den Tod ein Stück weit ins Leben zu integrieren. Dies schenkt einen gelasseneren und nüchterneren Blick. Dabei geht es nicht um eine stoische Haltung. Das wäre zu individualistisch gedacht. Gerade die Stoa lässt Lars van Trier auf die helfende Liebe prallen, dass sie ihr Gesicht verliert. Es geht darum, mit dem Mitmenschen mitzufühlen, zu verstehen und sich mit ihm begleitend dort der Unverfügbarkeit des Lebens zu stellen, wo sie unumgänglich ist.
Eine Gesellschaft, in der Verletzbarkeit und Sterblichkeit zum Leben gehören, urteilt anders darüber, wo in ihrer Forschung Gelder eingesetzt werden und wo nicht. Der Tod ist nicht einfach ans Ende des Lebens gedrängt. Dies ist auch ein Anliegen, das die gegenwärtige Debatte um selbstbestimmtes Sterben antreibt. Dabei geht es darum, ob und wie der Tod verfügbar gemacht werden kann. Das Corona-Virus, das vor allem alte Menschen tödlich trifft, ist aber ein Angriff genau auf Selbstbestimmtheit und Verfügbarkeit. Es ist eine Beleidigung menschlicher Autonomie, die unserer Gesellschaft so wichtig ist. Auch daher sind wir bereit, so drastische soziale und wirtschaftliche Maßnahmen gegen das Virus zuzulassen. Grenzsituationen im existentialistischen Sinne anzuerkennen heißt aber, anzuerkennen, dass Selbstbestimmtheit nicht absolut ist; und sich mit dem Unverfügbaren zu versöhnen, Abhängigkeiten zu akzeptieren und solidarisch zu werden, weil der Andere und die Begrenztheit zum Leben gehören – so wie der Tod.
Der Beitrag erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung, Online (26.03.2020)