„Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch. Dort treffen wir uns.“ Dieser Satz gilt als einer der Programmsätze der gewaltfreien Kommunikation. Er wird dem mittelalterlichen Sufi Mewlana Rumi zugeschrieben.
Natürlich muss es in einer offenen Gesellschaft den Streit um richtig oder falsch geben. Aber es gibt Situationen, in denen die übliche Debattenkultur versagt, weil zu offensichtlich ist, dass die Herausforderung größer ist, als eine am schnellen Urteil interessierte Öffentlichkeit sie überhaupt fassen kann. Der legitime Drang nach Sicherheit und Planbarkeit wird dann nicht mehr durch verlässliche Hochrechnungen und Prognosen bedient. Die Lawine rollt, und wir sind alle in der Lawine drin. So auch in diesen Corona-Tagen: Die Möglichkeit zu seelenruhiger Abwägung zwischen gesundheitspolitischem Gewinn und wirtschaftlichem und sozialem, in manchen Fällen auch wiederum gesundheitsrelevantem Verlust, der durch die drastischen Maßnahmen erzielt wird, ist begrenzt. Systemlogiken prallen aufeinander, die normalerweise eher Hand in Hand zusammenwirken – Infektionsschutzlogik gegen Grundrechtslogik, Schutz des Gesundheitssystems versus Schutz des Wirtschaftssystems und des Systems der sozialen Sicherung, Solidarität gegen Nahbeziehung.
Themen, die bis vor kurzem die Gemüter kontrovers bewegten, treten völlig in den Hintergrund – was einige Personaldebatten betrifft, so atmet man auf, was andere Themen wie etwa die Lage an der türkisch-griechischen Grenze oder das Klimaproblem betrifft, weniger. Unser Problem heißt jetzt a) Corona sowie b) die Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung von Corona. Das Milliardenpaket zur Unterstützung der Wirtschaft, das der Bundestag kürzlich beschloss, wurde einmütig abgesegnet – außer von den Abgeordneten einer Partei, weil sie den astronomisch hohen Betrag, der mit Sicherheit nicht alle Schäden lindern wird, für zu niedrig hielt. Dabei sagt mir mein Bauch: Auch zwanzig oder dreißig Milliarden mehr werden das Loch nicht füllen können, das sich aufgetan hat.
In Corona-Zeiten versagen Sinngebungen von außen. Es funktioniert eben nicht mit dem Kommentieren, wenn man selbst in der Lawine mitrollt. Corona-Zeit ist keine Zeit für Kommentare. Ein Bischof in der Schweiz, der über Corona als eine Strafe Gottes spekulierte, sei hier nur erwähnt, um die eigene Scham zu benennen, die man als katholischer Christ angesichts solcher Äußerungen empfindet. Die säkulare Variante der Geschichtsphilosophie kommt etwas weniger unerträglich daher: „Die Erde stemmt sich gegen die Menschen“ (Jogi Löw). Sicherlich, wir werden wohl auch neu über die Globalisierung nachdenken müssen, auch unter der Rücksicht, was sie mit den Menschen macht. Ansonsten sind diejenigen Stimmen stiller geworden, die vorschnell von der „Krise als Chance“ sprachen. Über Chancen kann man philosophieren, wenn man sozial abgesichert ist, keine Verantwortung für einen mittelständischen Betrieb trägt, oder wenn man nicht als alleinerziehende, berufstätige Mutter home-schooling am PC unterstützen muss, tagsüber die Sportvereine geschlossen bleiben, Kinder nachts unter Alpträumen leiden bei dem Gedanken, sie könnten ihre Oma anstecken, und soziale Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände zu meiden sind. Sogar „Solidarität“ wird immer mehr ein verwirrendes Wort, wenn alte Menschen in Discount-Läden angeblafft werden, weil sie nicht zu Hause bleiben, obwohl doch gerade sie durch social distancing geschützt werden sollen.
„Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch …“ An diesen Satz denke ich besonders, wenn ich auf die politisch Verantwortlichen blicke. Ich möchte jetzt nicht in ihrer Haut stecken. Wie soll man entscheiden jenseits des Ortes von richtig und falsch? Im Frühjahr 2010, als der Missbrauchsskandal mit voller Wucht losbrach, fand ich mich an einem Ort jenseits von richtig und falsch vor. Ich hielt mich zusammen mit den anderen Verantwortlichen an dem Satz fest: „Was immer ich mache, es ist falsch. Also mache ich das Falsche, das ich für richtig halte.“ So ähnlich geht es vielleicht heute der Bundeskanzlerin, dem Gesundheitsminister und den anderen politisch handelnden Personen, die ja nicht nur ausführende Organe der auf ihre Zuständigkeit beschränkten Erkenntnisse von Virologen sind, sondern die politische Verantwortung für gewaltig folgenreiche Entscheidungen tragen.
Eine Einsicht ähnlich derjenigen, die Rumi ausdrückt, findet sich bei Ignatius von Loyola in im Brief an Franz von Borgias vom 5.7.1552: „Es kann sein, dass derselbe göttliche Geist mich dazu (zu der einen Position) aus den einen Gründen bewegt und andere aus anderen zum Gegenteil (zu der gegenteiligen Position) bewegt.“ Was geistlich richtig ist, wird sich in Corona-Zeiten nicht in der Haltung des Rechthabens und Besserwissens finden lassen, sondern jenseits von richtig und falsch durch Empathie, durch Verantwortungsbewusstsein und – sagen wir es ruhig – durch Gebet.