Grün, Anselm: Quarantäne! Eine Gebrauchsanweisung. So gelingt friedliches Zusammenleben zu Hause. Freiburg: Herder 2020. 96 S. Gb. 14,–.
Ganz schnell werfen P. Anselm Grün und der Herder Verlag diese spirituelle Hilfe auf den Markt: Erst am 16.3.2020 war in Deutschland der Shutdown der Schulen, am 24.3. schon erschien das E-Book, am 31.3. die gedruckte Version. Menschen, die wegen Corona in Quarantäne leben – allein oder in Familie –, bekommen eine „Gebrauchsanweisung“ an die Hand, die aus der Weisheit der Mönche schöpft. Bekanntlich leben diese seit 1500 Jahren in klösterlicher Klausur, also gleichsam in Quarantäne: auf engstem Raum, abgeschottet von dicken Mauern, dicht aufeinander.
Natürlich ist das Büchlein mit heißer Nadel gestrickt, es ist eher leichtgewichtig, bisweilen glättet es existenzielle Fragen, und es richtet sich an den bürgerlich abgesicherten Kunden, dem es in der Krise eigentlich ganz gut geht, nicht an jene Menschen, die jetzt in Abgründe stürzen: gesundheitliche, finanzielle, familiäre – bekanntlich steigen in Quarantäne oft die Angst und die Aggression – oder an jene Flüchtenden und Armen dieser weiten Welt, denen gleich gar nichts mehr bleibt.
„Quarantäne“ kommt von ital. quaranta giorni, das ist die 40-tägige vorösterliche Bußzeit (lat. quaresima) – sie fällt übrigens jahreszeitlich mit Corona beinahe zusammen! Aber immerhin sind Quarantänen zeitlich begrenzt… Anselm Grün nennt die drei Kriterien, die nach Benedikt für die Aufnahme eines Novizen ins Kloster gelten: Er soll Gott suchen und eifrig im Gottesdienst sein – also emotionsfähig und hörend sein, nicht narzisstisch um sich kreisend; er soll gehorsam sein – also sich auf die Gemeinschaft einlassen und sinnvolle Regeln beachten; er soll „Widerwärtiges ertragen“ – also Konflikte und Belastungen akzeptieren. Rituale muss man in der Klausur neu erfinden, um dem Leben Form zu geben – individuelle und gemeinschaftliche, innerliche und äußerliche. Und man muss, um den Lagerkoller zu vermeiden, sich Ziele geben: Wie ein Bergwanderer, der kurz vor dem Gipfel wegen eines Unwetters im Basislager festhängt und nicht mehr zum Gipfel kommt, muss sich der durch Corona Eingesperrte andere und neue Ziele definieren.
Oft ist auch ein Rollenwechsel zu vollziehen: Die Chefin des Unternehmens ist plötzlich wieder vor allem Hausfrau und Mutter. Den Lagerkoller vergleicht Grün mit der mönchischen Acedia: Missmut, Überdruss, Trägheit, Herzensangst überfallen den Mönch, wenn er sich eingesperrt fühlt – nur neue Ziele geben Energie und Lust. Im Kloster hat der Mönch seine Zelle als enge, aber ganz private Nische, die er ärmlich, aber liebevoll gestaltet; und er hat die meist großzügigeren Gemeinschaftsräume, in denen er den Brüdern begegnet, in rechter Nähe und in rechter Distanz, im Schweigen und im Reden. Der Mönch darf keine Angst vor Emotionen haben – diese werden dichter in der Stille. Und er muss Solidarität üben…
Versteckt im Gewand der Schlichtheit spricht Anselm Grün doch Wesentliches an, mit Gespür und mit Tiefgang – auch Mönche können gut schnell schießen.
Stefan Kiechle SJ
Guanzini, Isabella: Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht. München C.H. Beck 2019. 220 S. Gb. 18,–.
Dieses Buch hätte auch den Titel tragen können: „Die Macht zur Veränderung jenseits von Resignation und Zorn“, um sofort anzuzeigen, wie aktuell die Autorin an aktuelle politische und philosophische Debatten anknüpft. Im „Zeitalter des Zorns“ (Pankaj Mishra) erschließt das Buch eine Tradition, der sie zutraut, die „unvollendete Romantik“ als Widerstandsbewegung gegen die Unempfindlichkeit der Moderne aufzugreifen und ihr Potenzial wirksam werden zu lassen. Dabei kann sie auf Platons Symposion, Spinozas Ethik und Affektenlehre, Simmel, J.-L. Nancy, Byung-Chul Han, Adorno, Handke oder Charles Péguy und viele andere zurückgreifen.
Um ein Bild aus der Männerwelt zu verwenden: Die Autorin spießt den Stier nicht bei den Hörnern auf, sondern führt ihn, manchmal sehr behutsam, durch die Manege. Aber was für einen Stier und was für eine Manege! Guanzini ist überzeugt, dass zentrale Begriffe wie „Zärtlichkeit“, aber auch „Gott“ oder „Gerechtigkeit“, „keinen erläuternden Tonfall (ertragen), der vorgibt ihr Wesen zu erklären“ (26).
Stark ist der erste große Anlauf, der die globale Verstädterung zum Anlass nimmt nachzufragen, was die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Stadt und Land für die Form gesellschaftlicher Wahrnehmung und Kommunikation bedeuten, weil sie das Gefühlsleben im Kern verwandeln. Sie beschreibt in poetischem Ton, aber bietet damit zugleich Zugänge zu so verschiedenen Phänomenen wie dem polarisierenden Protest von großen Gruppen, die sich marginalisiert erfahren, und dem Trend junger Großstadtmenschen, den öffentlichen Ort durch die heimische Couch zu ersetzen. Zugleich beschreibt sie, wie durch die Vergroßstädterung das Denken und Sprechen „blasiert“ (Simmel) wird: „Der Verstand ist ein Werkzeug zur Verteidigung gegen die Vergewaltigungen der Großstadt und ihre Reizüberflutung. Das Gefühlsleben wird gefiltert und einem Prozess der Erkältung und Distanzierung unterworfen, was den Charakter des homme blasé hervorbringt, einer typischen Figur des urbanen Phänomens“ (47).
Das Buch liest sich streckenweise wie ein Mosaik, dessen Steine nicht immer wirklich zusammenpassen. Oder eben doch. Papst Franziskus steht mehrfach Pate für Gedanken, die eine Gefühlslage aufgreifen, die auch dem Marxismus nicht fremd ist. Ausbeutung und Selbstausbeutung, Kampf gegen die Entfremdung und Sabbat-Kultur liegen nahe beieinander.
„Zärtlichkeit heißt, entschlossen zu sein gegen die übergriffige Anmaßung, die uns auf habenwollende Maschinen reduzieren will, ohne Beteiligung der inneren Vertrautheit – von Menschen und von Dingen –, die wir brauchen. Der Sabbat schafft dafür Raum und ist der Tag einer göttlichen, der ‚heilsamen Müdigkeit‘, die nicht aus der Verleugnung der eigenen Grenzen, sondern aus der Mühe in Gemeinschaft und sinnvollem Tun erwächst.“ Der Sabbat wird als die Zeit vorgestellt, in der das Tun vom äußeren Zweck befreit wird, „damit es sich auf seine intransitive Qualität konzentrieren und seine potentiell schöpferische Kraft freisetzen kann“ (150). Damit kann sie die moderne Freizeit als verzweckte, mit Aktivität überladene Fortführung der Arbeit entlarven, die das eigentliche Feiern verhindert.
Guanzini bietet Analyse, keine Therapie. Das Buch schließt mit der Interpretation von heilsamen Erzählungen. Die Autorin versucht Schlüsselbilder fruchtbar zu machen, Vergils Äneas für die Integration des Flüchtlings in die abendländische Identität, oder die Begegnung Jesu mit der Sünderin im Haus des Pharisäers für eine den Zugang zur Wirklichkeit öffnende Zärtlichkeit. Zum Abschluss findet sie eine neue mythische Erzählung: die Geschichte von zwei Mädchen, die auf der Flucht über das Mittelmeer geboren wurden und in Lampedusa und Sizilien mit der Zärtlichkeit empfangen wurden, die – auch hier ist Papst Franziskus präsent – zu einer Gründungsgeschichte eines erneuerten Europas werden kann.
Martin Löwenstein SJ
Frick, Eckhard / Maidl, Lydia (Hgg.): Spirituelle Erfahrung in philosophischer Perspektive (Studies in spiritual care 6). Berlin: De Gruyter, 2019. 346 S. Gb. 79,95.
Der Leser wird sich zunächst fragen, was hier „Spiritualität“ meint. Vielleicht genügt vorerst der Hinweis, sie sei „eine anthropologische Dimension, durch welche die Frage nach dem Sinn offengehalten wird“ (14). Wie sehr das differenzierbar ist, zeigen andere Beiträge (L. Maidl, G. Sans, S. Bohlen u.a.). Vom Reihentitel her schließt sich die Frage an, was „spiritual care“ sei. Kurz gesagt geht es um interdisziplinäre, inter- und außerreligiöse, internationale Forschung (und Praxis) im Schnittbereich von Medizin, Theologie, Krankenhausseelsorge und philosophischer Anthropologie. Dass man den Ausdruck nicht in die Umgangssprache übersetzt, ist nicht nur ein terminologisches Problem, sondern zeigt (oder verdeckt) wohl auch eine Pluralität des Verständnisses (vgl. E. Frick).
Der vorliegende Band ordnet 22 relativ kurze Stellungnahmen in sechs Kapiteln seinem Thema zu, von den existentiellen Zugängen, über eine Phänomenologie spiritueller Erfahrung und deren erkenntnistheoretische Grundlagen, dem Verhältnis zur Ethik, den gesellschaftlichen Kontexten bis zu allgemeinen philosophischen Perspektiven. Stichwörter sind „Verwundbarkeit“, „Heimatlosigkeit“, „Sehnsucht“. Als Bezugspersonen bzw. -theorien sind etwa Levinas, Plessner, Blondel, Jaspers aber auch Ignatius von Loyola und Thomas von Aquin zu nennen. Doch auch atheistische Positionen werden diskutiert (T. Metzinger, A. Comte-Sponville). Eindrücklich ist etwa Klaus Müllers Beitrag zur katholischen Kierkegaard-Nachfolge: Mit Peter Wust wird ein nur noch selten bedachter Autor ins Spiel gebracht, und E. Drewermanns theologischer Grundansatz wird hier eindrücklich und in Bezug auf das Programm Karl Rahners dargestellt. Nebenbei: Auf Rahner hätte man auch direkt zurückgreifen können: Heilsmacht und Heilungskraft des Glaubens (1961).
Die Vielfalt der Aspekte – „philosophisch“ ist sehr weit verstanden – macht es unmöglich, sie hier zu resümieren. Sie reichen von klassischen Beispielen spiritueller Erfahrung und ihrer reflexiven Deutung (z.B. Ignatius von Loyola) bis zur japanischen Teezeremonie oder zu Aspekten der Kunsttherapie, von beschreibender Darstellung philosophischer Positionen (S. García Mourelo) bis zu strenger Reflexion (G. Sans) und von Alltagserfahrungen bis zu religiös-spirituellen Suchbewegungen in Sibirien. Gegensätzliche Positionen sind nicht „vereinheitlicht“.
Einzelurteile kann man befragen. Warum Heideggers Todes-Analyse die Annäherung an die „Qual eines jeden, der um sein nahes Sterben weiß“ nicht erlauben soll, müsste zumindest erläutert werden (7). Bei den Bibliografien wäre etwas mehr Überarbeitung sinnvoll gewesen: V. Jankélévitch sollte man nicht auf Spanisch zitieren, Tolstoi nicht auf Englisch usw. Die Aufmachung mit englischen Übersetzungen der Titel, dt.-engl. Zusammenfassungen und Schlagwörtern scheint eher für die Einspeisung in Datenbanken als für Lesetexte nötig. Da das Buch inhaltlich durchaus ein breites Publikum interessieren kann, wäre eine lesefreundlichere, weniger „technische“ Aufmachung sinnvoll gewesen, vielleicht auch die Übersetzung der drei englischen Beiträge. Aber das sind Einzelheiten, die nicht übersehen lassen sollten, dass hier ein anregender und perspektivenreicher Band zu einem in unserer Gesellschaft wichtigen Thema vorliegt, das mit bleibend-grundlegenden wie aktuellen Problemstellungen – letztlich bis hin zu jüngsten umstrittenen Entscheidungen des Verfassungsgerichts – zu tun hat.
Albert Raffelt
Vieweg, Klaus: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. München: C.H. Beck 2019. 824 S. Gb. 34,–.
Pünktlich zum 250. Geburtstag Georg Wilhelm Friedrich Hegels erschien die umfangreiche Biografie des Jenaer Philosophen Klaus Vieweg. Der Autor widmet sich gleichermaßen dem Leben und dem Werk Hegels. Der Spagat gelingt, indem Vieweg den Einsatz für politische Freiheit als das die beiden Seiten verbindende Element herausstellt: Hegel sei weder bloß der weltabgewandte Metaphysiker, noch gar der reaktionäre preußische Staatsphilosoph, als der er vielfach gelte. Stattdessen sieht Vieweg in ihm einen Denker der Freiheit. „Vernunft und Freiheit bilden die beiden Grundpfeiler, auf denen Hegels Philosophiedom errichtet wurde“ (17). Die Studienjahre im Tübinger Stift sind gekennzeichnet durch die Begeisterung für die Französische Revolution. Mit dieser Sympathie machte sich Hegel etwa bei der Berner Adelsfamilie, in deren Haus er als Lehrer tätig war, verdächtig. Zeitlebens hatte er Kontakte zu republikanisch gesinnten Oppositionellen und setzte sich für sie ein.
Neben der Politik spielte für den Bildungsgang des Philosophen die Religion eine wichtige Rolle. Doch traute ihr Hegel immer weniger zu, die ersehnte Einheit der Menschen sowohl untereinander als auch mit dem Absoluten zu bewerkstelligen. Deshalb arbeitete er sich um die Jahrhundertwende tiefer in die Diskussionen der neuesten, nachkantischen Philosophie ein. Das Ergebnis war die in Jena verfasste Phänomenologie des Geistes, sein „Jahrtausendwerk“ (259). Zum Durchbruch verhalf Hegel sein an der antiken Skepsis geschulter Sinn für Negativität und für die Differenzen innerhalb einer jeden Einheit. Den folgenden Stationen des Lebenswegs – Nürnberg, Heidelberg und Berlin – entsprechen die großen systematischen Werke – Wissenschaft der Logik, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und Grundlinien der Philosophie des Rechts.
Obwohl Vieweg keine im engeren Sinn technische Abhandlung schreibt, wird die Darstellung mit mehr Gewinn lesen, wer ein philosophisches Grundverständnis mitbringt. Bei der Schilderung der äußeren Lebensumstände konzentriert sich Vieweg auf das Schicksal Hegels und setzt voraus, dass seine Leser mit dem geistesgeschichtlichen Umfeld, wie zum Beispiel der Rolle Goethes am Hof in Weimar oder dem Kreis der Jenaer und Heidelberger Romantiker, bereits vertraut sind. Genaueres erfährt man hingegen zu bisher weniger geläufigen Aspekten wie dem innovativen Wirken Hegels als Rektor des Egidiengymnasiums in Nürnberg, seiner Bekanntschaft mit den verschiedenen Gemäldesammlungen oder seinem mäßigenden Einfluss auf die zu Antijudaismus und Franzosenhass neigenden Burschenschaften. Was die Inhalte angeht, kann Vieweg überzeugend darlegen, dass der Berliner Hegel die Idee eines „auf der Marktordnung fußenden sozialen Staates“ verfolgte (510). In seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte erörterte Hegel den Beitrag der europäischen Moderne zum allmählichen Durchbruch des Gedankens der Freiheit. In diesem Zusammenhang fällt auch der berüchtigte Ausdruck vom „Weltgeist“, dessen Sinn darin bestehe, „die Relativität ethnisch und kulturell gebundener Sittlichkeit wiederum zu relativieren“ (602). Wer sich durch den Umfang des Buches nicht abschrecken lässt, findet in Vieweg einen vorzüglichen Begleiter zu dem Philosophen Hegel.
Georg Sans SJ