„Was ist der Unterschied zwischen Anrufung und Gedicht?“ Das fragte sich Nora Gomringer, als der Verlag ihren neuesten Gedichtband erst ablehnte – mit der Begründung, es handele sich mehr um ein Gebetbuch als um Lyrik. Jetzt erschien er doch (Berlin: Voland & Quist 2020), zum Glück, mit 49 Texten, die im Zeitraum von drei bis vier Jahren entstanden sind und die sich zu einem großen Teil mit Religiösem beschäftigen, aber nicht nur: Es geht auch um modernes Dating, Feminismus, Kirchenarchitektur in der Eiffel (20), Kritik am „Friedwald-Business“ (22), geistliche Musik, den Literaturbetrieb und um einen jung verstorbenen guten Freund, dem der Band gewidmet ist.
Berlin-Prenzlauer-Berg im Frühjahr 2020. Es ist eine der letzten öffentlichen Veranstaltungen vor dem kulturellen Shutdown wegen des Corona-Virus: Nora Gomringer liest im Haus der Poesie aus ihrem Gedichtband „Gottesanbieterin“. Die erfolgreiche Autorin schreibt seit mehr als 20 Jahren und hat zahlreiche Publikationen vorzuweisen. Sie live lesen zu hören, offenbart aber besondere Qualitäten: Ihre humorvolle und quirlige, aber bodenständige Art überrascht zunächst, geht es doch um hohe Kunst, zuletzt ausgezeichnet durch den Ingeborg-Bachmann-Preis 2019.
Bedenkt man, dass Gomringer ihre ersten großen Schritte einst in der jungen Poetry-Slam-Szene machte, erklärt das den auf den ersten Blick recht alltagssprachlichen Duktus. Zwar gibt es eine Fülle von literarischen Bezügen und sprachlichen Stilmitteln – am besten aber folgt man Gomringers Lyrik, indem man den Assoziationen ihren Raum lässt mit demselben unvoreingenommenen und offenen Blick, mit dem sie selbst sich ihrem Gegenstand, dem Glauben, nähert.
Auffällig an der Sprache ist die bisweilen freche und für manche anstößige Nonchalance und vermeintliche Blauäugigkeit:
[...] Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite.
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner.
Das ist schon fahrlässig.
Ein Mann wie ein Briefkasten dadurch.
Kummerkasten aus Holz mit Schlitz.
Gut, dass hier alles gewandelt wird. [...]
(aus „Man siehts“, 80)
„Vor vielen Jahren traf die Dichterin Gomringer auf eine besonders große Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie“, schreibt der Verlag: „Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens und Beobachtens mit einer Gottesanbeterin, die Gomringer immer wieder zu Fragen an ihren Glauben und die Vielgestaltigkeit von Religion geführt haben, jenem ‚geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins‘.“
Es ist gerade der unvoreingenommene Blick des beobachtenden Ichs, das mal außen steht, sich aber auch betreffen lässt von der Gretchen-Frage „Wie hälst Du‘s mit der Religion?“. Bei Nora Gomringer, die sagt: „Wandlung ist das, was mich so anzieht und mich beschäftigt“ klingt das unter anderem so:
[...] Ein Brennen wirds.
Dann stehen wir in Flammen und
einer fragt, wie hälst dus mit der Kommunion
und einer denkt:
Sex ginge anders.
(aus „Wir tindern uns“, 64)
Mal ist Jesus wie „Schrödigers Katze“ – in den Tagen vor seiner Auferstehung –, mal hat er nur „12 Follower“. Gomringers unverblümte, teils derbe Sprache im religiösen Kontext kommentiert die Dichterin selbstironisch: „Ich denke immer, dass ein Blitz von oben kommt, aber das ist bis jetzt noch nicht geschehen“. Dahinter steckt ja auch viel mehr als reine Provokation: Es ist das ehrliche Suchen einer Frau, die frei von liturgischen Sprachgebilden denkt, welche vielen Menschen bloß noch wie Worthülsen daherkommen. Aber nicht nur der Ritus wird in einer ambivalenten Mischung aus Bewunderung und Befremden beobachtet, auch die Gläubigen selbst:
Es gibt Mädchen, die bluten nur an hohen Feiertagen,
sagen Mütter mit sehr kühlem Blick,
hinaus durchs Fensterkreuz gesprochen.
Da halten sie den Kopf wie hingenagelt [...]
Aus: „Es gibt Mädchen, die bluten nur an hohen Feiertagen,“, 62)
In einem anderen Gedicht sind die Leute von heute zu beschäftigt damit, Heu für Ochse und Esel zu kaufen, um die eigentliche Weihnachtsbotschaft zu hören (92). Und in „Kämst du heute“ (89), geschrieben unter dem Eindruck von Pegida, Donald Trump und medialer Reizüberflutung, bleibt kein Platz für den Messias aus der Heiligen Schrift. Viele Texte kritisieren Oberflächlichkeit und Schönmalerei im Glauben, manche kritisieren Rosinenpickerei in wesentlichen Glaubensinhalten.
Die Religion durchzieht alle fünf Kapitel von Nora Gomringers Lyrikband, dem übrigens eine Audio-CD beigelegt ist, auf der die Dichterin selbst sämtliche Gedichte vorliest – ein großer Gewinn und eine wertvolle Interpretationshilfe. Zara Teller illustrierte den Gedichtband mit Schwarz-Weiß-Fotografien, Skizzen und grafischen Elementen sehr stimmig: mal schmückend, mal etwas verstörend in der expliziten Darstellung beispielsweise einer von einer Katze angefressenen toten Maus.
Am deutlichsten vom Glauben geprägt ist das letzte Kapitel, „Angebot“. Unbedingt zu erwähnen ist, dass neben lauteren, teils derben Tönen auch viel Raum für die stille Auseinandersetzung mit Spiritualität und Glaube gegeben ist. Das Gedicht „Vor Arvo Pärts ‚Stabat Mater‘ zu rezitieren“ (24) ist an die minimalistische geistliche Musik des estnischen Komponisten angelehnt und einer der eindrucksvollsten Texte im Band.
„Das Gläubige“ ist für Gomringer ein „fortwährender Prozess“. Immer wieder tauche sie in diesen Kosmos ein, um ihre Haltung zu finden. Gleichzeitig bekennt sie deutlich: „Ja, wir sind christliche Erzählerinnen“ (im Kontext ihres der katholischen Autorin und Journalistin Felicitas Hoppe gewidmeten Gedichts: „Runtergezählt“, 10). Und die Lesung in Berlin beschließt sie mit dem Gedicht „Applaus“ (95), über das sie mit einem interpretationsfähigen Schmunzeln sagt: „Das ist das Glaubensbekenntnis der Nora Gomringer“:
[...] Ich bin die Christin,
die beim Chatten nach Fotos von Händen fragt,
so ungläubig ist sie. [...]
Ich bin die Christin,
die im Leben, im täglichen, das Brot verschmäht. [...]
Ich bin die Christin,
die beim Weltuntergang und im Höllenfeuer besonders gut angezogen
sein möchte.
Ich bin die Christin,
die an zu viel Weihrauch, nicht an zu wenig sterben möchte.
Ich bin die Christin,
die die weißen Westen der Diener Gottes anschwärzt. [...]
Ich bin die Christin,
die verzückt bei der Wandlung klatscht, weil die Show so täuschend,
perfekt.