Rezensionen: Geschichte & Biografie

Delbrêl, Madeleine: Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße. Ein Lese­buch. Hg. von Annette Schleinzer. 272 S. Gb. 22,–.

François, Gilles / Pitrau, Bernard: Madeleine Delbrêl. Die Biografie. Aus dem Französischen von Annette Schleinzer. 352 S. Gb. 30,–.

Schleinzer, Annette: Prophetin einer Kirche im Aufbruch. Impulse für Realisten. 248 S. Gb. 19,95.

München: Neue Stadt 22015; 2019; 22018.

Im Verlag Neue Stadt sind in den letzten Jahren drei Publikationen zu Leben und Werk der französischen Mystikerin, Poetin, Intellektuellen und Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl (1904-1964) erschienen, die als eine der ersten Sozialarbeiterinnen im kommunistisch geprägten Arbeitervorort Ivry von Paris bis zum Kriegsende beruflich tätig war und dann ihren Dienst ehrenamtlich und zusammen mit der von ihr gegründeten Laiengemeinschaft der „Charité“ ausübte. Dabei ist es vor allem das Verdienst von Annette Schleinzer, 1993 mit einer Doktorarbeit zu Madeleine Delbrêl promoviert (2014 in einer Neuauflage erschienen unter dem Titel „Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe. Das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl“. Ostfildern), über Vorträge, Publikationen und Tagungen die zentralen Impulse von Madeleine Delbrêl zu einer Laienspiritualität und „Weltfrömmmigkeit“ und zur Ausbildung einer Glaubensgestalt in immer stärker säkularen und „entchristlichten“ Milieus auch für den deutschen Kontext zu erschließen.

Über ihren engen Kontakt mit der Association des Amis de Madeleine Delbrêl ist Annette Schleinzer der französischen Forschung und Erschließung des umfänglichen Archivs verbunden und konnte darauf bei der Erarbeitung ihrer klar und einfühlsam geschriebenen Hinführung zu Madeleine Delbrêl mit dem Titel „Prophetin einer Kirche im Aufbruch. Impulse für Realisten“ zurückgreifen. Annette Schleinzer, die seit 2005 als Referentin des Bischofs von Magdeburg tätig ist und in der Nähe der Huysburg in einer der am stärksten entchristlichten Regionen Deutschlands lebt, erschließt hier auf faszinierende Weise das Avantgardistische der Mystik und der Poesie von Madeleine Delbrêl für die gegenwärtige missionarische Situation einer Kirche, die sich neu am Evangelium Jesu Christi zu orientieren hat, um in eine neue Gestalt hineinzuwachsen. Nur an der Seite der Menschen, mit „Gebärden der Liebe“ (208) und einem Gespür für die „Zeichen der Zeit“, im „Einklang“ mit dem, „was heutzutage beschleunigt, momenthaft, unmittelbar ist“ (OC VIII 100, Schleinzer 209), im „Lauschen“ auf das „Hoffen der Menschen“ (209) kann die Kirche heute dem Evangelium treu bleiben.

Teils bekannte (wie die „Liturgie der Aussenseiter“ oder die „Fahrradspiritualität“), teils zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlichte Texte sind am Ende dieser anregenden Einführung in das Denken und die geistlichen Impulse von Madeleine Delbrêl veröffentlicht. Eine größere Auswahl von Texten hat Annette Schleinzer zum 50. Todestag von Madeleine Delbrêl zu einem „Lesebuch“ zusammengestellt, das eine spannende Entdeckungsgeschichte in den geistlichen Weg Delbrêls eröffnet über verschiedene Textauszüge, Briefe, Gedichte und Gebete aus dem umfänglichen Werk. Hilfreich wäre es gewesen, bei den einzelnen Auszügen die Jahreszahl des Erscheinens des Textes zu notieren. 

Wer sich mit der Biografie Delbrêls im Detail auseinandersetzen möchte, kann auf die von Annette Schleinzer übersetzte Biografie von Gilles François und Bernard Pitaud zurückgreifen, 2014 im Verlag Nouvelle Cité in Bruyères-le-Châtel erschienen. Warum der Verlag Neue Stadt den Titel „Madeleine Delbrêl. Die Biografie“ gewählt hat, ist nicht einsichtig, der französische Titel „Madeleine Delbrêl, poète, assistante sociale et mystique“ ist sicher aussagekräftiger und relativiert nicht die vorausgegangenen biografischen Zugänge, wie sie in Frankreich von Christine de Boismarin oder in Deutschland von Annette Schleinzer vorgelegt worden sind. Gilles François ist Postulator im Seligsprechungsverfahren von Madeleine Delbrêl, die Schwerpunkte, die die Biografie setzt, sind von dort her orientiert. Darum tut es gut, neben dieser Biografie immer wieder zu den erfrischenden Texten von Madeleine Delbrêl selbst und den Impulsen von Annette Schleinzer zurückzugreifen, die das Prophetische und „Unangepasste“ von Delbrêl herausstellen. Nachfolge Christi und Heiligkeit wachsen auf den alltäglichen Wegen der Welt. Das 2. Vatikanische Konzil hat mit seinem neuen Blick auf die Laien herausgestellt, dass Evangelisierung Aufgabe aller ist; was dies konkret bedeutet, führen uns die vorliegenden Publikationen zur Biografie, Mystik und Poesie Madeleine Delbrêls vor Augen.

Margit Eckholt

 

Bröckling, Ulrich: Postheroische Helden. Ein Zeitbild. Berlin: Suhrkamp 2020. 277 S. Gb. 25,–.

In diesem faszinierenden, eher essayistischen als wissenschaftlichen, aber dennoch wissenschaftlich höchst fundierten Buch beschäftigt sich der Freiburger Soziologe mit dem Heldentypos, wie er in der Geschichte vielfältig sich ausbildete und heute „postheroisch“ zwar nicht überwunden, aber gebrochen und – wiederum äußerst vielfältig – transformiert wird. Dabei macht Bröckling keinen Hehl daraus, dass ihm Helden suspekt sind und er sie letztlich ablehnt: „zu viel Pathos, zu viel Männlichkeitsausdünstungen, zu viel moralischer Zeigefinger, zu viel Selbstüberwindung, zu viel Totenkult“ (17).

„Held“ ist nicht eindeutig bestimmbar, aber Elemente des Heroischen kann man aufzeigen: Der Held ist exzeptionell – er ragt heraus, leitet daraus einen Machtanspruch ab, aber erst die Verehrung macht ihn zum Helden. Grenzen überschreitet er, solche der normalen Leistungsfähigkeit, aber auch Regeln und Ordnungen. Weil er kämpft, sich opfernd, bis zum Umfallen, lebt er in Agonalität. Meist ist er ein Mann, bewundert von Frauen. Er ist als Einzelner präsent, ein Mann der Tat: Er triumphiert – oder er verliert tragisch; beides macht ihn zum Helden. Humor oder gar Ironie pflegt er nicht; sehr ernst appelliert er an Affekte, er berührt über moralische Urteile. Er stellt einen Mythos an den Ursprung, stützt sich auf ein Heldennarrativ, inszeniert sich ästhetisch.

Bröckling geht die philosophische und politische Geschichte des Heldentums durch: bei Hegel, im Sozialismus, im Nationalsozialismus… Nach 1945 erodieren die Männlichkeitsideale, und die Demokratie will keine Helden mehr. Das Ethos der Ehre wird durch das Ethos des Nutzens abgelöst. Nukleare oder Drohnen-Kriegstechnik braucht keine Soldatenhelden mehr. Doch gibt es im postheroischen Zeitalter neue Heroismen: Etwa muss der moderne Manager heroisch durchhalten und zugleich sich postheroisch durchhangeln; gefragt ist er jedoch weniger als Individuum denn als Serienfabrikant.

Postheroische Helden sind: Alltagshelden, die als gewöhnliche Menschen in einer Katastrophe außergewöhnliche Hilfe leisten – jeder kann das, auch Frauen, freiwillig und aus einem moralischen Impuls heraus. Sporthelden sind ungefährlich, sie interessieren nur in der Freizeit, aus der Distanz, spielerisch. Superhelden wie Batman sind fiktional, überhöht, perfekt durchgestylt. Der Rechtspopulismus kreiert neue Helden, identifiziert mit dem „Volkswillen“, gegen das Establishment, ressentimentgeladen, rüde gegen Moral und Gesetz verstoßend, beleidigend, gewalttätig. Greta Thunberg und Carola Rackete sind rebellische Gegenheldinnen, massenmedial propagiert – aber wie effizient?

Am Ende will Bröckling das Heroische „kaputtdenken“: Im Wir der Verehrer führe es nur zu einem personifizierten Gruppenegoismus; es simplifiziere die komplexe Realität; es sei ein Egotrip narzisstischer Heldenaspiranten; es personalisiere und würde daher entpolitisieren; es instrumentalisiere Affekte und würde damit emotional erpressen; es sei eine bloße Herrschaftstechnologie. Dabei ist Bröckling klug genug, auch sein „Kaputtdenken“ nochmals als mögliches Heldenwerk zu kritisieren.

Darf ich ein Defizit dieses anspruchsvoll, aber hervorragend geschriebenen Buches anmerken? Religiöse Helden werden übergangen: Die theologische Überhöhung mythischer Gründerfiguren und mancher Heiliger, das kirchenpolitisch instrumentalisierte Heldentum großer alter Männer...; dies kritisch zu reflektieren, würde die Thematik bedeutsam erweitern.

Stefan Kiechle SJ

 

Bregman, Rutger: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Hamburg: Rowohlt 2020. 480 S. Gb. 24,–.

Wie kommt es, dass ein junger Schriftsteller ein Buch mit dem Titel „Im Grunde gut“ schreibt und auf 400 Seiten die Behauptung ausbreitet: Der Mensch ist keine zutiefst verdorbene Spezies, sondern er will eigentlich das Gute? Eine der Thesen des niederländischen Historikers Rutger Bregman: „Das Böse ist stärker als das Gute, aber das Gute ist viel häufiger“.

Bregman stellt zunächst die beiden Philosophen Thomas Hobbes und Jean Jaques Rousseau gegenüber. Der eine macht die Erfahrung, dass der Mensch im Grunde ein egoistisches Geschöpf ist, dem es nur auf den eigenen Nutzen ankommt. Darum – so Hobbes – habe der Mensch im Lauf der Geschichte eine Zivilisation geschaffen, sozusagen als Notwehrmaßnahme gegen sich selbst. Rousseau vertritt den entgegengesetzten Ansatz: Der Mensch war in seiner Frühgeschichte als Jäger und Sammler frei und solidarisch, alles gehörte allen, der Sinn für das Gemeinsame überwog die Privatinteressen. Das Übel kam durch die Sesshaftwerdung des Menschen. Der Land bebauende Mensch beansprucht Eigentum und verteidigt es. Bregman ist ein Rousseau-Anhänger. Seine These: Der Mensch hat es in der Geschichte nicht aufgrund von Eigennutz, Machtstreben und Rücksichtslosigkeit so weit gebracht, seine „Karriere“ ist vielmehr die Folge seiner Grundtendenz zu Freundlichkeit und Solidarität.

Zwei Fragen stellen sich. Erstens: wie kommt es, dass die negativen Nachrichten wesentlich dominanter sind als die positiven? Der Grund ist nach den Ergebnissen der Evolutionsbiologie darin zu sehen, dass in unseren Anlagen ein ausgeprägtes Angst-Warnsystem steckt. Dieses ist zum Überleben notwendig. Die Negativerfahrungen, etwa Bedrohungen durch Naturgewalten oder andere Lebewesen, prägen sich tief ins kollektive Gedächtnis ein, um uns für künftige Gefahren zu sensibilisieren und im Notfall auf Flucht oder Kampf zu schalten.

Zweitens: Wie kann es – wenn der Mensch doch im Grunde gut ist – so gewaltige Humankatastrophen wie den Nationalsozialismus, die Weltkriege oder die Killing Fields in Kambodscha geben? Hier finde ich die Argumentation Bregmans nur teilweise überzeugend. Eine seiner Antworten: Bei aller Gutmütigkeit ist der Mensch vor allem ein „Herdentier“ und damit ein notorischer Mitläufer. Es ist die Haltung:  „Wenn es alle so machen, dann kann ich nicht anders.“ Oder: „Ein anderer hat bestimmt schon die Polizei angerufen.“ Die Wurzelsünde ist also nicht die Bosheit, sondern die Feigheit.

Das Buch endet mit zehn Lebensregeln, die animieren, dem Guten in uns mehr Vertrauen und mehr Spielraum zu schenken. Eine hat mich am meisten überzeugt: „Oute dich, schäme dich nicht für das Gute“. Ganz nach dem Gebot Jesu: „Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter“ (Mt 5,15).

Helmut Schlegel

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