Hilpert, Konrad: Wiedergelesen. Bücher einer Generation – Fünfzig Jahre später.
Baden-Baden: Academia 2020. 153 S. Kt. 29,–.
Den Anstoß zum Schreiben dieses Buches nennt Konrad Hilpert, seit 2013 emeritierter Moraltheologe der Universität München, „ziemlich banal“: Beim Sichten seiner Bibliothek fielen ihm Bücher in die Hände, die ihm persönlich einst viel bedeuteten. Es waren Werke, die in den 1970er-Jahren en vogue waren und die akademische Diskussion beherrschten. Die ausgewählten zwölf Bücher waren für den Verfasser und die Angehörigen der 1968er-Generation von nachhaltiger Wirkung. Das studentische Milieu Hilperts, der seit 1966 in Freiburg Philosophie und Katholische Theologie studierte, spielte für die Rezeption dieser Bücher eine wichtige Rolle. Die wiedergelesenen Werke betrafen die großen Themen der Theologie – sie wurden als Überschriften gewählt. Die Hälfte der Bücher stammt von Theologen. Außer „Ich und Du“ von Martin Buber (1923/1958) erschienen sie zwischen 1962 und 1972.
Buber kannte der Theologiestudent v.a. als Übersetzer der hebräischen Bibel. Der Titel „Ich und Du“ war „Chiffre für eine ganze philosophische Richtung“ (14). Die Relecture könne einen Impuls für die Wahrnehmung personaler Bezüge geben. Das Buch sei „ein Solitär von Text […] eigenwillig in der Sprache“ (20). Dass der Theologe Richard Egenter sich mit „Kitsch und Christenleben“ (1962) befasste, faszinierte Hilpert – er habe mit seiner „Schutträumung“ dem kirchlichen Leben zu Wahrhaftigkeit verholfen. Das Werk von Bernhard Welte „Auf der Spur des Ewigen“ (1965) überzeugte durch den Reichtum des Denkens und das kritische Selbstverständnis von Theologie. Vítezslav Gardavskýs „Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus“ (1968) ist ein politisches Buch. Es konfrontiert das Erbe des Christentums mit dem „Aufbrechen des dogmatischen und militanten Atheismus“ (50) und wirbt für eine offene Theologie. In Harvey Cox‘ „Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe“ (1970) geht es um den Verlust von Festlichkeit und Fantasie und deren Erneuerung aus theologischer Sicht. „Strukturen der Moral. Untersuchungen zur Anthropologie und Genealogie moralischer Verhaltensweisen“ (²1970) von Dieter Wyss handelt von den evolutionären Grundlagen der Moral. Das Werk eines Naturwissenschaftlers und Mediziners sei einst viel zitiert worden, heute aber vergessen. Am Ende der wiedergelesenen Bücher steht „Zur Theologie der Welt“ (1968) von Johann Baptist Metz. „Welt“ bedeutet „Öffnung“, „Aufbruch“ und Modernisierung der Gesellschaft, „Politisch“ heißt hier Entprivatisierung des Glaubens.
Die Werke von Arnold Gehlen (Moral und Hypermoral, 1969), Theodor W. Adorno (Minima Moralia, 1970), Erich Fromm (Die Kunst des Liebens, 1972), Alexander und Margarete Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern, 1970) und Herbert Marcuse (Der eindimensionale Mensch, 1967) gehören zu den wichtigsten Schriften um 1970. Der Verfasser hat sich kritisch mit ihnen auseinandergesetzt.
Der Band dürfte für Leser, die vor 50 Jahren Theologie studierten, aber auch für jüngere Zeitgenossen mit Sensorium für Geschichte eine erhellende Lektüre bieten.
Gerhard Sauder
Rader SJ, Matthäus: Drama de Divo Cassiano. Drama über den heiligen Cassian.
Hg., übers. u. komm. von Andreas Abele. Heidelberg: Winter 2021. 236 S. Gb. 39,–.
Das Schultheater hatte seinen festen Platz im Jesuitengymnasium der Frühen Neuzeit. Durch regelmäßige Aufführungen sollten sich die Schüler ein gewandtes Auftreten und fließende Beherrschung des Lateinischen aneignen – ja, die Stücke waren durchweg in dieser Sprache gehalten. Und trotzdem waren die Aufführungen eine Attraktion auch für die Bevölkerung, die durch deutsche Inhaltsangaben immerhin orientiert war darüber, was auf der Bühne geschah. Ein Teil des Spektakels dürfte auch ohne Sprachkenntnisse gewirkt haben; man scheute keinen Aufwand für Kostüme, Musik und Bühnentechnik, und manche typischen Szenen wie die fast in jedem Stück vorkommenden Prügeleien waren unmittelbar verständlich.
Mindestens eine größere Aufführung pro Schuljahr war die Regel. Dennoch sind verhältnismäßig wenige Stücke erhalten. Es war eben einfach Gebrauchsliteratur. Jedes Jahr wurde durch einen der Lehrer ein neues Drama verfasst, und das meiste wanderte nach der Aufführung ins Altpapier. Wenn das eine oder andere doch erhalten ist, kann das verschiedene Gründe haben, im Fall des Divus Cassianus war es offenbar so, dass das 1594 in München dargebotene Stück ein solcher Erfolg war, dass man es drei Jahre später in Regensburg noch einmal aufführte. Die erhaltene Handschrift (Studienbibliothek Dillingen, Cod. Dil. XV 237) geht auf diese Darbietung zurück.
Das Drama behandelt den spätantiken Märtyrer Cassian, dessen Schicksal sich fürs Schultheater besonders gut eignet, denn er war von Beruf Lehrer. Matthäus Rader (um 1560-1635), heute vor allem bekannt für seine Bavaria sancta, war selbst mit Leib und Seele Schulmann, und so wundert es nicht, dass fast die ganze erste Hälfte des Stücks mit Szenen aus dem Schulleben bestritten wird. Obwohl diese Schule einen Heiligen zum Leiter hat, geht es dort alles andere als heilig zu. So bekommt man es mit Schulschwänzern und ihren Tricks zu tun, ein Bauerntölpel blamiert sich tüchtig, und das Liviuskapitel aus der letzten Lateinstunde wird von den Schülern leibhaftig nachgespielt, was natürlich nichts anderes ist als ein Vorwand für eine prächtige Rauferei. Der arme Cassian hat alle Hände voll zu tun, um in diesem Haufen Rabauken einigermaßen Ordnung zu halten. Und er macht sich damit nicht beliebt bei seinen Schülern. Als schließlich das Dekret zur Christenverfolgung ergeht, folgt die grausame Rache: Mit ihren Griffeln und Federmessern martern die Kinder den Lehrer zu Tode. Das Theaterblut dürfte in Strömen geflossen sein.
Abele bietet das Stück mit einer fast immer zuverlässigen deutschen Übersetzung und einem Kommentar, der auch für Leser ohne Fachkenntnisse die Anspielungen auf die antike Literatur und die Abweichungen vom heutigen Schullatein verständlich macht. Als Philologe bedauert man ein wenig, dass er die frühneuzeitliche Orthografie der Handschrift nicht wiedergibt und dass er sich kaum mit deren vielen offensichtlichen Fehlern auseinandersetzt. Für eine Begegnung mit dem Jesuitentheater ist seine Edition aber ein guter Einstieg.
Veronika Lukas
Stadler, Arnold: Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2021. 240 S. Gb. 23,–.
Heimweh und Fernweh sind die Grundtöne von Arnold Stadlers Erzählmelodie. Die Erinnerung weist zurück in die Kindheit, die Sehnsucht reist in die sogenannte weite Welt. Hin- und hergerissen dazwischen ist Stadlers Erzähler, der immer noch „Ich“ sagen kann und den Grundriss seines Weltschmerzes mit Ironie bestens abzufedern versteht. Diesmal macht sich das Stadler-Ich auf eine Reise nach Afrika, zum Kilimandscharo.
Stadler schreibt eine Geschichte vom Sehen, das vor-, rück- und aufwärts gerichtet ist. Betrachtet werden Reisewünsche, Kolonialgeschichten – und das Wunder der Wahrnehmung der Welt. Der Erzähler will den Berg „im Original“ sehen, von dem er ein Kindheitsbild mitträgt. Im Speisezimmer seines Elternhauses hing ein Bild, „Der Kibo von Madschame aus“. Das Ölgemälde aus dem Jahr 1929 stammt von dem Stuttgarter Maler Fritz Lang und zeigt eine Dattelpalme im Vordergrund, die den schneebedeckten Berggipfel im Hintergrund überragt. Das Bild ist auf dem Umschlag des Romans abgebildet.
Auslöser der Afrikareise war der Auftrag einer Hamburger Wochenzeitung, für ein Sondermagazin der Internationalen Tourismusmesse in Berlin einen Reisebericht zu einem Sehnsuchtsziel zu schreiben. Stadler wäre nicht Stadler, hätte er daraus keinen fabelhaften Heim- und Fernwehroman gemacht. Denn ihm liegt nichts an schwindelfreier Heldenreise und exotischem Abenteuerroman.
Was soll sein Ich-Erzähler schon tun, wenn die Holzwege seiner Kindheit zugeteert, die Kühe in den Städten und Bäuchen der Menschen verschwunden sind, wenn aus der Flugangst Flugscham geworden ist und der Imperialismus der Globalisierung Platz gemacht hat. Und so packt er, ein postmoderner Don Quichotte, am Dreikönigstag 2017 zwei teure Koffer. Im Flieger vergleicht er seinen ökologischen Fußabdruck mit dem der mitreisenden Vertreter der Welternährungskonferenz, die nur für zwei Tage, nicht für sechs wie er, nach Tansania fliegen. Dort übernachtet er in Lodges mit Bergblick, einmal in einem Zelt, fürchtet sich vor wilden Tieren, lässt sich von dem einheimischen Freddy chauffieren und besucht das Museum von Arusha.
Was diese Tour de Force so lesenswert macht, sind die Geschichten, die dahinter stecken. Es sind Stadlers eigene Kindheitssehnsüchte, Lebens- und Lektüreerfahrungen, gespiegelt in der deutschen Kolonialgeschichte. Freddys leichter städtischer Hochmut wird mit einem früheren Landratsbesuch in Stadlers Schule verglichen, ein Basler Medizinerpaar mit namibischer Farm und Safarimobil versteht nicht, dass er den Berg nur betrachten, nicht erklimmen möchte. Ein alter Nazi, der in den 1960er-Jahren auf der Momellafarm wohnte, kommt in den Blick, und zu guter Letzt wird der Smoking des Erzählers von einem Affen geklaut. Sechs Tage dauert seine Reise, am siebten fliegt er zurück. Sein Werk ist getan, er hat zum Berg hinaufgeschaut und einen Schimmer davon bekommen, wie schön das Nichtvergängliche sein kann. Man kann das religiös musikalisch lesen, muss es aber nicht. Hochmusikalisch ist der Roman jedenfalls geschrieben, mit einem Präludium, in dem alle Leitmotive bereits anklingen. Arnold Stadler erzählt ein Sehnsuchtsbild seines Lebens: eine postkoloniale Afrikareise, ganz heiter, ironisch, nach innen gewandt und mit dem Blick nach oben. Weil die schönste Richtung für ihn einfach die Himmelsrichtung ist.
Michael Braun