In den Zeiten pandemischer Sorge und Angst sucht Johanna die berühmte stoische Gelassenheit eines Seneca. Denn in der Corona-Pandemie hat die philosophisch gebildete Journalistin ihre Mutter verloren, sie konnte nicht einmal von ihr Abschied nehmen. Jetzt sucht sie Trost. Johanna ist die Hauptperson in dem gleichnamigen Brief- und Postkartenroman von Christiane Scherer alias Thea Dorn (Trost. Briefe an Max. München 2021). Ja, es ist wohl wirklich ein „abenteuerlicher Gedankensprung“, mit den Stoikern zu meinen, „Trost liege darin, dass etwas bleibt, während noch größerer Trost darin liege zu erkennen, dass am Schluss gar nichts bleibt“ (139). Aber ist es tatsächlich tröstlich, das Leben als einen „Lehrgang in schrittweiser Kapitulation“ (142) vor seinem unvermeidlichen, traurigen Ende verstehen zu lernen?
Dass neben den Künstlern und Schriftstellerinnen auch den Christen und ihren Kirchen aufgetragen ist zu trösten, ist in der Pandemie mehr als deutlich geworden. Oft genug aber reklamierte die Gesellschaft im Blick auf die Kirchen: Trost? Fehlanzeige. Die Kirchen, das war der Vorwurf, hätten nichts Tröstliches zu sagen gehabt. Viele Seelsorgerinnen und Seelsorger haben sich in der Pandemie engagiert und waren nah bei den Menschen – wie sonst auch. War es aber tröstlich, dass die Verantwortlichen in den Pfarreien und Gemeinden gute Hygienekonzepte entwickelt und sich an die Abstandsregeln gehalten haben? Das ist ihre Bürgerpflicht. In den öffentlichen Debatten um das richtige Handeln in dieser großen Krise ist oft ein Konsens erzielt worden – auch unter Beteiligung christlicher Ethikerinnen und Ethiker: wer zuerst beatmet und geimpft werden muss, wann Kinder wieder zur Schule dürfen, wie Impfstoffe international gerecht verteilt werden. Ist das schon tröstlich? Auf die Herstellung einer auch ethisch belastbaren Übereinkunft zu diesen Fragen ist eine demokratische Gesellschaft doch verpflichtet, unter Beteiligung von Expertinnen und Experten aus Wissenschaften, Religionen und Weltanschauungen.
Um welchen Trost also geht es dann? Im Zugehen auf die zentrale Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen der Corona-Pandemie auf Einladung des Bundespräsidenten hat der Berliner Philosoph und Kulturwissenschaftler Thomas Macho vom Zusammenhang zwischen Tod und Egalität gesprochen. Wir alle müssen sterben, „niemand muss allein zum Schafott“, so hat es Macho schon 2018 in einem Interview mit der „Zeit“ formuliert. Deshalb sei der Karfreitag für ihn besonders tröstlich als Tag der Solidarität in Tod und Leid. Dieser „Karfreitagstrost“ führt auf eine erste Spur „glaubenden Trosts“ angesichts der Corona-Pandemie. Das Evangelium behauptet, Gott dehne diese Egalität im Sterben des Jesus von Nazareth am Kreuz auf sich selbst aus, er solidarisiere sich im Tod mit diesem konkreten Menschen und damit mit jedem Menschen. Ja, das wäre tatsächlich ein Trost, wenn das zu glauben wäre.
Doch schon für Jesus selbst ist das mehr als fragwürdig. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so zweifelt er sterbend diese Solidarität an. Wie ließe sich dieser Schrei heute nicht verstehen angesichts seines Todes am Kreuz und der vielen einsamen Tode in Pandemiezeiten und auch sonst. Die Wut gegen den Karfreitagstrost hört sich in Johannas Worten bei Thea Dorn so an: „Schluss! Aus!!!! Ich lasse mir meinen Zorn nicht ausreden!!!! Weißt du auch warum? WEIL ER DAS BESTE AN MIR IST!!!!!!!“ (152). Auch Johanna also spürt, dass der Karfreitags- letztlich ein schwacher Trost ist. Zu wenig vielleicht als spürbarer Trost der Christinnen und Christen in diesen Zeiten?
Die Protagonistin, die in Thea Dorns Roman so wütend wie hilflos vor dem Tod ihrer Mutter steht, ruft schließlich den Aufstand aus gegen die „Thanatophobie“, also gegen die Angst vor dem Tod: „Weil der Tod uns regiert, sobald wir kein anderes Ziel außer der Todesbekämpfung mehr kennen“ (160). Und aus der Thanatophobie wird eine „Thanatokratie“, wenn alle gesellschaftliche und wirtschaftliche Kraft aufgewendet wird, um den Tod durch das Virus zu besiegen, davon ist Johanna überzeugt (160). Ist es ungebührlich zu konstatieren, dass die Pandemie uns mit der allabendlichen, untröstlichen Aufzählung der Menschen, die an und mit Corona gestorben sind, genau eine solche Thanatokratie vor Augen geführt hat? Eine Thanatokratie, der es in dem berechtigten und so notwendigen Kampf gegen die Pandemie und auf der Suche nach dem Impfstoff um medizinische Heilung, aber nicht um das Heil der Menschen geht. Das besteht doch darin, mit Leid und Tod heil, also versöhnt zu leben. „Von dem Bleiernen, das auf uns lastet, wird uns kein Impfstoff, keine Genschere, keine Nanotechnologie befreien“ (168). Die Angst vor dem Tod und ihre technologischen Auswüchse hoffnungsvoll zu beseitigen – das hätte tatsächlich nicht nur etwas Tröstliches. Das wäre eine Erlösung.
„Ich weiß jetzt, dass sich das Leben nur umarmen lässt, wenn ich bereit bin, auch den Tod zu umarmen“ (161). Jetzt, ganz am Ende der Trostsuche, wäre die Gelegenheit, Johanna von der tröstlichen, erlösenden Hoffnung der Christen Zeugnis zu geben. Der Lebendige, Gott selbst hat den Tod umarmt, indem er ihn gestorben ist – und ihm dadurch den Stachel genommen. Der einzige Trost der Christinnen und Christen ist die Hoffnung, dass auch mit dem Corona-Tod nicht alles aus ist. Der einzige Trost heißt Ostern, Ostern pro nobis. Christen sind erlöst, brauchen vor dem Tod keine Angst zu haben, sterben mit Christus und leben mit ihm. „Die Kunst des Sterbens kann aber nur erlernen, wer zuvor bereit ist, die Kunst des Tröstens und die Kunst des Sich-Trösten-Lassens zu erlernen“, schreibt die Journalistin Johanna auf den letzten Zeilen ihres Briefes. Den Trost, den die Gesellschaft in der Pandemie sucht, könnten die Christinnen und Christen geben, wenn sie mit ihrem eigenen Dabeisein bezeugen, dass der österlich Lebendige da ist an den dunkelsten Stellen der Welt, auch in der Pandemie. Und wenn sie sich selbst noch trösten ließen in eigener Finsternis.