Ist Schulqualität evaluierbar?

An Deutschlands Schulen wird andauernd herumgemessen und -gebastelt, um dann weiter zu streiten. Das ist inzwischen für alle Beteiligten ziemlich nervend. Der Eindruck verfestigt sich, dass sich im Kern nichts bewegt. Vielleicht streiten wir zu viel über Ergebnisse von Evaluationen, nicht aber über deren Prämissen.

Bevor ich gleich in den Chor der Kritiker über Pisa & Co. einstimme, möchte ich vorausschicken: Sie haben Debatten angestoßen und die Arbeit an unseren Schulen wohltuend verändert. Auch die Schule, zu der ich als Jugendlicher ging, behauptete, wie so viele, besonders gut zu sein. Festgemacht wurde das am Durchschnittsergebnis der Absolventen. Das sagt über die Qualität der pädagogischen Arbeit aber herzlich wenig. Bis heute behandeln zwar Presse und manche Eltern den guten „Abiturschnitt“ von Schulen noch immer als entscheidendes Indiz, wo der Bildungsgral zu finden ist, der Kindern eine erfolgreiche Karriere eröffnet. Denen aber, die es wissen wollen, haben die letzten Jahrzehnte die Augen dafür geöffnet, wie sehr schulischer Erfolg immer noch abhängt vom Bildungsgrad der Eltern und deren Möglichkeiten, ihre Kinder zu unterstützen. Als ich in die Oberstufe kam, hatten bereits erschreckend viele meiner Mitschüler die Anstalt verlassen. Qualität bestand nicht in dem Anspruch, allen Schülern gute Chancen auf Bildung zu eröffnen. Stattdessen richtete sich der Anspruch schulischer Exzellenz vielmehr an die jungen Leute: Sie wurden über den Erwartungsdruck von Eltern und schulischer Institution diszipliniert oder – gehässig gesagt – auf ein bestimmtes Modell von Leistungs- und Selbstoptimierungsideologie „dressiert“. Ausgestorben ist dieses zynische Modell von „Elitenbildung“ leider immer noch nicht.

Jede Evaluation beginnt bei der Definition der Ziele. Woran aber erkennen wir eine gute Schule? In einer repräsentativen, bundesweiten Befragung, die das Allensbach-Institut für das Zentrum für Ignatianische Pädagogik 2020 durchgeführt hat, gaben 61% der Befragten an, dass „Schulen zur Persönlichkeitsbildung beitragen sollten, da Kinder dort einen Großteil ihrer Zeit verbringen“. Und eine Mehrheit von 44% der Befragten fand, Persönlichkeitsbildung, also zu lernen, sein Leben als selbstständiger und verantwortungsbewusster Mensch zu gestalten, sei sogar eine Hauptaufgabe von Schule. 41% der Befragten dagegen waren der Meinung, die Schule solle primär Wissen und Fertigkeiten vermitteln. Was sagen uns diese Ergebnisse?

Sie zeigen: Eine stabile Mehrheit in Deutschland, auch über die Jahre stabil, erwartet von Schulen Persönlichkeitsbildung. Ebenso stabil ist der Eindruck, dass Schulen dieser Erwartung eher nicht nachkommen (wollen oder können?). Die Befragung zeigt auch: Wir haben keinen gesellschaftlichen Konsens über die Ziele von Schulbildung. Genau darüber täuscht aber die pompöse, öffentliche Vergabe von Zensuren an unsere Schulen seit Jahrzehnten hinweg: „Deutschlands Schulen stehen im weltweiten Leistungsvergleich nur noch auf Platz …“ Sie kennen das! Es wird die Aura verströmt, „Schulqualität“ messen zu können, angeblich objektiv, d.h. unabhängig von den persönlichen Erwartungen, und im Falle von PISA sogar weltweit, d.h. unabhängig vom kulturellen Kontext. Sollten aber Schulen in einer offenen Gesellschaft wirklich an denselben Qualitätskriterien, also Zielen, gemessen werden, die für die schulische Sozialisation in autoritären Staaten gelten? Natürlich nicht! Wo aber findet der Diskurs statt, welche Qualitätskriterien wir an unsere Bildung anlegen wollen? Ja, lässt sich in einer von Diversität geprägten Gesellschaft überhaupt noch ein Kanon an Zielen festlegen? Wenn nicht, dann müssten wir über allgemeinverbindliche Mindeststandards und über die Freiheit von Schulen reden, subsidiär für ihren sozialen und kulturellen Kontext Ziele zu definieren. Mein Eindruck: Das tun nicht wenige Schulen bereits erfolgreich. Vor allem dort, wo starke Leitungen oder freie Träger es ermöglichen. Und dann oft gegen den Widerstand von Staat und Bildungsverwaltungen, denen eine kulturelle Vielfalt im Schulsystem ein Dorn im Auge ist; und gegen die Schwerkraft der Überfüllung von Bildungsplänen, die wenig Raum lassen, um aus den Routinen des Abarbeitens auszusteigen, nach Zielen von Bildung zu fragen und die eigene Arbeit zu evaluieren.

Natürlich gehört zu guten Schulen guter Unterricht. Was aber sollte guter Unterricht erreichen? Relative Einigkeit herrscht darüber, dass Schulen bestimmte Fertigkeiten vermitteln sollten. Entsprechend gaben immerhin 71% der Befragten in der genannten Studie an, dass Schulen sich aus ihrer Sicht um die Vermittlung von Rechtschreibung und Grammatik mühten. Es ist verständlich, dass für Eltern, denen es um den sozialen Aufstieg ihrer Kinder geht, in der Schule Ausbildung im Zentrum steht, also die Förderung von Fertigkeiten, die für ein berufliches Fortkommen wichtig sind. Immerhin 50% der Eltern erwarten aber auch, dass junge Menschen in der Schule lernen, selbstständig zu denken. Nur erschreckende 20% der Befragten gaben aber an, dass sie erkennen können, dass Schulen sich auch darum bemühen. Braucht unser Land mit den Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht Menschen, die gelernt haben, sich unabhängig ein vernünftig begründetes Urteil zu bilden und Verantwortung zu übernehmen? Wo aber lernen junge Menschen das, wenn nicht an der Schule?

Nur, lässt sich messen, wie Menschen Denken lernen? Lesen z.B. beschreibt Jorge Luis Borges als Denken mit fremden Gehirnen. Dieser Anspruch entlarvt die ganze Armseligkeit eines primär funktionalistischen Blicks auf Lesen und Denken, der allein die Lesekompetenzen zum Qualitätskriterium macht, die sich in Vergleichsprüfungen empirisch überprüfen lassen. Empirie schadet unseren Qualitätsdebatten nicht. Geboten wäre aber ein wenig Demut. Messbar sind Techniken oder Fertigkeiten, die Grundlage von Bildung sind, mehr nicht. Zu den glücklichen Bildungserlebnissen meiner Schulzeit gehört der Unterricht eines Deutschlehrers, der mir eine Idee davon vermittelte, was es heißt, selbstständig zu denken. Dass auch bei ihm Mitschüler lieber die „Bravo“ lasen, hat ihn frustriert. Es öffnet den Blick für eine weitere Dimension der Komplexität: Im Kern beruht Bildung auf der Freiheit des Individuums, sich bilden zu wollen. Deswegen können Auskunft darüber, ob die Förderung von Bildung an Schulen gelingt, primär die geben, um die es gehen sollte: Schülerinnen und Schüler. Und auch sie können es in fairer Weise oft erst mit Abstand. Deswegen hat das Zentrum für Ignatianische Pädagogik, als es gemeinsam mit dem Sinus-Institut ein Werkzeug entwickelte, mit dem Schulen ihre Arbeit im Blick auf die Förderung junger Menschen als Person evaluieren können, nicht zuletzt das Urteil ehemaliger Schülerinnen und Schüler einbezogen.

Die Entwicklung unserer Schulen ist getrieben von ökonomischen Interessen und der Sorge um die Leistungsfähigkeit der „Bildungsnation“ Deutschland. Deswegen wird die Qualität von Schulen beschränkt auf funktionalistische Kriterien gesehen. Die Folge: Es wurde gar nicht wahrgenommen, was die durch die Corona-Pandemie verursachten Schulschließungen für das soziale Leben, für die Entfaltung und die seelische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern bedeuteten. Ständig reduzierte sich die ganze Debatte auf Lernrückstände und Betreuungsfragen. Am Ende zahlen den menschlichen Preis für die Eindimensionalität unseres Blicks auf Bildung die Kinder und Jugendlichen.

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