Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871, ihr Stellenwert und ihre Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte, wurde in diesem Jahr aus Anlass des 150-jährigen Gedenkens unter Historikern, Politologen und Journalisten sehr kontrovers diskutiert. Es geht dabei einmal um die Frage, ob und in welchem Sinne der „Weg in die Katastrophe“ 1933-1945 schon hier vorgezeichnet war. Sehr unterschiedlich beantwortet wird die Frage, wieweit die übliche Redeweise vom „militaristischen“ und obrigkeitshörigen Charakter des Kaiserreiches im historischen Vergleich als Gesamturteil gültig ist. Diejenigen, welche die „modernisierenden“ Elemente des Werkes Bismarcks unterstreichen, heben das allgemeine und gleiche Wahlrecht aller Männer für den Reichstag hervor, das es damals auch in Großbritannien noch nicht gab (ein Frauenwahlrecht existierte noch in keinem Staat). Auf der anderen Seite bestand keine Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament; nur Gesetzgebung war nicht am Reichstag vorbei möglich.
Am gravierendsten war, dass die Reichsgründung 1871 nicht ohne Feindbild auskam. Dies war zunächst der besiegte „Erbfeind“ Frankreich, dessen Demütigung schon durch die Kaiserproklamation Wilhelms I. im Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871 engstens mit der Reichsgründung verquickt war und sich durch die jährlichen Sedansfeiern am 2. September ständig wiederholte. Es setzte sich fort im Kampf Bismarcks gegen die inneren „Reichsfeinde“, erst im Kulturkampf gegen die „Ultramontanen“, dann gegen die Sozialisten. Nach dem französischen militärischen Größenwahn Napoleons III. müsse der päpstliche infallibilistische Größenwahn Pius IX. fallen, hieß es in Kreisen der Gegner des Ersten Vatikanischen Konzils, die ihre Opposition gegen die dort definierte päpstliche Unfehlbarkeit mit dem durch den Sieg über Frankreich hochgesteigerten Nationalgefühl verbanden.1 Und dass die innerdeutsche Spaltung keineswegs überwunden war und die Reichsgründung in Süddeutschland, vor allem in Bayern, durchaus nicht so begeistert aufgenommen wurde wie die zeitgenössische Propaganda glauben machen wollte, geht gerade aus einer neueren Publikation hervor.2 Wie war die Einstellung namhafter katholischer Stimmen zur Reichsgründung? Die Position der Katholiken, immerhin eines Drittels der Reichsbevölkerung, ist sicher sehr vielfältig, in Norddeutschland positiver als im Süden, speziell in Bayern, wo in der Patriotenpartei eher bayrisches Nationalbewusstsein dominierte.
Es lohnt sich jedoch, die Stimmen namhafter Vertreter des damaligen Katholizismus in den Blick zu nehmen. Dies ist einmal der Mainzer Bischof Ketteler, durch seine Schriften in den 1860er- und -70er-Jahren viel beachteter Sprecher des Katholizismus in politischen und sozialen Fragen,3 dann die neugegründete Zentrumspartei als parlamentarische Vertretung der deutschen Katholiken. Die Stellungnahme beider läuft auf ein kritisches Ja zum neuen Reich hinaus, wobei gefährliche Entwicklungen scharfsinnig gesehen werden und die positiven Antworten, wenngleich manchmal vergangenen politischen und gesellschaftlichen Modellen verhaftet, in einzelnen Fragen auch wieder überraschend hellsichtig erscheinen.
1866: Kritisches Ja zur
kleindeutsch-preußischen Lösung.
Die überwiegende Einstellung der Katholiken zur Frage der deutschen Einheit war schon in der Nationalversammlung 1848/49 und dann bis 1866 die „großdeutsche Lösung“: ein Deutschland mit Einschluss Österreichs und Wien als Hauptstadt unter einem Kaiser aus dem Hause Habsburg. Dies war durch die emotionale Bindung an das vergangene Heilige Römische Reich, aber auch durch den konfessionellen Proporz bedingt: Bei einem Deutschland, welches das „cisleithanische“ Österreich (mitsamt Böhmen-Mähren) einschloss, machten die Katholiken 53-55 Prozent aus und nicht bloß ein Drittel wie in einem kleindeutschen Reich. Entsprechend bedeutete der Sieg Preußens über Österreich im Krieg von 1866, noch dazu vielfach als Sieg des Protestantismus über den Katholizismus gefeiert, für die meisten Katholiken zumal außerhalb Preußens einen schweren Schlag. Auch Kettelers Herz war bei Österreich gewesen. Deprimiert schrieb er damals an den österreichischen Kaiser Franz Joseph I., dies sei die verhängnisvolle Krönung des Werkes Friedrichs des Großen: „...damit ist alles, was uns noch an das alte deutsche Reich erinnern konnte, zerstört. Ein Deutschland ohne Österreich und ohne das Kaiserhaus ist nicht mehr Deutschland“4.
Dennoch war er es, der durch seine Schrift „Deutschland nach dem Kriege von 1866“5 die deutschen Katholiken davor bewahrte, nun nur dem Verlorenen nachzutrauern und sich in den Schmollwinkel des Ghettos zurückzuziehen. Stattdessen plädierte er für nüchterne Annahme der Führungsrolle Preußens und der klein-deutschen Lösung, die zwar nicht das Ideal sei, aber immer noch besser als gar nichts. Er geht alle anderen Lösungen durch, etwa eine Zweiteilung Deutschlands an der Maingrenze, wobei der Süden entweder unter Führung Österreichs steht oder als Südbund eine dritte Kraft bildet; und er zeigt auf, dass diese Modelle keine realistischen Lösungen sind.6 Aber diese Schrift war keine würdelose Verbeugung vor dem Erfolg. Er betont in ihr: Unrecht bleibt Unrecht und muss Unrecht genannt werden; sonst gilt, dass der Erfolg die Mittel heiligt. Und Preußen war für ihn in diesem Kriege im Unrecht; speziell die Annexionen Preußens, also des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen-Kassel, des Herzogtums Nassau, der Freien Stadt Frankfurt, bleiben Unrecht. Sie waren von Bismarck gegenüber König Wilhelm I. mit dem machiavellistischen Prinzip durchgesetzt worden: Man müsse einzelne Staaten total annektieren, um niemanden mehr zu haben, der auf Revanche sinnt, und die übrigen territorial schonen, um sie als Verbündete für morgen zu gewinnen.7
Aber auch menschliches Unrecht ist für Ketteler kein unabwendbares Fatum, welches notwendigerweise immer Böses muss gebären.8 Eine menschliche Ordnung, die aus der Sünde und dem Unrecht entsteht, ein Staat, der durch Rechtsverletzung und Unterdrückung aufgebaut wird, kann immer noch zum Recht hinfinden. Denn Gott kann auch Böses zum Guten wenden. Keine böse Tat fällt so aus Gottes Vorsehung heraus, dass nicht aus ihr auch Chancen wachsen könnten. „Wir sehen einen Weg voll innerer Kämpfe, voll der Schmach und des Verderbens vor uns; wir sehen aber auch noch Wege, die uns retten können“.9 „Möglich ist es, daß nach den Worten: Wer Wind sät, wird Sturm ernten, uns große Stürme in Deutschland und Europa bevorstehen; möglich ist es, daß wir welterschütternden Ereignissen entgegengehen. Wir können sie aber vielleicht auch noch abwenden, und es ist Pflicht eines Jeden, dazu nach Kräften mitzuwirken.“10
Dabei ist zu bedenken: Preußen war in den beiden Jahrzehnten vor dem Kulturkampf keineswegs einfach das Schreckbild der deutschen Katholiken. Das war auch das Land, wo die katholische Kirche durch die Verfassung von 1850 größere Freiheit hatte als in den kleineren deutschen Staaten, wo Ordensgemeinschaften bis zu den Jesuiten bedeutend weniger staatlichen Hemmnissen begegneten. Einigung Deutschlands unter Preußen: Das konnte auch Hoffnung erwecken, dass die Kirchenartikel der preußischen Verfassung von 1850, die die innere Selbstständigkeit der christlichen Kirchen verbürgten, auf das ganze zukünftige Deutsche Reich ausgedehnt wurden - eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Ketteler spricht hier von den Kirchenartikeln der preußischen Verfassung als „wahre Magna charta des religiösen Friedens für das religiös gemischte Deutschland“.11
Er sah also Chancen und positive Möglichkeiten in der neuen Situation, aber auch Gefahren und dunkle Wolken am Horizont. Und daher versäumte Ketteler nicht die Warnung vor Anbetung der Macht, des Erfolges, der historischen Effizienz, vor allem vor denen, die von einem „historischen Weltberuf Preußens“ träumten, etwa den Historikern Droysen oder Treitschke, für welche der historische Erfolg einen Auftrag der Vorsehung begründete, gegen den es dann keine ethischen Einwände mehr gab.12 „Wer weiß, welchen Weltberuf sich Rußland, welchen die nordamerikanischen Staaten sich einmal beilegen werden?”13 Und im Schlusskapitel heißt es: „Es steht am Himmel ein finsteres Gestirn, von dem es schwer zu sagen ist, ob es im Abnehmen oder Zunehmen begriffen ist; und ob es im ersteren Falle nur zeitweise abnimmt, um dann wieder sich mächtiger zu erheben und seinen verderblichen Einfluß auf die Welt zu üben. Dieses Gestirn ist die Vergötterung der Menschheit in der Form des Gott-Staates“.14
Schwierig war es insbesondere für die Katholiken in den von den preußischen Annexionen betroffenen Gebieten, besonders im Königreich Hannover, aber auch in Nassau, diese Wende zu Preußen mitzuvollziehen, die bischöflicherseits aus kirchenpolitischen Gründen befürwortet wurde, jedoch auch im Klerus Widerstände hervorrief.15 Hier ist auch zu bedenken, dass die Kirche in Preußen zwar institutionell mehr Freiheit hatte, die staatliche Personalpolitik aber in anderen mehrheitlich protestantischen Staaten wie Hannover oder Nassau konfessionell gerechter war.
Das Zentrum und das neue Reich:
universale Reichsidee und Grundrechte.
Die neugebildete Zentrumspartei (faktisch die Partei der Katholiken, wenngleich sie im Unterschied zu ihrer preußischen Vorläuferin den Untertitel „Katholische Fraktion“ durch „Verfassungspartei“ ersetzte) positionierte sich gleich Anfang 1871 in zwei Grundsatzdebatten in ihrer Haltung zum neuen Reich. Es waren die „Adressdebatte“ und die „Grundrechtsdebatte“.16 In beiden unterlag das Zentrum.
In der Adresse des Reichstages an den in Versailles neu proklamierten Kaiser Wilhelm I. hatten Bismarck und die Nationalliberalen geschickt eine anti-katholische Spitze hineingebracht. Es handelte sich um den auf den ersten Blick unverfänglichen Passus, dass das Deutsche Reich sich künftig jeder „Einmischung“ in das Leben anderer Völker enthalten werde. Dies richtete sich gegen jede auch diplomatische Intervention seitens des Papstes zwecks Wiedererwerb seines am 20. September 1870 verlorenen Kirchenstaats. Vergeblich schlug der Zentrumsabgeordnete August Reichensperger einen Gewaltverzichts-Passus vor, der nur eine militärische, nicht aber eine diplomatische Intervention ausschloss (Deutschland möge sich „im Bewusstsein der erprobten Macht“ jetzt nur noch Aufgaben des Friedens zuwenden). In dieser Debatte standen sich bald kleindeutsch-nationale und großdeutsch-universale Geschichtsauffassung und die entsprechenden Kaiser- und Reichsideen gegenüber. Dies hing wiederum mit dem „Sybel-Ficker-Streit“ und der Deutungshoheit über die mittelalterliche Kaisergeschichte zusammen.
Nach dem Bonner Historiker Heinrich von Sybel war die Italienpolitik der mittelalterlichen Kaiser ein grundlegender Fehler und letztlich Schuld am Zerfall des Reiches, weil sie von der primären Aufgabe der innenpolitischen Konsolidierung wegführte. Darauf stützten sich jetzt die Nationalliberalen: Die universalen Aufgaben und Bindungen des mittelalterlichen Kaisertums hätten gerade seinen Machtverlust und Niedergang bewirkt. Die Gegenposition vertrat der Innsbrucker Historiker Julius von Ficker; ihr entsprach die katholisch-großdeutsche Idee des Kaisertums, welche die universale Verpflichtung und die Schutzfunktion gegenüber dem Papsttum als integrale Aufgabe des Kaisertums ansah. Für das Zentrum aber hatte diese Debatte einschneidende Folgen. Sie bedeutete einmal, dass sein Einsatz für die Freiheit der Kirche in Deutschland eng verbunden war mit dem Engagement für die ungelöste „römische Frage“; und weiter trug sie wie kaum ein anderer Faktor dazu bei, dass es Bismarck gelang, die Partei in die „katholische Ecke“ zu schieben und innenpolitisch zu isolieren.
Dies wiederum trug mit dazu bei, dass eine andere, aus heutiger Sicht weitsichtige Initiative des Zentrums ebenfalls scheiterte. Bei der Debatte über die Verfassung des neuen Reiches forderte die Zentrumspartei einen Katalog der Grundrechte als Einleitung. Sicher ging es dabei ganz wesentlich um die innere Freiheit der Kirchen, für welche die einschlägigen Artikel 15 und 16 der preußischen Verfassung von 1850 in die Reichsverfassung übernommen werden sollten. Aber es ging nicht nur um spezifisch kirchlich-katholische Anliegen. Denn der Einsatz für die Kirchenfreiheit war eingebettet in die Forderung einer allgemeinen Garantie von Freiheitsrechten gegen die Staatsomnipotenz: Dazu gehörte Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und schließlich Religionsfreiheit. Diese Forderung wurde jedoch von den Liberalen abgelehnt. Der Nationalliberale und bekannte Historiker der national-deutschen Geschichtsschreibung Treitschke tat dies mit dem bezeichnenden Argument, der genügende Schutz der Freiheit liege schon in der Herrschaft der Mehrheit im demokratisch gewählten Reichstag. Der Historiker Michael Stürmer schreibt 1983 dazu in der Reihe des Siedler-Verlags über Deutsche Geschichte: „Der Reichstag hat damals eine Chance freiheitlicher Sinnstiftung vertan, die Liberalen dementierten sich selbst“17.
Ketteler: Rechtliche Schranken gegen
Mehrheits- und Behördenwillkür.
Ketteler, zunächst Abgeordneter des Wahlkreises Tauberbischofsheim im neuen Reichstag, bevor er sein Mandat im Kulturkampf nach einem Gespräch mit Bismarck wegen Aussichtslosigkeit niederlegte, hat seine Position gegenüber dem neuen Reich in einer Schrift von 1873 „Die Katholiken im Deutschen Reiche“18 ausführlich umrissen. Bereits mitten im Kulturkampf, lässt sich der Mainzer Bischof dennoch nicht zur totalen Opposition gegenüber dem politischen Werk Bismarcks verleiten, sondern spricht ein kritisches Ja zum neuen Reich. Auch jetzt ist sein erster Satz: „Die Wege, auf welchen das Deutsche Reich entstanden ist, kann ich nicht billigen“19; denn der Zweck heilige nie unredliche Mittel. Und das jetzige Reich, vor allem mit dem Ausschluss Österreichs, ist für ihn kein Ideal. Es ist jedoch eine „Abschlagszahlung an das Recht des deutschen Volkes, eine Nation zu bilden“20; es ist unter den gegebenen Verhältnissen das einzig Sinnvolle und Mögliche. Stabilität aber könne dieses Reich nur gewinnen, wenn es im Innern einerseits Freiheit gewährt, vor allem Freiheit für die Kirche, anderseits für soziale Gerechtigkeit sorgt – hier liegen für ihn die wahren unerledigten Zukunftsaufgaben.
Allgemeines und gleiches Wahlrecht war für Ketteler ursprünglich nicht die ideale Lösung. Aber seit seiner Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ von 1864 hatte er es als unter den gegebenen Bedingungen beste Lösung akzeptiert, vor allem gegenüber dem nach Besitz und Einkommen gestaffelten Drei-Klassen-Wahlrecht, wie es in Preußen bis nach dem Ersten Weltkrieg in Geltung blieb.21 Insofern begrüßte er die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für den Reichstag. Nur schlug er in der Schrift von 1873 zwei Korrektive vor. Das eine entsprach seiner organischen, ständischen Staatsauffassung. Es ist neben der demokratisch gewählten Volksvertretung ein Oberhaus oder Senat als „Vertretung des gesamten Volkes in seinem besten sittlichen und intellektuellen Sein und Leben“, gebildet aus Vertretern der großen Korporationen und Verbände (man denkt hier an die Kirchen, die Universitäten) und auch des großen erblichen Grundbesitzes.22 Dieses Oberhaus sollte nicht die Vertretung der Fürsten und Landesregierungen sein, wie dies der Bundesrat in der Bismarckschen Reichsverfassung war. Es sollte nicht einfach die Staaten repräsentieren, sondern die selbstständigen Institutionen. Ist dieses Korrektiv konservativ-ständischen politischen Ideen zugewandt und erscheint heute eher rückwärtsgewandt, so gilt dies nicht für seine andere Forderung, die im Grunde das vorwegnimmt, was wir heute im Grundgesetz mit dem Bundesverfassungsgericht haben. Ketteler fordert hier ein unabhängiges Reichsgericht, das Verfassungs- und Gesetzesverletzungen auch der Regierungen und Parlamente ahnden kann.23 Es geht ihm bei beidem um eine Schranke gegen eine reine Mehrheitsherrschaft. Denn auch Herrschaft der Mehrheit könne zur Despotie werden. „Wenn die Majorität eines solchen Parlamentes, eine daselbst herrschende Partei, ihrer Interessen wegen sich zusammenfindet mit einem militärisch organisierten mächtigen Beamtentum, das aller rechtlichen Kontrollen entbehrt, so ist der Konstitutionalismus in dieser Gestalt das wirksamste Mittel zur Unterdrückung“24. Dass dies keine bloße Befürchtung war, zeigt für ihn der bereits auf vollen Touren laufende Kulturkampf. Und so versäumt er nicht, auf die Opfer eines solchen Triumphes der Mehrheitsherrschaft über das Recht hinzuweisen: die seit dem Vorjahr 1872 entrechteten Jesuiten:
„Noch bis vor Kurzem hat man gewisse Rechte als unantastbare Grundpfeiler der Freiheit und des Rechtes allgemein anerkannt. Die Grundsätze der Rechtsgleichheit für Alle, die Verwerflichkeit der Ausnahmegesetze, dass Niemand seinem Richter entzogen werde; dass Niemand ungehört verurtheilt werden dürfe; dass jeder das Recht habe, in seiner Heimath und in seinem eigenen Hause zu wohnen, so lange kein Richterspruch ihm dasselbe entzogen hat, hielt man für durchaus unerschütterlich, für untrennbar von dem gesammten Rechtszustand der Gegenwart bei allen Culturvölkern. Jetzt sehen wir sie alle ohne Ausnahme mit Füßen getreten, jetzt sehen wir mehrere Hunderte deutscher Männer25 des allgemeinen Rechtes beraubt, unter Ausnahmegesetze gestellt, ihrem Richter entzogen, ungehört verurtheilt, aus ihrer Heimath und ihrem Hause vertrieben in einer Lage, dass die Polizei sie willkürlich von einem Orte zum andern jagen kann, ohne dass sie dagegen noch irgendeinen Schutz oder irgendeine Hilfe hätten. Und das Alles geschieht mit voller Zustimmung eines großen Theiles des deutschen Volkes.“26
Dies aber sei nur die Konsequenz der Verbindung des Liberalismus mit dem „absolutistischen“ Prinzip, dass die Staatsgewalt, sei sie verkörpert in einem Monarchen oder in der Volksmehrheit, über dem Recht stehe und selbst Ursprung allen Rechtes sei. Die gerade heute im Zeichen von Corona vom Bundesverfassungsgericht proklamierte Lehre, dass der Staat nicht die Grundrechte gewährt, sondern sie anerkennt (und sie daher nur aus schwerwiegenden Gründen des Gemeinwohls und zeitlich begrenzt einschränken kann), war damals nicht die Doktrin der Mehrheit der Liberalen, sondern eher die des politischen Katholizismus.
Wie es der Historiker Heinrich August Winkler ausdrückt: „Auf die gescheiterte Revolution von unten antwortete Bismarck 1870/71 mit einer Revolution von oben und dem Vorrang der Einheit vor der Freiheit.“27 Diese Einseitigkeit zu vermeiden und die Herrschaft des Rechtes auch gegenüber der Mehrheit zu behaupten, darauf liefen die Demarchen sowohl des Zentrums wie Kettelers bei der Reichsgründung hinaus. Jedenfalls standen Männer wie Ketteler oder der Zentrumsführer Ludwig Windthorst dem, was wir heute unter demokratischem Rechtsstaat verstehen, weit näher als Bismarck und die Nationalliberalen.