Rezensionen: Theologie & Kirche

Rutishauser SJ, Christian M.: Freiheit kommt von innen. In der Lebensschule der Jesuiten.
Freiburg: Herder 2021. 240 S. Gb. 22,–.

Ein weites Feld betritt der Schweizer Jesuit mit diesem neuen Buch: Mit religionsphilosophischen und theologischen Ausführungen, aber auch mit literarischen, geschichtlichen, interreligiösen und im weitesten Sinn kulturellen Bezügen legt er umfassend die „Lebensschule“ der Jesuiten dar. Das Buch ist dicht und gedanklich anspruchsvoll geschrieben, es ist nicht immer leicht zu lesen, aber doch klar und in einer für Nichtfachleute verständlichen und zeitgemäßen Sprache verfasst.

Leitgedanken sind die Freiheit des Menschen und das Leben als Pilgerweg. Der erste Teil des Buches führt in die ignatianische Spiritualität und Mystik ein und will für eine persönliche Gottesbeziehung öffnen. Rutishauser, selbst ein langjährig geübter Pilger, verweist über diese leiblich-seelische Erfahrung auf Freiheit und Gottesbegegnung. Der zweite Teil des Buches geht den vierwöchigen Weg der Exerzitien entlang: Die Erste Woche mit ihrem Thema Sünde und Umkehr deutet Rutishauser stark von der mimetischen Rivalität Girards her – hier ließe sich fragen, ob dieser Ansatz ein solches Gewicht beanspruchen sollte. Die Zweite Woche behandelt die Thematik von Berufung und Sendung; berührt hat mich der Gedanke, dass jede Lebensentscheidung zugleich ein Sterbeprozess ist – die nicht gewählte Alternative muss „sterben“, damit die gewählte leben kann. In der Dritten Woche geht es um Nachfolge mit Blick auf Tapferkeit und Treue im Leiden, und dies gelebt in der Beziehung zum Gekreuzigten. In der Vierten Woche legt Rutishauser Wert auf die Deutung, dass es in der Auferstehung nicht um das „Sein“ eines Lebens nach dem Tod geht, sondern um die Frage der Gerechtigkeit: Gott verwirklicht in der Auferweckung Jesu ein ethisches Anliegen. Mit seiner göttlichen Präsenz erleuchtet er die blinde Seele. Der dritte Teil führt den Bogen zum Abschluss: Wer mit Gott seinen Weg geht, wird gelassen – aus innerer Freiheit heraus, und er lässt sich senden zum Leben. Im Zentrum steht mit Ignatius die Erlangung der Liebe.

Rutishauser denkt vom ignatianischen und jesuitischen Menschen- und Gottesbild her, aber nicht eng und abgrenzend, sondern dieses weitend auf den christlichen Geist in moderner Zeit. Der weit gespannte Bogen, die umfassende geistesgeschichtliche Kenntnis und die knappe und treffende Sprache beeindrucken. Die Linie dieses Denkens ist aktuell, mit dem Geist und den Fragen unserer Zeit vermittelnd, auch bei heiklen Themen treffsicher und genau, für religiös Suchende immer anregend. Wo sind Grenzen des Ansatzes? Die geballte Lebenserfahrung und -reflexion kommt in dem Buch bisweilen etwas arg verdichtet, thetisch behauptend, abstrakt herüber; der Bogen ist manchmal so weit gespannt, dass der Autor und die Lesenden ihn kaum mehr ganz umfassen können; Hinweise auf Autoren könnten besser ausgeführt und Zitate belegt werden. Doch wiegen diese Einwände wenig angesichts der Kraft und der Souveränität der Gedankenführung. Um dieses Buch können ignatianisch Denkende künftig keinen Bogen machen.

                Stefan Kiechle SJ

Moltmann, Jürgen: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Versuche über die Freude an der Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel.
Hg. von Rosemarie Egger. Aachen: Bernardus 2021, 124 S. Kt. 12,–.

Die kleine Schrift ist ein halbes Jahrhundert alt (Erstauflage 1971, 7. Aufl. 1981, jetzt erweitert durch ein Geleitwort von R. Kölliker und eine Hommage an den Verfasser und dessen Kurzbiografie seitens der Herausgeberin). Es ist eine schlimme Nachricht über den Zustand von Kirche und Gesellschaft, dass der Text aktueller als damals, aber eine gute Botschaft, dass er neuerlich verfügbar geworden ist. Zwei Angelegenheiten veranlassen uns zur Reaktion: 1. die Kausalverhältnisse, die deterministische Folgen haben (bei Kälte braucht man einen Mantel), und 2.: das Vorhandensein von Gründen, welche das Reich der Freiheit eröffnen (man kann diesen Mantel wählen).

Wozu gehört die Religion? Zur ersten Art, würde die spontane Antwort lauten: Gott wird gnädig, wenn man opfert. Das Christentum wohl nicht, würden Bibelfeste einwenden: Christus hat uns zur Freiheit befreit (Gal 5,1). Aber war das nicht nur die Befreiung von einem Gesetz, dem jüdischen, zu einem anderen, dem viel umfangreicheren kirchlichen, das gleichfalls dem Zweck der Herrschenden diente? Die Krise der Kirche ist hauptsächlich dadurch hervorgerufen, dass viele derzeit meinen, „die Gesetze der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit … auch mit anderen Mitteln erreichen zu können“ (102). Moltmanns Büchlein ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Zwecklosigkeit von Religion und Kirche Jesu Christi, die die Voraussetzung dafür ist, dass sie sinnstiftend ist, heute mehr denn je, da die Verzweckung der Gesellschaft durch alle möglichen Mächte und Gewalten einen Höhepunkt erreicht.

Der Grund dafür liegt in der Schöpfung selber, die das vollkommen freie, liebende Spiel eines Gottes ist, der dadurch die Fülle seiner Schönheit offenbart. Frei, liebesgezeugt und herrlich schön ist darum auch sein Werk. Indem das Pulchrum zu den Transzendentalien gezählt wird und damit in höchster Vollendung in Gott gesehen werden muss, eröffnen sich wahrhaft Raum gebende, Sinn wirkende, Freude erweckende Perspektiven für ein erfüllendes Christentum. Natürlich hat dieses Bild einen Schwachpunkt: die Theodizeefrage, unerbittlich realisiert im Kreuz. Der Tübinger Systematiker nimmt sie bitter ernst. Gekreuzigt heißt lateinisch crucifixus – ans Kreuz geheftet, also total ohnmächtig, ohne Freiheit, Liebe, Schönheit. Doch weist er zugleich darauf hin, dass einmal der Herr das Kreuz bestiegen hat – also eine Freiheitstat vollzogen hat – und dass es zum anderen Eröffnung von Ostern ist, also die Verlängerung der menschlichen Existenz in die Freiheit, Liebe, Schönheit Gottes. „Ostern qualifiziert das Kreuz Christi zum Heilsereignis“ (57).

Moltmann kann aus der Tiefe seines Wissens und der Klarheit seiner Gedanken unerahnte Glaubensfreude schenken. Ein Vater fragt mich an, wie er seinen heranwachsenden Kindern klarmachen kann, dass Christsein für sie lebenswichtig ist. Ich empfehle ihm dieses Werk: Wenn es ihm gelingt, seine Darlegungen zu verinnerlichen, werden, das wage ich mit Sicherheit zu sagen, die Augen seiner Buben leuchten. Mehr Erfolg kann das Buch nicht haben.

                Wolfgang Beinert

 

Schockenhoff, Eberhard: Die Kunst zu lieben. Unterwegs zu einer neuen Sexualmoral.
Freiburg: Herder 2021. 484 S. Gb. 48,–.

Dank gebührt den Assistenten von Eberhard Schockenhoff, Hannes Groß und Philipp Haas, dass sie nach dem unerwarteten Tod ihres Lehrers noch dessen Entwurf „einer neuen Sexualmoral“ herausgegeben haben. Was die Leserin und den Leser an sorgfältigen Analysen und Bewertungen zu psychoanalytischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zur Sexualität in der Moderne in Teil I (13-72), zu historischen und genealogischen „Tiefbohrungen“ zur Genese einer Sexualmoral in der Patristik – hier vor allem zu Augustinus und seinem „zwiespältigen Erbe“ –, zu der aristotelischen Rezeption der Bewertung sexueller Lust im Mittelalter und schließlich zur teilweise rigoristischen Neuinterpretation des augustinischen Lustverständnisses in der Neuzeit in Teil II (73-159) erwartet, begründet auf überzeugende Weise, warum die schon oft angemahnte Revision der katholischen Sexualmoral an der Zeit ist. Am Ende des Teils III nimmt Schockenhoff unter der Überschrift „Der Glaubwürdigkeitsverlust der kirchlichen Sexualmoral“ (234-240) diese Thematik nochmals im Hinblick auf ein theonom verstandenes Naturrecht und dessen Engführungen auf, die die lehramtliche Sexual- und Ehemoral weitgehend bestimmt haben.

Die Dringlichkeit einer Korrektur der tradierten Sexualmoral in der moralischen Bewertung sexueller Lust als Straffolge der Erbsünde wie des Eigenwertes der Ehe und damit auch der Ehezwecklehre, die die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft als primären Zweck statuierte, wurde bereits in theologischen Ansätzen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil erkannt, stieß aber wiederholt auf den Widerstand der römischen Glaubenskongregation. Erst im Verlauf des Konzils konnte sich eine neue Bewertung in Gaudium et spes (Ziff. 48-52) durchsetzen. Es folgt eine Replik auf die Kontroverse um die Enzyklika Humanae vitae (1968) mit ihrer Ablehnung künstlicher Methoden der Geburtenkontrolle (159-240) wie auch eine kritische Bewertung des Bemühens um eine personalistische „Vertiefung“ dieser Lehre durch Johannes Paul II. In Amoris laetitia (2016) sieht Schockenhoff einen „Blick nach vorn“ u.a. durch eine größere Wertschätzung des Gewissens der Partner und einer unbefangenen Wertung des sexuellen Begehrens. Im Unterschied zu früheren lehramtlichen Texten zur Sexual- und Ehemoral finden sich in dem Schreiben keine Verurteilungen.

Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau und die daraus folgende prinzipielle Gleichwertigkeit beider Geschlechter, die Bedeutung der Geschlechterdifferenz gründend in Gottes Schöpferwillen, die Fehldeutung der Unterordnung der Frau unter den Mann ausgehend von Gen 2,7-24 und deren Korrektur in Gal 3,28, sind einige der Themen, die der Verfasser im Rückgriff auf die einschlägige Literatur behandelt. Eigens geht er im letzten Abschnitt (341-347) auf das hermeneutische Problem ein, gegenwartsbezogene Fragen wie etwa die nach der Geschlechtsidentität oder des Gender-Diskurses im Rückgriff auf die Heilige Schrift zu behandeln.

Im Teil VI (348-464) behandelt Schockenhoff die unterschiedlichen „Lebenskreise und Lebensräume der Liebe“. Aufgegriffen wird die Frage nach der „ekstatischen Struktur des sexuellen Begehrens“, die wie ein roter Faden auch die übrigen Teile durchzieht. In der Spannung zwischen Konkupiszenz und heiligem Eros verlaufen die Interpretationslinien, bei denen sich der Autor nicht unkritisch auf die Seite des Eros stellt. Ein Kompendium der Ehetheologie bieten das 2. und 3. Kap. über die Familie „als Lebensraum der Liebe“. Schockenhoff ist sichtlich bemüht, Ehe und Familie nicht in einem Atemzug zu behandeln, sondern beiden Lebensformen ihre eigenen Konturen zu belassen.

Schockenhoff hat mehr als einen „Entwurf“ vorgelegt. Er bietet eine Sexualethik, die wirklich alle relevanten Bereiche mit großer Literaturkenntnis und einer klaren Sprache und Gedankenführung behandelt. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass dieses Werk viele und aufmerksame Leserinnen und Leser finden wird.

                Josef Schuster SJ

 

Wucherpfennig, Ansgar: Wie hat Jesus Eucharistie gewollt? Ein Blick zurück nach vorn.
Ostfildern: Patmos 2021.128 S. Gb. 15,–.

Man sieht den Autor geradezu verschmitzt lächeln, wenn er gleich zu Beginn auf die Falle hinweist, die der Titel seines Buches aufstellt. Es geht ihm nicht um einen in der Geschichte versinkenden „historischen“ Jesus und dessen vermutliche Absichten, an denen sich dann die nachösterliche Praxis kritisch messen lassen müsste, sondern um den Gegenwärtigen, den Auferstandenen. Die Frage lautet also: „Wie hat der auferstandene Jesus Eucharistie gewollt?“ (7). Die Frage verblüfft, leuchtet aber sofort ein. „Hat die Eucharistie ihren Ursprung denn nicht im Letzten Abendmahl?“ wird Wucherpfennig in einem Interview zu seinem neuen Buch gefragt (katholisch.de). Antwort: „Doch, das schon. Ihr Ursprungsimpuls geht auf den irdischen Jesus und auf sein Mahlhalten zurück, das in dem Abschiedsmahl mit seinen Jüngern kulminiert. Aber ihre bleibende Bedeutung erhält die Eucharistie durch die erfahrene Gegenwart des Auferstandenen“. Diese ist wiederum von gemeinsamem Essen und Trinken in vielfältigen Formen nicht zu trennen. Wucherpfennig macht damit ernst. Er geht von der späteren nachösterlichen Praxis in der Kirche aus, um Schritt für Schritt zurückzugehen bis an den österlich-pfingstlichen Urknall.

Fisch, Honig, Brot, Wein, Wasser – außer Fleisch kann bei den Mählern mit Jesus all dies dabei sein. Eucharistie durchbricht also den Gewaltkreislauf im Verhältnis von Mensch und Tier (19-31), wie dies die jesajanischen Prophetien schon verheißen. In der Didache wird der Vorgang der Sammlung durch das Mahl akzentuiert. Den Hinweis auf Leib und Blut Jesu kennt sie nicht. Jesus eröffnet das Mahl wie Frau Weisheit (Spr 9,5-6), die allerdings gegessen werden kann. „Das Essen der Weisheit ist eine Metapher, die auch im deutschen sprichwörtlich bekannt ist“ (60). Vorbilder für die Gabengebete in der Didache entstammen jüdischen Mahlgebeten. „Wohlgefällig“ können die Gaben (Opfer) nur sein, wenn sie „aus gerechtem und menschenwürdigem Handeln hervorgegangen sind“ (73). Damit klingt der Zusammenhang von Eucharistie und Gerechtigkeit an.

Die älteste Überlieferung vom letzten Abendmahl stammt von Paulus. Sie steht im Kontext seiner Kritik an der Mahlpraxis der Gemeinde in Korinth. Kanonisierte „Einsetzungsworte“ lassen sich dem noch nicht entnehmen. Jesu prophetische Zeichenhandlung („Das ist mein Leib“) ist deutungsoffen auf seinen Tod und seine Hingabe hin (86 ff.). Mit Lukas geht Wucherpfennig dann nah an die ersten Auferstehungsberichte heran. In Emmaus findet „die erste Eucharistiefeier“ (91) statt, mit Maria und Kleopas (95 ff.), wie man sich nicht unbegründet vorstellen kann. Je mehr sich dann nachpfingstlich die Versammlungen vom Tempel lösen, umso mehr wird das Haus zu dem geschützten Ort, an dem das „Brechen des Brotes“ als liturgische Feier stattfindet.

Was folgt daraus für den Blick nach vorne? Es hat nie die eine Form der Eucharistie gegeben. Vielmehr zeigt sich über die Inhalte eine gemeinsame Ausrichtung, die es dann auch möglich macht, in den jeweils anderen Traditionen Bestandteile zu erkennen, die in der eigenen Tradition nicht vorkommen oder unterbelichtet sind. Am besten lässt sich diese Gemeinsamkeit erkennen und anerkennen über die gegenseitige Gastfreundschaft.  

                Klaus Mertes SJ

 

Thiede, Werner: Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annähe­rungen an eine Menschheitsfrage.
Münster: LIT 2021. 280 S. Kt. 24.90.

In vier Teilen nähert sich der Pfarrer und Theologieprofessor Werner Thiede der spannenden Frage, ob und wie das Leben nach dem Tod weitergeht. Er schlägt dabei einen weiten Bogen von der Tabuisierung des Todes und der Unsterblichkeitsfrage unter soziologischem Aspekt über die biblische Verkündigung bis hin zu dem neuen Axiom der Unsterblichkeit durch technischen Fortschritt und Digitalisierung.

Die hohen Erwartungen an Interdisziplinarität werden zur Gänze erfüllt, wenn Thiede im zweiten Teil parapsychologische Zugänge und Erkenntnisse der Nahtod-Forschung entfaltet, um im dritten Teil „geheimwissenschaftliche“ Zugänge in Spiritismus und Esoterik zu erkunden, wo Seelenunsterblichkeit oft mit Seelenwanderung verknüpft wird. Namentlich die Auseinandersetzung mit der Reinkarnationslehre Rudolf Steiners fordert den Autor zu einer kritischen Betrachtung heraus, indem er die teilweise Selbsterlösung im dortigen Verständnis als Bemühen um einen stufenweisen Aufstieg im Laufe von Wiederverkörperungen als eher reduzierte Erlösung durch Christus sieht – und anmahnt, dass Christen doch zu einer zukünftigen Gemeinschaft mit Christus berufen seien, die bereits begonnen hat.

Einerseits erstaunt die bunte Vielfalt zu diesem Thema, die Thiede sehr detail- und kenntnisreich anhand einer Fülle von Belegen entfaltet. Andererseits zeigt sich die sichere Auseinandersetzung damit. So keimt beim Leser immer mehr die Frage auf, wie das alles nun mit der Heiligen Schrift zusammengeht, denn dort sollten die zentralen Erkenntnisse doch angelegt sein. Genau dies ergibt sich aus der klaren Struktur des Buches, wenn im vierten Teil die theologischen Facetten ausgebreitet werden.

Thiede scheut sich nicht, die Gewichtung und Klarheit der menschlichen Entscheidung zu betonen, dass es in der Hand eines jeden Einzelnen liegt, ob er sich der Schuld und Verlorenheit hingibt oder sich der Zusage Jesu anschließt, der in seiner bedingungslosen Gnade die Ewigkeitsdimension öffnet. Selbst die nicht wirklich klärbare Frage, ob am Ende die „Allversöhnung“ steht, wird keineswegs umschifft. Alle betrachteten Facetten münden in die klare Aussage, dass womöglich bedrohliche Aspekte der Unsterblichkeit im festen Vertrauen auf den auferstandenen Versöhner mit der schon jetzt greifenden Befreiung aus dem Gericht nicht die Oberhand behalten. Ein äußerst lesenswertes Buch!

                Wilfried Kühling

 

de Certeau, Michel: Täglich aufbrechen zu den anderen. Reflexionen zur christlichen Spiritualität.
Würzburg: Echter 2020. 172 S. Kt. 14,90.

Der französische Jesuit Michel de Certeau SJ (1925-1986) war ein Grenzgänger zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen. Er dachte und schrieb anspruchsvoll und unzeitgemäß. Sich selbst bezeichnete er als Historiker der Spiritualität, er war aber auch Theologe, Philosoph, politischer Autor – zeit seines Lebens ein wenig ortlos und immer im Aufbruch. Seine späteren Schriften zur Geschichte der Spiritualität sind schon seit einiger Zeit ins Deutsche übersetzt und finden viel Widerhall auch in nichtkirchlichen Kreisen. Einige frühe geistliche Artikel, fast alle aus der französischen Zeitschrift Christus, wurden von Andreas Falkner SJ, dem im letzten Jahr an Covid-19 verstorbenen Kenner der Spiritualität, ins Deutsche übersetzt. Sie erschienen zwischen 2015 und 2020 in Geist und Leben, der Spiritualitäts-Zeitschrift der deutschen Jesuiten. Die Texte zeigen neue und wichtige Facetten dieses immer wieder anregenden Meisters.

Die beiden ersten Texte deuten die spirituellen Wege zweier Jesuiten der Frühzeit aus: der eine, recht bekannte, ist Peter Faber SJ, enger Gefährte von Ignatius von Loyola, der andere Jean-Josef Surin SJ, französischer Jesuit des 17. Jahrhunderts. Beide werden als rastlose Pilger dargestellt, immer im Aufbruch, in wirren Zeiten, mit großem innerem Ringen um die Wege Gottes, Surin auch in seinen psychischen Brüchen, mit großen mystischen Erfahrungen. Es folgt ein Text zum Zweiten Vatikanischen Konzil von 1966, der das Vorandrängen dieser Zeit artikuliert: Dieses braucht viel „Unterscheiden“ – der ignatianische Impuls de Certeaus zeigt sich hier deutlich. Der Beitrag „Das Gebet von Arbeitern“ von 1957 bezeugt das schwierige spirituelle Ringen etwa von Fließbandarbeitern, eine heute zumindest in Europa weitgehend versunkene Welt.

Nach drei kürzeren biblischen Betrachtungen folgt ein christlogischer Text: Unter der Überschrift „Wie ein Dieb“ zeichnet de Certeau Jesus als den Fremden, den Neuen, den Aufbrechenden. Die letzten Beiträge sind nochmals direkt ignatianisch: Über die Sehnsucht als Motiv des „Fundaments“ der Exerzitien, über spirituelle Krisen nach einer getroffenen Lebensentscheidung und den Umgang damit, über den Zusammenhang von Mystik und Universalismus – beide werden vom Ignatianischen umfasst in ihrer Spannung und in ihrer Verbindung. Durch alle Disparität der einzelnen Beiträge hindurch zeigt sich der rote Faden im Denken de Certeaus, schön ausgedrückt im Titel des Bandes: der Aufbruch, aus existentieller Unbehaustheit hinein in die Fremde, und immer hin zum anderen – vielleicht auch ein treffendes Motto über das Leben de Certeaus.

Die Hinführung von Sr. Anna Elisabeth Rieser ist hilfreich, denn die Sprache und Gedankenwelt de Certeaus ist oft nicht leicht zu verstehen: Sie gibt kaum ein klares Thema oder eine Frage vor, setzt den konkreten Hintergrund schon voraus, bleibt oft im Abstrakten, mäandert um ihre Gegenstände herum, ist oft chiffrenhaft – irgendwie recht französisch. Doch die Mühen des Denkens lohnen sich immer wieder und geben reiche Einsichten.

                Stefan Kiechle SJ

 

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