Unsere Zeit denkt ihre Zukunft als Katastrophe. Und es ist ein Buch der Bibel, das der Katastrophe den Namen gab: Apokalypse. Die Wirkungsgeschichte dieser urchristlichen prophetischen Schrift ist in der Moderne vor allem von der Faszination des Untergangs geprägt. Wie Klaus Vondung gezeigt hat, war es insbesondere Deutschland im letzten Jahrhundert, wo die Vorstellung, dass Erlösung durch Vernichtung zu erlangen sei, ihre eigene Apokalypse hervorgebracht hat.1 Von Erlösung ist heute nicht mehr die Rede. Der Modus der Katastrophe heute, so Eva Horn, ist das Futur II. „Die Katastrophe ist ein Ende, ein Abschluss, etwas, das gekommen sein wird.“2 Welten ohne Menschen bevölkern unsere Fiktionen. Oder es bleibt der letzte Mensch, der zurückblickt auf das, was gewesen ist. Der radikale Bruch, die reine Alterität dessen, was kommen wird, ist nicht das „Neue“, was dann auf die Menschheit zukommt, sondern „nackte“ Katastrophe: Weltende ohne Neubeginn.3 Dazu kommt „das dumpfe untergründige Gefühl, … dass die Fortsetzung des Gegenwärtigen genau zu jener Zukunft führen wird, die wir befürchten“, dass also „die eigentliche Katastrophe die Fortführung des Jetzt, der Fortschritt aller gegenwärtigen Tendenzen ist.“4
Die Gegenwart hat sich von der biblischen Vorstellung verabschiedet, dass durch die Katastrophe in ihrer apokalyptischen Form, also durch Zerstörung, Gericht und Kampf hindurch, das Neue, die Erlösung, auf uns zukommt. Zukunft ist das, was der Mensch macht – oder verschuldet.
„Wie nie zuvor“, so der Pariser Theologe Christoph Theobald SJ, „muss ‚humanitas‘ als solche von der Menschheit gewollt werden; was voraussetzt, dass sie nicht an ihrer Zukunft verzweifelt.“5 Woher aber stammt die Kraft für diese Aufgabe? Ich möchte dafür die Schlussvision der Heiligen Schrift neu zum Leuchten bringen. Die jüdisch-christliche Bibel beginnt mit einem Schöpfungsgedicht und dem Garten Eden und endet mit der Vision einer Megacity, einem von Gottes Glanz erhellten urbanem Friedensraum für die Völker. Darin liegt eine Provokation, aber gleichzeitig ein großes Potenzial an Hoffnung und Trost.
„Planet City“ – Resultat einer
freiwilligen globalen Migration
Es sind immer Städte, in denen Menschen ihre Zukunft imaginieren, und gleichzeitig ist jede Zukunftsimagination in der Gegenwart verwurzelt.6 Bevor wir uns dem himmlischen Jerusalem zuwenden, möchte ich eine zeitgenössische Imaginierung und Visualisierung der neuen Stadt zeigen, keiner himmlischen, sondern einer irdischen: Ihr Name ist: „Planet City“.7
Planet City ist ein Kunstprojekt und eine Video-Installation des australischen Künstlers, Architekten und Filmemachers Liam Young, dessen Realisierung bis April 2021 in Melbourne, Australien, zu sehen war. Entwickelt wurde das Projekt während des pandemischen Lockdowns. Planet City ist die spekulative Simulation einer hyperdichten, autarken Metropole, die zehn Milliarden Menschen beherbergt – so viele Menschen, wie wir im Jahr 2050 voraussichtlich sein werden. Sie ist das Ergebnis eines vollständigen und freiwilligen Rückzugs der Menschheit in eine Stadt, die 0,02 % der Erdoberfläche einnimmt, um dem Planeten und seinen Arten 99,98 % für die ökologische Regeneration zurückzugeben (0,02 % entsprechen etwa einem Drittel der Fläche Deutschlands).8
Ästhetisch ist Youngs Planet City von asiatischen Megastädten wie Tokio oder Hongkong inspiriert. Sie ist „chaotisch, ungleichmäßig, widerstandsfähig und integrativ.“9 Im Gegensatz zu den Science-Fiction-Städten, die wir auf unseren Fernsehbildschirmen sehen, basiert der Vorschlag vollständig auf vorhandenen nachhaltigen Technologien. Planet City ist aus recyceltem Material gebaut; der Boden zwischen den Gebäuden wird von Mega-Farmen eingenommen, Lebensmittel werden in vertikalen Obstgärten angebaut. „Die Energie käme von 49.445.671.570 Solarzellen, während 2357 Algenfarmen die Umweltverschmutzung filtern und zusätzliche Nahrung liefern würden.“10 Liam Young formuliert seine Intention: „Planet City ist kein Plan zur direkten Umsetzung, sondern dient vielmehr als geerdete Provokation, die die notwendigen System- und Lebensstiländerungen aufzeigt, die erforderlich sein werden, damit unsere Welt weiterhin menschliches Leben ermöglichen kann (…) Der Anfang von Planet City ist also das Ende des auf den Menschen ausgerichteten Designs“.11
In biblischen Bildern gesprochen: Planet City ist ein freiwilliger Exodus und Gang in die Wüste, der Bau einer Arche Noah für zehn Milliarden Menschen zur Rettung der nicht-menschlichen Schöpfung vor der menschengemachten Sintflut, ein Rückzug in einen Turm von Babel, der allerdings nicht für totalitäres und größenwahnsinniges Streben nach Einheit, sondern für Diversität unter einem Dach steht, für eine „City built upon caretaking.“12 Die Frage angesichts von Planet City lautet: „Was würden wir aufgeben, um uns selbst zu retten? Was würden wir hergeben (und umarmen), um die Erde wieder zu bewildern?“ 13 Deshalb hat Planet City prophetische Qualität im Sinn der biblischen Prophetie: Ihr zu glauben ist die Voraussetzung ihrer eigenen Verhinderung – wie man es etwa am Buch Jona sehen kann. Der Optimismus dieses radikal pragmatischen Entwurfs macht Planet City, ohne es damit vereinnahmen zu wollen, theologisch lesbar. Planet City ist kein alarmistisches apokalyptisches Katastrophenszenario, sondern ein Akt der Hoffnung auf die Zukunft des Ganzen, die von der Stadt als Raum für die Menschen auf den Planeten ausgreift. Insofern ist sie eine entfernte Verwandte, eine säkulare Nachfahrin der Himmlischen Stadt.
Zieh weg! Der Aufruf des Sehers von Patmos
An dieser Stelle kehre ich ins erste Jahrhundert zurück: In welcher Gegenwart ist die Zukunftsimagination des Sehers von Patmos verwurzelt? Die Johannesoffenbarung ist die Geschichte zweier Städte: Babylon und Jerusalem. Babylon mit ihrem Reichtum bedeutet die Attraktivität der hellenistischen Kultur, die Versuchung zur Assimilation, die der Seher aufs Schärfste verurteilt. Sie steht auch für die Gewalt, mit der das römische Imperium seine unterworfenen Völker überzieht. Vorstellbar ist, dass der jüdische Seher oder seine aus Palästina geflüchtete Erstleserschaft die Gräuel des niedergeschlagenen jüdischen Aufstands vor Augen hatten. Nun aber sind diese Christen im Herzen des Imperiums, in den Städten des Ostreiches mit ihrem Kaiserkult, angekommen und kämpfen um ihre Identität als Minderheit. Dem setzt der asketisch geprägte Prophet seine kompromisslose Botschaft entgegen: Zieht weg (Offb 18,4). Der Seher von Patmos ist also ein Rufer wie Liam Young, der nur einen einzigen Weg sieht: Zieht weg. Was beide verbindet, ist ihre kompromisslose Einschätzung von „Babylon“ als Inbegriff menschlicher Hybris, einer Stadt, einer Kultur, die sich mit ihrem gierigen Reichtum, ihrem unstillbaren Drang nach Unterwerfung selbst zerstört.
Der biblische Seher kennt also durchaus die Ambivalenz der Stadt. Dennoch endet die biblische Vision nicht mit dem Aufruf zur Flucht aus der Stadt – in eine Landkommune des heiligen Restes? – sondern mit der Schau einer Megacity, die vom neuen (auferstandenen) Himmel her auf die erneuerte (auferstandene) Erde herabkommt. Sie ist das Geschenk Gottes und gerade nicht menschengemacht. Sie zu empfangen setzt jedoch eins voraus: Umkehr, was theologisch bedeutet: Gnade.
Apokalyptischer Punkt Null
Die urchristliche Schrift ist aus der apokalyptischen Bewegung des antiken Judentums herausgewachsen, die ein radikales Ende der Jetztzeit durch ein Eingreifen Gottes erwartete. Zwischen der als aussichtslos empfundenen Gegenwart und dem Neuen, das kommt, steht das Gericht Gottes, die endgültige Scheidung von Gut und Böse. Die von der apokalyptischen Gattung und Denkform dafür bereitgestellten Bilder und Vorstellungen sind die von Abbruch und Zerstörung kosmischen Ausmaßes, wie auch in unserem Buch. Was dann jedoch kommt, ist der Anbruch einer neuen, von Gott geschenkten, ewigen und neuen Ordnung, in der Johannesoffenbarung in Gestalt der neuen Stadt, des himmlischen Jerusalem. Im Unterschied zu der frühjüdischen apokalyptischen Literatur, die die Erlösung in einer (nahen) Zukunft erhoffte, geht die urchristliche Apokalyptik davon aus, dass die befreiende Zeitenwende mit der Auferstehung des Gekreuzigten bereits erfolgt ist. Diskontinuität und Zerstörung, die das apokalyptische Denken kennzeichnet, werden also vom „Punkt Null“ des Christusereignisses her verstanden. Der neue Äon ist von dort her bereits angebrochen und setzt sich in der Geschichte durch. Das ist das Thema der Johannesoffenbarung.
Nicht die Katastrophen stehen also im Mittelpunkt der geschauten Ereignisse – die drei Siebenerzyklen, so spektakulär sie sind, laufen ab und sind damit sozusagen vorbei –, sondern die prophetische Enthüllung – Apokalypse – der Grunddramatik des Weltgeschehens, das von seiner christologischen Mitte her geschaut wird. Diese Mitte kommt im Verlauf der Geschichte immer wieder zur Darstellung, und zwar dort, wo die großen christologisch gedeuteten Figuren auftreten: der Menschensohngleiche in der Eingangsvision (Offb 1,9-20), das Lamm vor dem Thron (Offb 5,1-14), das Kind, das die Sternenfrau gebiert (Offb 12,1-6), und zweimal der Richter: als der Erntende (Offb 14,14-21) und als der Krieger und Keltertreter (Offb 19,11-21). In diesen metageschichtlichen Symbolgestalten wird das Verhältnis von Gericht und Heil, von Zorn und Gnade in den theologischen Kernpunkt geführt: Beides ist im Christusereignis geschehen, im Sieg des Lammes, und wird bei dessen eschatologischem Offenbarwerden zur Vollendung gelangen.14 Diese letzte Christusfiguration, die der Vollendung, ist die Himmlische Stadt.
Das Himmlische Jerusalem:
Teil des neuen Himmels und der neuen Erde
Was sieht also der Visionär? Er sieht eine neue Stadt. Sie heißt Jerusalem, obwohl Jerusalem in Trümmern liegt – von den Römern zerstört. Die Vision gibt sie jedoch nicht auf, sondern zeigt sie als von Gott neu auf die Erde herabkommend. Nicht Weltflucht ist das Programm, sondern eine neue Schau der urban geprägten Gesellschaft. Es geht weder um eine Schau des Jenseits noch um die Vorhersage des Weltendes. Es geht um eine Schau gegenwärtiger und zukünftiger urbaner Friedensräume aus der Perspektive der Vollendung, die von Gott her auf die Welt zukommt.
Die Stadt ist Teil des neuen Himmels und der neuen Erde, „denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“ (Offb 21,1). Wurden sie vernichtet? „Dann sah ich einen großen weißen Thron und den, der auf ihm saß; vor seinem Anblick flohen Erde und Himmel und es gab keinen Platz mehr für sie“ (Offb 20,11). Flucht gehört zu den apokalyptischen Topoi: Es ist der Gottesschrecken, die Reaktion des Menschen – und hier auch der Schöpfung – auf das Erscheinen Gottes, hier zum Gericht. Es geht also nicht um Vernichtung, sondern, apokalyptisch imaginiert, um das „Sterben“ von Himmel und Erde vor dem Gerichtsthron Gottes, damit sie als neuer Himmel und neue Erde „auferstehen“ können. Sterben und Auferstehen, das Lebensgeheimnis des Lammes, vollzieht sich nicht nur am Menschen, sondern in dieser kosmischen Vision auch an der Schöpfung. Nur das Meer, der Bereich des Todes, bleibt aus der neuen Schöpfung ausgeschlossen. Es „ist nicht mehr“ (21,1), wie auch der Tod „nicht mehr sein“ wird (21,4). Die neue Stadt, die vom neuen Himmel her herabkommt, ist also Teil einer neuen Erde unter einem neuen Himmel. Es entsteht kein himmlisches Jenseits, kein Elysium Gottes und seiner Gerechten irgendwo, während die alte Erde auf dem atmosphärischen Müll entsorgt wird. Nichts wird vernichtet, auch nicht die widergöttlichen Kräfte. Der Feuersee, das Schreckensbild, ist weder das Bild einer totalen Vernichtung noch das einer ewigen Folter, sondern Symbol der endgültigen, eschatologischen Entmachtung aller widergöttlichen Kräfte.15 Gott macht keine neuen Dinge ex nihilo, sondern „alles neu“ (21,5). Die verwandelnde Neuwerdung geschieht jedoch durch das Sterben im Gericht hindurch, das sich am Lamm bereits rettend vollzogen hat.
Der nachtfreie Himmel
Die Unterscheidung von Himmel und Erde bleibt also bestehen – sie verschmelzen nicht. Was ist anders am neuen Himmel? Es gibt keine Nacht mehr und auch das Licht der Sonne wird es nicht mehr brauchen (21,23-25; 22,5). Es ist also ein Himmel mit gewaltigen kosmischen Veränderungen. Das bedeutet, mit Günter Thomas:16 Die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht war das Resultat des ersten Schöpfungstages (Gen 1,3-5). Indem er diesen Rhythmus verändert, „eröffnet sich Gott selbst mit diesem Himmel ein neues Möglichkeitsspektrum der Gemeinschaft mit den Menschen.“ Der Rhythmus von Tag und Nacht bestimmt ferner die Zeit und damit auch den Kult. Das wird in der Abwesenheit des Tempels weiter konkretisiert. Die Nacht steht für die Unzugänglichkeit des Himmels, andererseits steht sie für das Lebensbedrohliche, Gefährliche. Ohne Tod und Schmerz bleibt der Himmel das der Verfügbarkeit Entzogene, aber ausschließlich lebensfördernd und lebenssteigernd. Ohne die Nacht schließlich, die biblisch auch die Nacht des Verrats ist, können die Tore geöffnet bleiben; der Fremde bedroht nicht mehr als Feind.
Unsere apokalyptischen Vorstellungen sind vom Kampf geprägt. In der Johannesoffenbarung werden jedoch keine Kämpfe geschildert, an denen Gott beteiligt wäre: Gigantische Schlachtenaufmärsche gehen unmittelbar in Sieg über; auch das Kind der Sternenfrau wird entrückt, bevor es zum Kampf mit dem Drachen kommt. Gott kämpft nicht, er siegt. In gleicher Weise ist auch die Abschaffung der Nacht nicht das Ergebnis eines kosmischen Kampfes, sondern die Konsequenz der Gegenwart der strahlenden Herrlichkeit Gottes in seiner Einwohnung in der Stadt.
Eine neue urbane Welt
Was ist anders an der neuen Erde? Sie empfängt die neue Stadt, die von Gott her auf sie herabkommt. Das „Herabsteigen“ ist Gottes Bewegung zu den Menschen in der Inkarnation und in der Geistausgießung. Diese Bewegung wird nun weiter in die irdische Wirklichkeit hinein entgrenzt17 und gleichzeitig – sehr menschlich und sehr konkret – als urbane Welt figuriert. Vor den Augen antiker Leser und Leserinnen entsteht eine ideale hellenistische Polis mit den rechtwinklig angelegten Straßenzügen im Quadratrastertyp, dem antiken hippodamischen System. Das Signal ist deutlich: Die Bilder der Himmlischen Stadt wollen auch politische Theologie sein.
Im Unterschied zu populären Vorstellungen von neuer Schöpfung ist die neue Welt Gottes also gerade nicht der wiederhergestellte mythologische Urzustand des Paradieses, sondern ein urbaner Raum, erlöste Kultur. Das will sagen, dass die gesamte Geschichte der Menschheit mit ihrer Kulturleistung, die nach jüdischem und christlichem Verständnis eine Geschichte Gottes mit den Menschen ist, in diese Vollendung eingehen wird. Man möge sich vorstellen, dass die Schönheit eines Mozartrequiems mit der Schönheit einer Koranrezitation, um nur symbolisch zwei Ausdrucksformen religiös-kultureller Schönheit zu nennen, gemeinsam in dieser Stadt existieren werden, beide in verwandelter Gestalt und nicht mehr in Konkurrenz zueinander. Die Schrift endet also nicht mit einem Ferienkatalog mit Strand unter Palmen für erschöpfte Städter, sondern mit einer gewaltigen geistigen Provokation. Wir bekommen etwas gezeigt, das einen Auftrag enthält: so etwas wie die Blaupause des uns nach wie vor irdisch aufgegebenen Lebensraums.
Die Größe der Stadt ist ins Surreale gesteigert: ein Kubus von 12.000 Stadien, also 2200 km (21,15-17). Die Größe dieser Mega-City Gottes überdeckt damit das Imperium Romanum in seiner gesamten Ausdehnung. Auch die Kostbarkeit der Stadt sprengt jedes Maß. Marmor, das ideale Baumaterial einer Kaiserstadt, wird nicht einmal erwähnt. Stattdessen ist die Stadt aus Perlen und Edelsteinen erbaut. Schönheit und Transparenz kennzeichnen sie, nicht Reichtum und Sicherheit.
Polis bedeutet automatisch auch Bürgerschaft, also Sozialordnung als wesentliches Element von Kultur. Es gibt deshalb ein System von Herrschaft im Neuen Jerusalem, aber dieses ist für Bewohner hellenistischer Städte im römischen Imperium geradezu ad absurdum geführt. „Alle ‚Bürger‘ der Stadt sind … ‚Herrscher‘, aber ohne dass es noch von ihnen ‚Beherrschte‘ gäbe.“18 Die Herrschaft der Sklaven Gottes besteht in der Schau des Angesichtes Gottes (21,4). In der Erkenntnis Gottes erfüllt sich aus jüdischer Sicht die Verheißung des Friedens (vgl. Jes 11,9).
Wenn die Herrschaft im Himmlischen Jerusalem Teilhabe an der eschatologischen Herrschaft des Lammes ist, liegt darin aus heutiger Perspektive eine Korrektur der anthropozentrischen Entwicklung des biblischen Schöpfungsauftrags, der zur Unterwerfung der Erde geführt hat. „Herrschaft“ im neuen Jerusalem bedeutet menschliche Ökologie aus der gemeinsamen Verantwortung vor Gott und inspiriert damit eine ganzheitliche Ökologie der Stadt, die ein Gleichgewicht von Biosphäre und Technosphäre umfasst. Würde ein heutiger Seher eine Fabrik zeigen, aus deren Abflüssen Heilwasser strömen, in denen Kinder baden? Ist er ein antikes Pendent visionärer Städteplaner, die heute eine Müllverbrennungsanlage als Fernwärmeerzeugung bauen und darauf eine grüne Skipiste als Raum der Erholung und Begegnung für Städter setzen?19
Menschen als Raum: a new spatial contract
Wo sind die Menschen im himmlischen Jerusalem? Es scheint menschenleer zu sein. Auch gibt es keine Häuser für Menschen in dieser Stadt, keinen abgeschlossenen Wohnraum, nur Straßen und Tore als die biblischen und orientalischen Orte der Kommunikation. Alles ist Bewegung im Licht, freie und ungehinderte, angstfreie Begegnung und Austausch auf ihrer Straße aus „reinem Gold, wie aus klarem Glas“ (21,21). Das Neue Jerusalem zeigt nicht einen Raum für Menschen, sondern es zeigt Menschen als Raum.20 Eine neue Art von Grenzen überschreitender Beziehung wird als neue Art von gemeinschaftlich bewohntem Raum imaginiert: Spatiale und personale Kategorien veranschaulichen sich gegenseitig und bilden so eine Vision des Friedens. Der Reichtum der Völker und Kulturen wird in diese Stadt gebracht, die ohne die bedrohliche Nacht keinen Ausschluss und keine Abgrenzung mehr nötig hat und ihre Tore deshalb nicht schließt (21,24-26). Das bedeutet, dass in dieser Stadt alle Nationen ein Wohnrecht erhalten: „Jeder ist dort geboren“ (Ps 87,5). Die Mega-City Gottes ist eine „Arrival City“21 im wörtlichen Sinn, eine Stadt der gastfreundlichen Ankunft, die es sich leisten kann, ihre Tore offen zu halten.
Im Neuen Jerusalem verkörpert sich ein neuer Raumvertrag (spacial contract), wie ihn zeitgenössische Städte- und Raumplanerinnen angesichts zunehmender politischer Spaltung und wachsender ökonomischer Ungleichheit fordern und zu verwirklichen trachten. How will we live together? Das ist die brennende Frage in einer Welt verdichteter Städte, in denen Menschen trotz zunehmender Individualisierung danach verlangen, sich miteinander und mit anderen Spezies im digitalen und realen Raum zu verbinden. „How will wie live together“ ist deshalb das Thema der aktuell in Venedig zu sehenden Biennale Architettura 2021. Hashim Sarkis, ihr Kurator, formuliert das Gesuchte: „Ein Raumvertrag könnte ein Gesellschaftsvertrag sein. Wir suchen nach einem Raumvertrag, der gleichzeitig universell und inklusiv ist, ein erweiterter Vertrag für Völker und Arten, um in ihrer Pluralität zu koexistieren und zu gedeihen.“22 Der – virtuelle – Gang durch die Weltausstellung liest sich als faszinierender Midrasch der biblischen Utopie, konzipiert und realisiert von Architekten, Ingenieurinnen, Handwerkern, Künstlerinnen, Politikern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt. Das zeigt die Aktualität der Himmlischen Stadt und ihrer spatialen Utopie, die in der theologischen Eschatologie aus dem Blick geraten ist. Der Reichtum der Kreativität, der Sorge, der Verantwortung und des Optimismus, der in der Weltausstellung zu sehen ist, ist ein wohltuender Kontrapunkt zu manchen Zukunftsszenarien, die im apokalyptischen Alarmismus der Katastrophe stehenbleiben, Babylon ohne Jerusalem. Demgegenüber fand ich in Venedig den Geist von Laudato si‘ konkretisiert: Das gesuchte Miteinander ist Stadt, urbaner Lebensraum in ökologischer Verantwortung geworden.
Das Wichtigste, was der Seher in dieser Stadt sieht, ist das, was er nicht sieht: „Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (21,22). Auch Gott hat kein „Haus“ mehr, denn sein „Thron“ ist auf einem Platz in der Mitte der Stadt; genauer gesagt ist die ganze Stadt der Platz, dessen Mitte der Thron ist. Die Vision zeigt keinen Raum für Gott, sondern Gott als Raum.23 Das bedeutet keine Verneinung des Kultes, sondern seine Radikalisierung: Es ist der radikalisierte Kult, die Heiligkeit Gottes selbst, die sich universal ausbreitet, das Profane ergreift und es sich verwandelnd einverleibt. Deshalb gibt es keine Trennung mehr zwischen heilig und profan, und selbst die Grenze von Leben und Tod, Gott und Mensch sind in diesem Wirkraum des Geistes aufgehoben. Die neue Stadt ist die grenzenlos sich ausbreitende Wirksamkeit des Auferstandenen.
Die himmlische Stadt Jerusalem gibt der Botschaft der Auferstehung eine visionäre und zugleich konkrete Gestalt. In ihr wird die ordnende Kraft, die „vielbunte Weisheit“ (Eph 3,10) und Schönheit Gottes, das Wirken des Geistes, städtebaulich visualisiert. Sie ist der nicht von Händen gemachte Tempel des Auferstandenen (Mk 14,58, vgl. Joh 2,21). Das vollendete Heiligtum ist biblisch jedoch das Zentrum des Kosmos; wenn Gott darin wohnt, bewohnt er darin auch den vollendeten Kosmos. Die Bewegung der vollendenden Transformation, die auch den Kosmos ergreift, geht aus vom Lamm, das geschlachtet ist und aufrecht steht, vom gekreuzigten und auferstandenen Christus, der im Geist gegenwärtig ist und wirkt.
Das Neue Jerusalem – Gabe des Lebens
Der kristallklare Lebensstrom, der bei Ezechiel vom Tempel ausgeht (Ez 47,1 ff.), strömt im Himmlischen Jerusalem vom Thron Gottes und des Lammes aus mitten durch die Stadt. Die Stadt ist der erneuerte Garten Eden mit dem Baum des Lebens für alle, ein Heilgarten für die Völker (vgl. Jes 30,26). Wozu bedarf es der Heilung, wenn die Tränen abgewischt sind und Geschrei und Schmerz nicht mehr sein wird? Nichts Verfluchtes wird mehr sein (22,3) – die Trennung von Gott, die im Fluch unter dem Baum ihren Anfang nahm, wird sich nicht wiederholen. Der Heilungsprozess, der vom Lamm ausgeht, wird jedoch nicht zum Ende kommen, sondern eine dauerhafte Erfahrung von Heilung sein, die alle Völker erreicht. Wie der Glanz der Stadt, die Dynamik der Liebe, nicht erlischt, so endet auch nicht die Heilerfahrung der Völker in ihr, denn beides geht von derselben Quelle aus. Vielleicht könnte man hier auf das Johannesevangelium verweisen, das die Wundmale im Körper des Auferstandenen zeigt und zu einem Ort der Gotteserkenntnis werden lässt. Indem sich die Leserin der Schau des Heilgartens aussetzt, erfährt sie eine Heilung ihrer verwundeten Imagination.
Die Stadt Gottes, der urbane Lebensraum für die Völker, ist als Vollendung des Humanum vorgestellt. In einer Gegenwart, die sich der Grenzen der menschengeformten Erde bewusst wird und in der vom posthumanen Zeitalter geredet wird, ist das provozierend. Wo bleiben in dieser Vision der Vollendung die Pflanzen – die Fruchtbäume sind nur als Heilmittel für die Menschen da; wo bleiben die Tiere? Das himmlische Jerusalem ist zweifellos eine auf den Menschen zentrierte Schau. Es ist die Geschichte der Menschen, die in der neuen Stadt eine Therapie erfährt und sie zu einem Heilgarten macht, einer neuen Gemeinschaft der Völker, die ihren Reichtum in einer „lebensförderlichen Differenzkultur“24 teilen.
Ist das neue Jerusalem im heutigen Sinn anthropozentrisch? So hat man es lange gelesen. Die Vollendung der Schöpfung war lediglich als Teilhabe an der Vollendung der Menschen im Blick. Menschen heute lesen die neue Stadt vor dem Hintergrund ihrer Sorge um die für die Noch-nicht-Geborenen bedrohte Erde. Sie suchen nach Quellen der Inspiration für ihre Verantwortung und nach den Ressourcen, aus denen sie sich nähren kann. Was die Heilige Schrift uns anbietet: die Hoffnung aus der Botschaft der Auferstehung, an die sich christliche Theologie freilich neu annähern muss. Sie kann sie heute nicht nur individualistisch denken, sondern muss sie ausdehnen auf die Lebenden, Toten und auch auf die Noch-nicht-Geborenen.25 Alte Menschen und damit viele Gläubige in unserm Land sind vielleicht in besonderer Weise offen für diese geheimnisvolle Verbindung alles Lebendigen. Auch der Lebensraum, den uns die Schöpfung für menschliches Leben zur Verfügung stellt, ist in diese Hoffnung einbezogen. Aus einer solchen, mystisch zu nennenden Sicht auf eine Einheit alles Geschaffenen können sich ethische Entscheidungen und konkretes Tun speisen, im Kleinen wie im Großen. Gläubige Menschen wissen, dass auch das Gebet ein wirkmächtiges Tun ist, aber genauso ein oft verborgener Kampf.
Ein letzter Gedanke im Blick auf Planet City, die irdische Schwester der himmlischen Stadt. Der biblische Seher sieht das Heiligtum im Zentrum des Kosmos. Sein biblisch-kultisches Denken konzipiert Heiligkeit nach der Unterscheidung drinnen und draußen, auch wenn von drinnen her die Heiligkeit das Draußen immer mehr ergreift. Der zeitgenössische Seher nimmt die Stadt aus dem Zentrum und baut sie an den Rand, um dem Planeten seinen Lebensraum zurückzugeben. Er nimmt den Menschen und seinen Lebensraum zurück in einem Akt radikaler Selbstlosigkeit, wie ihn Hans Jonas in seiner Ethik der nicht-reziproken Verantwortung fordert.26 Der Mensch hält sich selber draußen, damit die Heiligkeit wieder sichtbar werden kann. Darin mag man biblisch die „dunkle Epiphanie“ von Golgota erkennen.
Die Johannesoffenbarung endet nach all ihren katastrophisch-apokalyptischen Bildern mit der strahlenden Epiphanie. Sie will die von dunklen Bildern gequälte Imagination ihrer Leserinnen heilen. Als apokalyptische Schrift kennt sie die Drohrede, die mahnend zu Umkehr aufruft. Sie weiß vom Zorn Gottes, der dem Bösen eine Grenze setzen wird und die Stimme der Opfer hört. Ihr prophetischer Charakter bleibt dabei jedoch nicht stehen, sondern wagt die Schau der Gabe des Lebens, das umsonst gegeben wird (21,6). Die Gabe konkretisiert sich im neuen Lebensraum der Stadt, die von Gott her am Kommen ist. In dieser pneumatischen Christusgestalt ist Gott im Kommen: Mit dieser Zusage endet die Heilige Schrift. FINE.