Ein Bischof erzählte mir einmal, wie es ist, wenn sein Bistum in den Schlagzeilen steht, weil Missbrauch ans Tageslicht kommt. Dann nähern sich die Kollegen während der Vollversammlung der Bischofskonferenz, klopfen ihm bedauernd auf die Schultern und sagen: „Du armer Kerl, bei dir ist ja etwas los!“ Da kann er nur erwidern: „Aus der Tatsache, dass bei dir nichts ans Tageslicht kommt, lässt sich nicht folgern, dass bei dir nichts los ist, mehr noch: Es macht mit Sorgen, dass bei dir noch nichts ans Tageslicht gekommen ist.“
Im November 2018, zwei Monate nach Veröffentlichung der MHG-Studie in Deutschland, gab die französische Bischofskonferenz die Gründung einer unabhängigen Kommission in Auftrag. Ihr Vorsitzender, der ehemalige Richter Jean-Marc Sauvé, legte nun am 5.10.2021 seinen Bericht vor: Seit 1950 wurden zwischen 2900 und 3200 Missbrauchstäter (Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter) festgestellt. Die MHG-Studie hatte für Deutschland mindestens 1670 Beschuldigte (mehrheitlich Priester) ermittelt, sowie 3677 Betroffene. Sauvé ermittelte nun die immense Zahl von mehr als 300.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die niedrigeren Betroffenen-Zahlen in der MHG-Studie ergeben sich lediglich aus der Tatsache, dass sie als „Hellfeldstudie“ angelegt war, die per definitionem nur tatsächlich belegte Verdachtsfälle aufnimmt. Die französische Kommission entschied sich hingegen für eine „Dunkelfeldstudie“. 28.000 Personen wurden befragt, um die Betroffenenzahlen mit statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf die gesamte Bevölkerung hochzurechnen. Jörg Fegert, der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, hatte 2019 bereits eine ebenfalls sechsstellige Zahl von wahrscheinlich Betroffenen in Deutschland errechnet.
Zur Interpretation der Zahlen im Detail lohnt es sich, das Interview der Katholischen Nachrichtenagentur vom 13.10.2021 mit Harald Dreßing, Leiter der MHG-Studie, nachzulesen. Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Die französische Bischofskonferenz beauftragte mit Sauvé eine hoch anerkannte Person des öffentlichen Lebens und ließ ihr völlig freie Hand, die Kommission zusammenzustellen. Sie hatte Zugang zu allen Archiven in den Diözesen. Mit ihren finanziellen Mitteln konnte sie selbst wissenschaftliche Studien vergeben. So bleiben der französischen Studie unwürdige Debatten – wie die um die 2012 abgesagte Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer – sowie Verdächtigungen wegen ungenügender Unabhängigkeit erspart. Auch für das Feindbild eines gegen die Kirche wütenden Jakobiners eignet sich Sauvé nicht. Im Interview mit La Croix äußerte er sich am 1.6.2018 zu seiner kirchlichen Herkunft: „Meine Eltern waren beide sehr gläubig und sehr offen für andere. Sie haben ihren Glauben und ihre Praxis nicht von der Präsenz in der Welt getrennt, in der Solidarität und Nächstenliebe gelebt und erfahren werden.“
Zahlen hin oder her – spätestens jetzt ist das Thema des Missbrauchs in Frankreich und in der französischen Kirche angekommen. Die ganze Wucht der Anklage kulminierte in den Worten von François Devaux, selbst Missbrauchsopfer und Gründer der Vereinigung „La Parole Libérée“: „Was Sie verstehen müssen, meine Herren, ist: Sie sind eine Schande für die Menschlichkeit.“ Mich erinnern diese Worte an die Wucht der Anklage, die uns Jesuiten in Deutschland in Frühjahr 2010 traf. Da hat es keinen Zweck, zwischen angeklagtem System und angeklagter Person zu differenzieren, auf Sportvereine hinzuweisen oder über einzelne Täter oder damalige Personalverantwortliche zu schimpfen: Die Wucht der Anklage will gehört und ernst genommen werden. Sie geht über Einzelpersonen hinaus. Was aus ihr für das Selbstverhältnis als Orden und als Kirche folgt, kann dann nur in einer wirklich tiefgehenden, unterscheidenden Reflexion erfolgen.
Manche in der Kirche werden nun mit Bedauern nach Frankreich schauen: „Die armen Franzosen, bei denen ist aber was los!“ Dabei hat es in den letzten Jahren an aufklärenden Publikationen über Missbrauch in der Kirche auch dort nicht gemangelt. Die Bereitschaft einer Gesellschaft, Berichte über Missbrauch in ihrer grunderschütternden Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen, scheint einem Gesetz des langsamen Wachstums zu unterliegen. Es kommen sozusagen kontrapunktisch mehrere Faktoren zusammen, bis die Blase platzt – in Frankreich zuletzt wohl auch der Bericht Camille Kouchners über den Missbrauch ihres Stiefvaters im Mitterand-Umfeld, der eine breite gesellschaftliche Debatte in Frankreich auslöste. Weil die Erschütterung einer Nation nicht planbar ist, können andere Nationen auch nur begrenzt daraus lernen. Viele Ortskirchen und auch der Vatikan werden sich noch eines Tages die Augen reiben und fragen: „Wie konnten wir nur denken, dass das nur bei den anderen so ein großes ein Problem ist?“ Proaktiv kann man sich vielleicht ein wenig auf die Erschütterung vorbereiten. Aber vorwegnehmen lässt sie sich nicht. Das gehört zum geistlichen Ernst der Erschütterung.