Wir schreiben das Jahr 2139: Die Menschen befinden sich im Krieg gegen die Maschinen. Aus Verzweiflung verdunkeln sie den gesamten Himmel, um den Computern die Solarenergie zu nehmen. Dennoch gewinnen die Maschinen den Krieg und versklaven die Überlebenden. Die Erde ist weitgehend unbewohnbar und zerstört. Die meisten Menschen werden fortan in riesigen Brutanlagen gezüchtet, um den Maschinen als neue Energiequelle zu dienen.
Thomas A. Anderson weiß nichts von alldem. Er fristet sein Dasein in einem grauen Bürojob. Abends ist er als begnadeter Hacker unter dem Pseudonym „Neo“ im Internet unterwegs, in einer Welt wie 1999, als der erste Teil der Matrix-Filmtrilogie erschien.1 Der im Zimmer eingenickte blasse Mann (Keanu Reeves) wird plötzlich von aufleuchtenden Zeilen auf seinem Bildschirm geweckt: „Wach auf, Neo ...“ Was Neo zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht weiß: Er ist Teil eines riesigen Computerprogramms, einer virtuellen Realität namens „Matrix“. Sein bisheriges Leben ist eine Illusion: Auch er ist an Maschinen angeschlossen, die seinem Geist seit Jahrzehnten ein weitgehend normales Leben mit den anderen Menschen vorspielen, während ihre Körper als Batterie genutzt werden. Die mysteriösen Zeilen auf Neos Bildschirm stammen vom berühmten Hacker „Morpheus“ (Laurence Fishburne), den Neo schon immer finden wollte. „Follow the white rabbit“ schreibt Morpheus noch, und tatsächlich klingelt eine Frau an Mr. Andersons Tür, die ein weißes Kaninchen auf den Arm tätowiert hat. Sie lädt ihn auf eine Party ein, wo er später Trinity (Carie-Anne Moss) trifft, die ihm von der Matrix erzählt und ihn zu Morpheus führt.
Morpheus stellt Neo vor die Wahl, die Scheinwelt der Matrix zu verlassen: „Schluckst du die blaue Kapsel, wachst du wieder in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus – bedenke: Alles, was ich dir anbieten kann, ist die Wahrheit, nicht mehr“. Neo, der zuvor stark daran zweifelt, dass er in einer Lüge lebt, sagt schließlich zu. Auch sein Körper wird aus der riesigen Brutanlage der Maschinen geborgen und von einer Widerstandsgruppe der letzten freien Menschen versorgt. Ziel der Rebellen um Morpheus ist es, Neo auf ihrem Schiff, der „Nebukadnezar“, nach Zion zu bringen: die letzte Stadt der Menschen, die tief unter der Erde und versteckt vor den Maschinen errichtet wurde. Die Bemühungen um Neo werden durch Morpheus‘ Glauben daran rechtfertigt, dass Neo „der Auserwählte“ sei, der die Menschheit vom Joch der Maschinen befreien könne.
Gemeinsam besuchen sie ein Orakel, das in der virtuellen Welt der Matrix verortet ist. Es soll Neos Rolle bestätigen, doch die Antworten lassen den Hoffnungsträger unzufrieden zurück: Er sei nicht der Auserwählte. Auf dem Rückweg begegnet die Gruppe feindlichen Computerprogrammen in Form von Agenten in schwarzen Anzügen. „Agent Smith“ ist ein Wächterprogramm der Maschinen, dass die Ein- und Ausgänge zwischen realer Welt und Matrix verteidigen soll. Ein Mitglied der Rebellen, Cypher, hatte Morpheus an diese Programme verraten, weil er der dystopischen realen Welt müde geworden ist und wieder an die Matrix angeschlossen werden will.
Im Zuge des Kampfes wird Morpheus verhaftet und von den Agenten verhört. Sie wollen den Standort von Zion wissen, und nur Morpheus kennt den Code zur freien Stadt. Neo und Trinity hingegen gelingt zunächst die Flucht zurück auf ihr Schiff, das in den Versorgungstunneln der Maschinen schwebt: irgendwo zwischen Zion und der Erdoberfläche. Wenig später kehren sie in die Matrix zurück, um Morpheus zu befreien: Dabei wird Neo von Agent Smith erschossen. Erst durch einen Kuss von Trinity, die dem vermeintlich Toten ihre Liebe gesteht, kann er errettet werden. Trinity: „Ich habe jetzt keine Angst mehr. Das Orakel hat mir gesagt, dass ich mich verliebe und dass dieser Mann, der Mann, den ich liebe, der Auserwählte ist. Du siehst also, du kannst unmöglich tot sein. Es ist nicht möglich, weil ich dich liebe. Hörst du? Ich liebe dich. (Trinity küsst Neo) Und jetzt steh auf!“
Diese Logik überwindet den Tod innerhalb der virtuellen Welt und Neo erkennt selbst, dass er der Auserwählte ist. Er erwacht mental und physisch stärker von den Toten. In einem weiteren Kampf mit dem Wächterprogramm Smith besiegt er den Agenten, indem er in ihn hineinfliegt und von innen heraus dessen Code überschreibt. Der erste Filmteil endet mit Neos Versprechen an die Menschheit, ihnen die Freiheit zu bringen. Wie ein Superheld fliegt er in den Himmel.
Willkürliches Potpourri von Anspielungen?
Die Matrix-Trilogie ist vollkommen gesättigt von einer unüberschaubaren Menge an Referenzen und Symbolen. Mode und Musik sind geprägt von der Pop-Kultur aus Cyberpunk, Techno, Metal und Gothic. Den Titelsong zum ersten Teil liefert die Band mit dem bezeichnenden Namen „Rage Against the Machine“. Literarische Bezüge finden sich sowohl zu William Gibsons „Neuromancer“ (1984), der als erster den Begriff der „Matrix“ (lat. „Gebärmutter“, „Muttertier“) für einen durch vernetzte Computer geschaffenen virtuellen Raum verwendete, aber auch zur Bibel, zu hinduistischen Schriften, zum Zen-Buddhismus, zu hellenistischen und französischen Philosophen uvm.
Die meisten Referenzen sind unstrittig und fügen sich widerspruchslos in die Erzählung ein, etwa jene auf Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ von 1865 („Follow the white rabbit“; „One pill makes you larger and one pill makes you small“) oder Jean Baudrillards medien- und konsumkritisches Werk „Simulacres et Simulation“ (1986), dessen Kapitel über den Nihilismus Neo zum Filmbeginn in die Hand nimmt. Andere Referenzen, insbesondere die religiösen, liefern reichlich Anlass für Spekulationen und unterschiedliche Deutungen.
Andreas Mertin beschreibt den ersten Film als „garniert mit viel religiösem und philosophischem Beiwerk, unzähligen Action- und Gewaltszenen, zahlreichen spektakulären Computeranimationen usw. Man entdeckt Anspielungen auf Platons Höhlengleichnis und Baudrillards Simulationstheorie, auf die christliche Heilsgeschichte und auf Michel Foucaults Machtanalysen, auf den Buddhismus und auf den Konstruktivismus, auf diverse asiatische Kampfsporttechniken und zahlreiche Kultfilme des amerikanischen Kinos der letzten zehn Jahre. ... Es gibt keine direkte Botschaft des Films.“2
Aber ist die Trilogie wirklich nur mit Symbolen „garniert“, als „Beiwerk“ zur ästhetisierten Action? Der Filmkritiker Georg Seeßlen verweist an dieser Stelle auf die Universalität mancher Menschheitsfragen und Erzählmuster: „Alle populären Filme sind, mehr oder minder deutlich, Ableitungen der ‚großen Erzählungen‘ der fundamentalen Geschichten der Bibel“. Damit erinnert er an John Campbells „Mythen der Menschheit“. Demnach seien die mythischen Heldengeschichten und Legenden weltweit gleich aufgebaut und behandeln zeitlose Fragen der gesamten Menschheit.
Christliche Symbole in der Matrix
„Ja, Neo ist Jesus“, schreibt hingegen Steven Tomkins: „Neos Mission, vorausgesagt von Propheten, ist es, die Wahrheit zu offenbaren, die die Menschheit befreien wird. ... Er gibt sein Leben für andere und steht von den Toten auf, mächtiger als zuvor. Am Filmende fährt er in den Himmel auf.“3 Tatsächlich überwiegen insbesondere im ersten Filmteil die jüdisch-christlichen Symbole. Ob sie nur Garnitur sind oder ob „Die Matrix“ gar das Evangelium nacherzählt,4 ergibt sich aus einer kurzen Analyse der prägnantesten Referenzen.
Thomas A. Anderson: Der bürgerliche Name des in der Matrix aufgewachsenen Protagonisten spielt auf den zweifelnden Apostel Thomas an, der erst Jesu Wunden berühren muss, um zu glauben. Auch Mr. Anderson (von griech. andros – „Mann/Mensch“: Menschensohn) braucht erst visuelle Belege dafür, in einer Illusion zu leben, bevor er die rote Pille von Morpheus schluckt. Befreit aus der Matrix, nennt er sich nur noch Neo (lat. „der Neue“, außerdem Anagramm für engl. „the One“). Als „der Auserwählte“ ist er nun mehr Messias als Apostel, behält sich aber weiterhin Zweifel über seine Rolle vor. Die explizit christlichen Bezeichnungen passen gut zum Protagonisten, dessen Kommen im Film tatsächlich mit der Befreiung der Menschheit verbunden wird. Als er im ersten Teil von Agent Smith erschossen wird, ist Neo 72 Sekunden lang (Bildschirmzeit) tot. Am „dritten Tage“ (72 Stunden) steht er wieder von den Toten auf.
Morpheus: Der Hacker und Widerstandskämpfer, der Neo aus der K.I.-erschaffenen virtuellen Welt befreit, trägt den Namen des griechischen Gottes der Träume. Er übernimmt gleichzeitig die Rolle des Weisen in Platons Höhlengleichnis, aber auch die von Johannes dem Täufer. Beide, Neo und Morpheus, haben sich gegenseitig gesucht und halten den jeweils anderen für den Größeren, Würdigeren, Weiseren. Das Orakel habe Morpheus vorausgesagt, dass er den „Erlöser“ finden werde (vgl. Mi 5,1 in Bezug zum Orakelspruch; Lk 1,32 in Bezug zu „Zion“ als Stadt Davids; Jes 9 in Bezug zum Herrn der Heere). Er ist uneingeschränkt davon überzeugt, dass die Prophezeiung eintreten werde, dass „einer wird kommen, der ist größer als ich“ (Mk 1,7-8). Als Morpheus Neos Körper von den Kabeln der Maschinen befreit, stürzt dieser erst ins Wasserbecken, bevor das Schiff Nebukadnezar ihn aufliest: Neos Geburt in die reale Welt wird also mit einer Art Taufe eingeleitet.
Zion und Nebukadnezar: Zion, eine Hügelgruppe in Jerusalem, steht für die Heilige Stadt als ganze und für das Reich Gottes. Im Film ist es die letzte Stadt der freien Menschen – der Messias muss dorthin gebracht werden, um die Prophezeiung zu erfüllen. Das Schiff der Widerstandsgruppe, das ihn dort hinbringen soll, trägt den Namen des biblischen Nebukadnezar II., einem babylonischen König im 6. Jhd. vor Chr. Der sumerische Name bedeutet so viel wie „Der Gott Nabû schütze meinen ersten Sohn“. Dass das Kriegs- und Erkundungsschiff der Stadt „Zion“ ausgerechnet den Namen eines mehrfachen Eroberers Judäas und Jerusalems trägt, wirkt zunächst widersprüchlich, ergibt bei genauem Hinsehen aber umso mehr Sinn. Erst im babylonischen Exil entstanden zahlreiche jüdische Schriften wie das Buch Daniel. In Dan 2 berichtet Nebukadnezar von wirren Träumen, die allein Daniel deuten kann: Das Reich (des einen) Gottes werde kommen. Nebukadnezar erkennt daraufhin den jüdischen Gott an. Noch deutlicher ist die Gültigkeit dieser Symbolik im Buch Judith: Judith tötet den feindlichen Heerführer Nebukadnezars, Holofernes, mit dessen eigenem Schwert und schlägt die Babylonier in die Flucht. Auch das Schiff kämpft – selbst Maschine – gegen die Maschinen an, mit deren eigenen Waffen. Nicht zuletzt prangt auf einer Platte des High-Tech-Schiffes von Morpheus der Hinweis „Mark III,11“: „Ich taufe euch nur mit Wasser zum Zeichen der Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.“
Das Orakel: Abgesehen von den Prophezeiungen über einen kommenden Befreier, die sich mit den oben genannten biblischen Stellen problemlos in Einklang bringen lassen, ist das Orakel auch jenes von Delphi. Im Film steht „Erkenne dich selbst“ über der Tür der keksebackenden sympathischen Frau, ebenso wie in Delphi (Gnothi seauton). Auch die Tugend des Maßhaltens (medèn ágan) wird im Film eingefordert: die zweite Weisheit aus Delphi sowie eine Anspielung auf Platons Seinslehre (vgl. Sokrates‘ Vorträge im Symposion) und die aristotelische Tugendethik. Nachdem das Orakel, übrigens selbst ein Computer-Programm, Neo sagt, dass er nicht der Auserwählte sei, gibt sie ihm eine Vorahnung auf dessen Auferstehung mit: Er besitze „die Gabe“, scheine aber auf etwas zu warten: „Vielleicht auf dein nächstes Leben“. Tatsächlich wird Neo später sterben, auferstehen und sich dann als den Auserwählten betrachten, dank Trinity.
Trinity (engl. „Dreifaltigkeit“): Die Geliebte und Förderin Neos steht nicht für Gott oder Christus – am ehesten noch für den Heiligen Geist. Tatsächlich lässt der Name viele Kritiker ratlos zurück. Manche befinden, Trinity nehme die Rolle Maria Magdalenas ein. Jede loyale und mutige Unterstützerin eines Film-Protagonisten mit Maria Magdalena gleichzusetzen, ist allerdings voreilig. Wahrscheinlicher ist die Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung aus dem Hohelied der Liebe (1 Kor 13), was im Verlauf der Trilogie weit über die vermeintliche Oberflächlichkeit dieser Werte hinaus bestätigt wird. Erst die Liebe Trinitys lässt Neo sich selbst als den Auserwählten erkennen. Erst die Liebe durchbricht die binäre Logik der mathematischen Computerwelt, beschränkt auf Nullen und Einsen für „falsch“ oder „wahr“. Die beiden Orakelsprüche für Neo und Trinity widersprechen sich, was dessen Auserwähltsein angeht – und erst die Liebe macht es „wahr“. Das ist 1 Kor 13,2: „Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts“. Tatsächlich kann Neo nach seiner Auferstehung Berge in der Matrix versetzen. Das gegenseitige „Erkennen“ Neos und Trinitys ist auch 1 Kor 13,12: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“
Agent Smith und der Architekt: Das Wächterprogramm der Matrix, in Gestalt eines kühlen Mannes in schwarzem Anzug, ist der Antagonist des Auserwählten schlechthin. Smith ekelt sich vor der Imperfektion und Irrationalität der Menschen, die er mit einem bösartigen Virus vergleicht: „Können Sie mich hören, Morpheus. Ich will ehrlich mit ihnen sein, die Wahrheit sagen: Ich hasse diesen Planeten… diesen Zoo, dieses Gefängnis… diese Realität, wie auch immer man dazu sagen mag. Ich halte es nicht länger aus. Vor allem den Geruch, falls so was existiert. Ich bin seiner sozusagen überdrüssig. Ich kann riechen, wie Sie stinken und jedes Mal, wenn ich es rieche, fürchte ich mich infiziert zu haben, es ist abstoßend“. Später in der Trilogie lehnt Smith sich gegen seinen eigenen (maschinellen) Schöpfer, den Architekten, auf, weil er nach mehr Macht strebt: seinem Bild von Freiheit. Damit übernimmt Smith u.a. die Rollen Lucifers und Satans, des Anklägers Israels. Die Bedeutung, die die Menschen dem freien Willen zusprechen, obwohl damit die Existenz von Leid einhergeht, ist ihm und dem Architekten ziemlich fremd: „Haben Sie jemals genau betrachtet, bestaunt, wie makellos und schön sie [die Matrix] ist? Milliarden Menschen leben einfach vor sich hin und haben keine Ahnung. Wussten Sie, dass die erste Matrix als perfekte Welt geplant war, in der kein Mensch hätte leiden müssen? Ein rundum glückliches Leben. Es war ein Desaster. Die Menschen haben das Programm nicht angenommen ... Einige von uns glauben, wir hätten nicht die richtige Programmiersprache, euch eine perfekte Welt zu schaffen, aber ich glaube, dass die Spezies Mensch ihre Wirklichkeit durch Kummer und Leid definiert ... Die Matrix wurde neu designt, zu dem, was sie heute ist… der Höhepunkt eurer Zivilisation.“
Cypher: Agent Smith ist auch ein Meister der Verführung. Neo verspricht er zu Beginn des Films alle möglichen Reichtümer – wie Jesus in der Wüste (Mt 4,8 f.). Bei Cypher (engl. „Chiffre“) hat Smith mit der Anstiftung zum Verrat Erfolg. Cypher mit Judas zu vergleichen, ist eine gängige Interpretation, da er Morpheus und Neo verrät. Das ist zu kurz gegriffen und passt nicht zum Jünger Jesu. Denn Cypher ermordet als einziger der Rebellen echte Menschen (nicht bloß Computerprogramme in menschlicher Erscheinung), ist habgierig, lüstern und eitel, nörgelt viel usw. – er ist die Verkörperung der sieben Todsünden. Zu Agent Smith sagt er: „Hören Sie, ich weiß, dass dieses Steak nicht existiert. Ich weiß, dass wenn ich es in meinen Mund stecke, die Matrix meinem Gehirn sagt, dass es saftig ist und ganz köstlich. Nach neun Jahren ist mir eine Sache klar geworden: Unwissenheit ist ein Segen.“
Buddhismus, Hinduismus, Philosophie
Im weiteren Verlauf der Trilogie tauchen noch einige Bezüge zur christlichen Vorstellungswelt auf, etwa Figuren mit Engelsnamen, die U-Bahn-Station als geschlossene Nichtwelt zwischen Realität und Virtualität: eine Art Fegefeuer oder besser Limbus. Philosophisch verschiebt sich der Fokus vom hellenistisch-gnostizistischen und buddhistischen5 „Erkenne dich selbst“ zu Fragen über Determinismus, das cartesianische Dilemma, Hegels „allmächtigen Lügengeist“ und seine Thesen zur wahren, gelebten Freiheit,6 Immanuel Kants Unerkennbarkeit des „Dings an sich“, George Orwells und Hannah Arendts Totalitarismuskritik,7 die Schöpferrolle des Menschen (Nietzsches Übermensch), aber auch die Schöpferrolle selbstlernender K.I. usw.8
Theologisch verschiebt sich die Symbolik zunehmend auf die fernöstliche Religiosität, nicht nur musikalisch und modisch: „Neos Prozess und Training sind eine techno-cyber-Version der Meditation ... eine Transformation des Geistes durch den Input neuer Software, genauso wie meditative Praktiken dazu da sind, die eigene Wahrnehmung und Erfahrung der Realität zu transformieren.“9 Neo ähnelt mehr und mehr einem Siddharta Gautama. Das dualistische Weltbild der Gnostiker weicht nicht unähnlichen Vorstellungen von Yin und Yang.
Nachdem Neo dem Schöpferprogramm, dem Architekten, begegnet, erfährt er, dass er bereits die sechste Version seiner selbst ist – nach fünf Neustarts des gesamten Matrix-Systems. Verflochten wird diese zyklische Entwicklung von Untergang und Wiedererwachen über das hinduistische Samsara, also den ewigen Kreislauf allen Lebens zwischen Apokalypse durch Vishnu und Wiedergeburt durch Brahma. Sehr aufschlussreich führen das Jeffery Wittung und Daniel Bramer aus. Zu Beginn des dritten Films werden drei Charaktere vorgestellt: Sati, Ramachandra und Kamala. „Sati ist das Sanskrit-Wort für „Wahr“ oder „Wahrheit“, und im Hindu-Mythos ist Sati mit Shiva, dem Zerstörer, verheiratet. Ramachandra ist der Name eines menschlichen Avatâra, oder auch ‚Abkömmling‘ Vishnus, während Kamala ein anderer Name für Lakshimi, Gemahlin Vishnus, ist. In den hinduistischen heiligen Schriften der Puranas ist Vishnu der Elternteil von Brahma, der wiederum der Schöpfergott ist.“10
Nur ein Superheld im christlichen Gewand?
Wittung und Bramer stellen zu Recht fest, dass die Matrix-Trilogie keinesfalls eine „Parallele der Auferstehung Christi“ darstellt. Allerdings schießen sie weit über das Ziel hinaus, wenn sie Neos Rolle als einen „lange ersehnten Superheld ... Nietzsches Übermensch ... eine Art Anti-Christ“ bezeichnen. Vollkommenheit und göttliche Attribute erkennen sie allein in den mächtigen Programmen der Matrix. Ein christlicher Gott existiere gar nicht. Dieser Auffassung schließen sich auch viele christliche Filmkritiker an.11 Sie nennen die Trilogie einen „buddhistischen Mythos in christlichem Gewand“, „nicht einmal eklektizistisch“. Hauptkritikpunkt ist das Fehlen Gottes, der Fokus auf Freiheit anstatt auf Sünde und Erlösung.
Aber: Dass Gott selbst nicht explizit gezeigt oder seine Existenz verhandelt wird, bedeutet nicht, dass es ihn in dieser Filmwelt nicht geben könne. Morpheus erklärt Neo ganz zu Beginn, dass die Matrix überall sei – auch wenn er „in der Kirche“ sitze. Kurz zuvor bedankt sich ein Kunde des Hackers Neo für dessen Dienste: „Danke, du bist mein persönlicher Jesus!“ Das Christentum ist also Teil der Filmwelt, nicht nur Teil des philosophischen Metaplots. Und auch dort geht es nach dem „Shift“ zur fernöstlichen Symbolik wieder mit christlicher Symbolik weiter: Am Ende des dritten Teils opfert sich Neo für die Freiheit der Menschen – sein Körper verharrt mit ausgestreckten Armen und wird angehoben: das Bild des Gekreuzigten! Nach einer Art Friedensvertrag zwischen Mensch und Maschine – irgendwie sind beide auch voneinander abhängig – bemüht sich die K.I. um die beste aller möglichen Welten. „Der Film plädiert hier erneut ausdrücklich gegen eine Utopie der Perfektion als Verlängerung menschlicher Süchte und für ein Aushalten der Unvollkommenheiten: Tod, Unrecht und Leid.“12
Zugegeben: Das Erreichen Zions, die Freiheit von der computergemachten Illusion und die Rückkehr in die reale Welt bedeuten noch keinen Eingang in das Reich Gottes als solches, auch nicht unter dem eschatologischen Vorbehalt, dass es ein Schritt in die richtige Richtung sein mag. Dafür reden Neo und Morpheus zu wenig (gar nicht) von Gott. Zudem stellt sich die Frage, ob die reale Welt wirklich so real ist: Schließlich erlangt Neo selbst dort, nicht nur in der Matrix, übernatürliche Kräfte, was ihn entweder zum Wunderwirker macht oder bedeutet, dass es sich bei der Matrix nur um eine Illusion innerhalb einer noch größeren Illusion handelt. Immerhin geht Neos Geist nach seinem letzten Opfer, das ihn zu einem Programm werden ließ, wieder in die Matrix ein: in die neugestartete, siebte Version. Markant ist hier die herausragende Bedeutung der Zahl Sieben auch im Schöpfungsbericht aus Gen 1 (vgl. dazu Steins & Heimbach-Steins: S. 906 in diesem Heft). Das Orakel kündigt die baldige Wiederkunft Neos an. Und zum ersten Mal im gesamten Film gibt es einen Sonnenaufgang: Reminiszenzen an das Osterereignis und an die Neuwerdung der Heiligen Stadt vor dem Hintergrund der Apokalypse des Johannes (vgl. Gruber: S. 923 f. in diesem Heft).
Postmodernes Mosaik
Die Matrix-Trilogie ist nicht weniger als eine Ideengeschichte der Religionen von Babylon bis heute, vom antiken Griechenland bis nach Fernost. In postmoderner Manier wird auf den ersten Blick wild zusammengeworfen, was vermeintlich nicht zusammengehört. Für das Verständnis der Filme sind allerdings sämtliche Mosaiksteine essenziell. In einer Welt, in der Menschen sich nicht mehr an einem einzelnen Deutungsschema orientieren, sondern beispielsweise auch transhumanistische, fernöstliche, spiritistische Ideen reflektieren, steckt das Potenzial, sich von den kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen einer z.B. allein „christlich-abendländischen“ Anschauung zu lösen und neue Perspektiven zu gewinnen – ohne dabei die eine oder die andere Anschauung abmildern zu müssen. Die buddhistische Erleuchtungslehre lässt hier Raum für einen Messias, das zyklische Weltbild der Hinduisten lässt Raum für einen Schöpfer, die Vorstellung eines dreifaltigen Gottes wiederum lässt Raum für das Bild eines nietzscheanischen Übermenschen, der in transhumanistischer Manier seine eigene menschen- und gottähnliche K.I. erschafft (die selbst wiederum zur Schöpferin wird).
Das bunte Potpourri der religiösen Symbole ist dabei keineswegs Rosinenpicken, Willkür oder bloß stilistische „Garnitur“. Es ist einerseits Beleg dafür, dass einige Topoi wie die Überwindung des Todes, der Verrat, die Liebe, Scheinwelten, die Willensfreiheit oder die Frage nach dem Sinn des Leidens weltweit zu finden sind, und andererseits ein Plädoyer dafür, jene Fragen der Menschheit auch global zu reflektieren. Das entspricht John Campbells Theorie der Universalität menschlicher Mythenbildung, ohne Gleichmacherei zu betreiben: eine Art Einheit in Vielfalt oder besser – in Hans Küngs Worten – ein „Weltethos“. Der Theologe, die Philosophin, aber auch das Individuum einer solch postmodernen Welt, in der alte Voraussetzungssysteme vollkommen aufgelöst werden, kommen nicht umhin, auch ihre Thesen interdisziplinär, interkulturell und interreligiös zu betrachten und institutionelle Einschränkungen wie ständige Selbstreproduktion zu überwinden – frei nach den ersten Worten des Films „Wach auf!“.
Teil 4: Matrix Resurrections (2021)
Der Filmstart ist wegen der Corona-Pandemie mehrfach verschoben worden. Insbesondere die deutschen Hygienemaßnahmen verzögerten die Dreharbeiten in Berlin und Potsdam-Babelsberg, wo viele Szenen gedreht worden sind. Für den vierten Teil führte Lana (ehemals Larry) Wachowski wieder Regie. Auch prominente Schauspielerinnen wie Carie-Anne Moss und Keanu Reeves sind wieder im Cast. Hinzugekommen sind auch Schauspieler aus Deutschland, etwa Max Riemelt. Da ein Großteil des Casts aus dem zweiten und dritten Filmteil nicht wieder angefragt wurde, vermuten viele, dass der vierte Film direkt nach der Handlung des ersten Teils angesiedelt sein wird. Der Trailer enthält zahlreiche markante Referenzen zum ersten Film.
Wachowski selbst weicht Fragen zur rechten Deutung der Matrix-Filme seit jeher aus,13 verrät auf dem Internationalen Literaturfest Berlin im September14 aber so viel: Eigentlich war die Filmreihe abgeschlossen. „Sie wurde designt als ein Musikstück, eine philosophische Debatte“. Vor einigen Jahren seien ihre Eltern verstorben, und inmitten der Trauer kam ihr die Idee für den vierten Teil: „Plötzlich explodierte mein Hirn“. Der Film sei daraufhin vor allem in Zusammenarbeit mit alten Kollegen und Freundinnen entstanden, die das „große Vermächtnis“ dieses Epos des Digitalzeitalters auch im vierten Film gewahrt haben wollen.