So einen Skandal hatte es in der katholischen Weltkirche bis dahin noch nicht gegeben: Gegen den ranghöchsten Kardinal Österreichs, Hans Hermann Groër, erhob ein ehemaliger Schüler Anfang 1995 Vorwürfe sexuellen Missbrauchs, die dazu führten, dass Groër am Ende sein Amt als Erzbischof von Wien verlor. Aber auch das hatte es noch nicht gegeben: Der Skandal führte zu einem massiven Aufbegehren im Kirchenvolk.
Die fünf knappen Forderungen nach Geschwisterlichkeit, Frauengerechtigkeit, Aufhebung des Zölibatszwangs, positiver Sexualmoral und nach einem Ende kirchlicher Drohbotschaften1 – formuliert als positive Antwort auf den Wiener Kirchenskandal und auf kontroverse Bischofsbestellungen in Österreich – gelten seitdem bei vielen als weltweiter Reformkanon für ein visionäres Kirchenbild. Das, was im Frühjahr 1995 in Innsbruck formuliert wurde, kann rückblickend durchaus als prophetisch bezeichnet werden. Denn es entspricht weithin dem, was die deutsche MHG-Missbrauchsstudie2 als Risikofaktoren sexualisierter Gewalt und ihrer Vertuschung erkannt hat und was nun beim Synodalen Weg in Deutschland thematisiert wird.
Vom Skandal zum Begehren
Zehn Forderungen waren es zunächst, die der Innsbrucker Religionslehrer Thomas Plankensteiner in seinen Klassen als Antwort auf den Groër-Skandal zusammentragen ließ. Gemeinsam mit den Religionspädagoginnen Martha Heizer und Bernadette Wagnleithner wurde diese „Stimme der Jugend“ dann auf fünf Ziele und Forderungen gekürzt. Ohne Computer und Internet, ohne Handy, ohne Pressekontakte und ohne Geld baten die Drei, die auch sonst kirchlich engagiert waren, die Katholikinnen und Katholiken Österreichs um deren Unterschrift. 505.154 Unterschriften kamen in drei Wochen im Juni 1995 zusammen. Sie erlebten, was die Bibel kairós nennt – sie hatten zur richtigen Zeit die richtige Idee und den starken Wunsch, zur Reform der Kirche beizutragen.
Als auch deutsche Zeitungen von der unerwartet hohen Zahl der Unterschriften in dem damals noch zutiefst katholischen Land Österreich berichteten, sprang der Funke nach Deutschland über. Hier waren es die Initiative Kirche von unten und die Leserinitiative Publik-Forum, vertreten durch Dieter Grohmann, Eva-Maria Kiklas und Christian Weisner, die im Herbst 1995 eine breite Debatte über Glaubens- und Kirchenfragen in Gang setzten. Sie konnte auf dem zuvor veröffentlichten ZdK-Papier „Dialog statt Dialogverweigerung“3 und der jahrelangen Arbeit vieler Reformgruppen aufbauen. Obwohl es damals keinen vergleichbaren Skandal wie den in Österreich gab, unterschrieben in Deutschland 1.845.141 Menschen, ein ähnlich hoher Anteil wie in Österreich, die fünf Forderungen des Kirchenvolks-Begehrens. Diese waren unverändert von Österreich übernommen und nur um eine Präambel zur Ökumene ergänzt worden. Der Anregung, auf die Forderung der Frauenweihe zu verzichten, um mehr Unterschriften zu erhalten, wurde nicht gefolgt. Damals und bis jetzt ist der Versuch von Papst Johannes Paul II., mit Ordinatio Sacerdotalis die Nichtzulassung von Frauen zum Priesteramt als unabänderliche kirchliche Lehre festzulegen, gescheitert, ja er hat diese Debatte sogar noch beflügelt (s.u.).
Vom KirchenVolksBegehren
zur KirchenVolksBewegung
Der Name Wir sind Kirche für die aus dem Begehren entstehende Bewegung geht auf ein Wort von Papst Pius XII. aus dem Jahre 1946 zurück: „Die Laien gehörten nicht zur Kirche, sie sind Kirche.“4 Die Volk-Gottes-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils verstärkte diese Aussage Pius XII. In dieser Tradition sah sich Wir sind Kirche und tut dies bis heute. Anders als bei populistischen Bewegungen, die den Begriff „Volk“ für sich willkürlich usurpieren, berief sich Wir sind Kirche auf die Zahl der Unterschriften des KirchenVolksBegehrens. Hier zeigte sich nicht nur eine lautstarke, randständige Minderheit. Vielmehr äußerte sich das „Kirchenvolk“ der Engagierten in Gemeinden und Verbänden. Die Anzahl der Unterschriften entsprach in etwa der Zahl derjenigen Katholikinnen und Katholiken, die sich in jenen Jahren an Pfarrgemeinderatswahlen beteiligten. Gemeinsam mit Ordensleuten und Priestern ging und geht es um eine geschwisterliche Kirche, in der die Kluft zwischen Klerus und Laien überwunden ist. Nach der dogmatischen Konzils-Konstitution Lumen gentium 37 und Can. 212 § 3. haben die Gläubigen „das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten (in angemessener Weise) mitzuteilen.“ Neben vielen anderen ermutigte der Moraltheologe Bernhard Häring CSsR, einer der Erstunterzeichnenden in Deutschland, die Initiative.5
Die Einbeziehung Südtirols in die Unterschriftensammlung baute eine Brücke der Bewegung nach Italien.6 Anfang 1996 erhielten die Kirchenvolks-Begehren Österreich und Deutschland den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. In Österreich formierte sich Wir sind Kirche als Plattform7 mit förmlicher Mitgliedschaft, in Deutschland dagegen bewusst als Bewegung8, um keine aufwendigen Verwaltungsstrukturen aufbauen zu müssen und um Konkurrenzen zu den bestehenden Verbänden zu vermeiden, zumal diese in vielem dieselben Ziele unterstützten. Ende 1996 gründete sich die Internationale Bewegung Wir sind Kirche in Rom, die sich heute Wir sind Kirche International nennt. Über den deutschsprachigen Raum hinaus mit insgesamt fast 2,5 Millionen Unterschriften gab es zwar keine weiteren großen Unterschriftensammlungen mehr. Aber mit Mitgliedsgruppen in mehr als 20 Ländern und in der Vernetzung mit anderen Reformgruppen weltweit hat Wir sind Kirche International seitdem alle Synoden in Rom begleitet und bei den Konklaven 2005 wie auch 2013 die Stimme des Kirchenvolks weltweit zu Gehör gebracht.
Von Anfang an kämpfte die Bewegung mit der Frage, ob die Hierarchie einer weltweiten Glaubensgemeinschaft mit mehr als 1600 Jahren Herrschaftserfahrung seit der konstantinischen Wende allein mit Unterschriften „von unten“ verändert werden könne. Würden Appelle an die Kirchenleitung ausreichen, um grundlegende Veränderungsschritte einzuleiten? Gegen dieses Bollwerk erschien jede Reformbewegung erfolglos. Mut machte jedoch der Blick auf das Erste Testament, das die Geschichte von David und Goliath kennt.
Um bei dieser Frage voranzukommen, brauchte es den doppelten Blick: Auf die Hierarchie, um sie aufmerksam zu machen auf das, was nicht in Ordnung ist und was sie falsch macht, und auf das „Kirchenvolk“ mit der Frage, woran die Menschen durch die Kirche leiden. Schon während der Unterschriftensammlung 1995 wurde daraus der strategische Dreischritt entwickelt: Reformkräfte untereinander vernetzen, „normale“ Gemeinden und Gläubige erreichen und das Handeln der Hierarchie kritisch begleiten – und dies alles als langfristige Strategie der Bildung und Bewusstseinsveränderung in Richtung eines Kirchenbildes im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Widerstände aus der Hierarchie
Die Widerstände seitens der Hierarchie waren von Anfang an erheblich. In Deutschland untersagten 16 von 27 deutschen Bistümern, Unterschriften für das Kirchenvolks-Begehren zu sammeln. In seinem 1996 erschienenen Buch „Salz der Erde“ äußerte sich Joseph Ratzinger kritisch zum KirchenVolksBegehren. Als Präfekt der Glaubenskongregation versuchte er mehrfach, mit Geheimbriefen gegen die KirchenVolksBewegung zu intervenieren. 1996 hieß es in einem solchen an alle deutschsprachigen Bischöfe, diese sollten „die Entwicklung dieser Gruppen weiterhin aus der Nähe (...) verfolgen und eventuell auch Vorkehrungen (…) treffen, damit sich die Gläubigen – und besonders die Priester – nicht aktiv daran beteiligen.“ Im Vorfeld der Ökumenischen Versammlung 1997 in Graz wies er Österreichs Bischöfe an, „dass dieser Initiative, die von der katholischen Kirche nicht als legitim anerkannt ist, weder in der Organisation noch im Verlauf der Ökumenischen Versammlung irgendein Platz eingeräumt werden darf.“
Erst beim „Dialog für Österreich“ in den Jahren 1997/98 hatte Ratzinger dann „keine grundsätzlichen Einwände“ mehr gegen eine „eventuelle, genau zu umschreibende Beteiligung der Gruppe ‚Wir sind Kirche‘. (...) Allerdings müsste in diesem Fall öffentlich klargemacht werden, dass damit keine offizielle kirchliche Anerkennung der Gruppe verbunden ist.“9 Angesichts der katastrophalen Lage der Kirche in Österreich sah sich der Vatikan gezwungen, der Beteiligung der KirchenVolksBewegung, mit der er früher jeglichen Dialog abgelehnt hatte, zuzustimmen. Doch ging es angesichts der Affären Groër und Krenn und des damals bevorstehenden Papstbesuchs in Österreich vermutlich weniger um einen wirklichen Dialog mit der Bewegung als um Abwiegelung, Besänftigung und Vertröstung. Dies zeigt auch die Tatsache, dass der „Dialog für Österreich“ sehr bald wieder abgebrochen wurde.
Ähnliche Erfahrungen mit der Hierarchie gab es in Deutschland. Die Anfang des Jahrtausends in den USA offenbar gewordenen Missbrauchsskandale wurden in Europa, auch in Deutschland, zunächst völlig ignoriert. Nach der Aufdeckung des jahrelangen Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg im Januar 2010 versuchten die Bischöfe es noch, alleine mit einem von ihnen kontrollierten „Dialogprozess“ auf die Situation zu reagieren.10 Doch der Prozess wurde sehr schnell zu einem unverbindlichen „Gesprächsprozess“ in den Jahren 2011 bis 2015 herabgestuft und verlief schließlich im Sande. Erst die Veröffentlichung der Ergebnisse der von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebenen MHG-Studie im Herbst 2018 sowie die Proteste vor allem der Frauen bei der Bischofskonferenz im Frühjahr 2019 in Lingen führten die Bischöfe in Deutschland zur Einsicht, dass sie auf die Zusammenarbeit mit dem Kirchenvolk, in diesem Fall dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, und mit externen Expertinnen und Experten angewiesen sind.
Dass der Synodale Weg nun genau die „Reizthemen“ des KirchenVolksBegehrens – Macht, Zölibat, Sexualmoral und Frauenämter –, die teilweise schon seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Diskussion sind, in offener Debatte behandelt, sieht Wir sind Kirche als Erfolg auch der eigenen Bemühungen. Inzwischen bewertet auch ein Großteil der deutschen Bischöfe die damaligen fünf Forderungen anders. Doch weder beim „Gesprächsprozess“ noch beim Synodalen Weg wurde die KirchenVolksBewegung in Deutschland mit einbezogen.
Kirchenreform und Verantwortung für die Welt
Wir sind Kirche versteht sich weiterhin als Reformbewegung innerhalb der Kirche. Bei allem Verständnis für diejenigen, die es in dieser Kirche nicht mehr aushalten – allein durch Auszug lässt sich diese Kirche nicht verändern. Ihre entscheidende Aufgabe sieht die Bewegung darin, Christinnen und Christen in ihrer Selbstverantwortung zu stärken und zu ermutigen, Kirche zu sein und zu gestalten – so wie es der Name Wir sind Kirche sagt. Dabei findet sie viel Zustimmung bei der Kirchenbasis und auch seitens der wissenschaftlichen Theologie.
Es geht ihr auch nicht nur um den Blick nach innen, wie der kirchlichen Reformbewegung immer wieder vorgehalten wird, oft gerade mit dem Ziel, von den Reformthemen und dem Reformbedarf abzulenken. Im Jahre 2030 wird mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung zu den christlichen Kirchen gehören. Als größte Einzelkirche wird die römisch-katholische Kirche weiterhin einer der letzten „Global Player“ bleiben, eine wichtige, weltweit kulturprägende Bildungsträgerin. Dies bedeutet für sie eine große Verantwortung über die eigene Glaubensgemeinschaft hinaus, eine Verantwortung des ganzen Kirchenvolkes, nicht nur der Hierarchie. Es ist von immensem Einfluss, ob und wie sich die katholische Kirche und auch die gesamte Christenheit in die Überlebensfragen der Menschheit einmischt, welche ethischen Maßstäbe sie verkündet und selber praktiziert, angefangen von der Sexuallehre über die Wirtschaftsethik bis hin zu den Fragen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Und gerade deshalb ist auch die Glaubwürdigkeit der Kirche so wesentlich: Um sie zu ringen bedeutet nicht, dem eitlen Interesse daran zu erliegen, gut dazustehen und Beifall zu bekommen. Aber solange man der katholischen Kirche mit guten Gründen entgegenhalten kann, sie solle zuerst die eigenen Hausaufgaben erledigen, bevor sie anderen gute Ratschläge gibt, wird ihre Stimme für ein „gutes Leben für alle“ schwach bleiben. Und daran haben gerade auch die kirchlichen Reformbewegungen kein Interesse.
Auch angesichts der Weltprobleme sind Pflichtzölibat, Frauenpriestertum und Familienplanung mehr als nur die üblichen innerkatholischen Reizthemen, geht es hier doch um ganz existenzielle Fragen: Wie wird Macht ausgeübt? Wie gestalten Männer und Frauen ihr Leben in dieser Welt? Wie wird Sexualität verantwortlich gelebt? Wie kann die Spannung zwischen Tradition – als Weitergabe des Überlieferten – und notwendiger Erneuerung produktiv gestaltet werden? Fragen der Kirchenreform und Überlebensfragen der Menschheit sind eng miteinander verflochten. Kirche, auch die römisch-katholische, ist keine Arche Noah, die Weltkrisen, Klimakatastrophen und Kriege unbeschadet überstehen wird. Sie darf es auch nicht sein. Daher erklärt sich auch das Drängen nach Reformen in der Kirche. Es geht nicht einfach nur um die Rettung der Institution. Die befreiende Botschaft des Mannes aus Nazaret, der in den Kirchen als der Christus bekannt wird, sein Einsatz für die Marginalisierten, sein Gebot der Nächstenliebe einschließlich der Feindesliebe können wesentlich zur Bewältigung der fundamentalen Menschheitsprobleme beitragen.
Drängende Zeit und langer Atem
Weil die Zeit drängt, schreitet Wir sind Kirche auch in der Praxis weiter voran: So feiern Männer und Frauen die Eucharistie auch ohne Priester (nicht alle machen das öffentlich, andere tun es und nehmen die Exkommunikation in Kauf), Frauen halten Predigten, Gemeindemitglieder akzeptieren Priester, die mit ihren Frauen und Kindern leben, Homosexuelle werden von Priestern gesegnet, Seelsorgende nehmen die Krankensalbung vor, Glieder der evangelischen Kirche werden offiziell zur Eucharistie eingeladen. In seelsorglichen und sozialen Anliegen versucht Wir sind Kirche, konkrete Hilfe zu leisten: Mit den fünf „Herdenbriefen“ in Österreich,11 mit der Schwangerschaftskonfliktberatung „Frauenwürde e.V.“12, dem langjährigen Nottelefon für Betroffene sexualisierter Gewalt13 in Deutschland sowie mit innovativen pastoralen Angeboten von den „Sonntagsbriefen“ bis zu Pilger-Rad-Touren. In Stellungnahmen und Publikationen14 versteht sich Wir sind Kirche nach wie vor mit dem Votum des Kirchenvolksbegehrens im Rücken als „Stimme des Kirchenvolkes“ – und wird zugleich weiter als „Stachel im Fleisch der verfassten Kirche“ wahrgenommen. Neuere Initiativen wie der Eckige Tisch und andere Betroffenen-Organisationen sexualisierter Gewalt, die Initiative Maria 2.0 oder Ordensfrauen für Menschenwürde bestätigen, dass sie auf der langjährigen Vorarbeit von Wir sind Kirche aufbauen.
Auch Kleriker verbinden sich öffentlich mit dem Anliegen und auch mit der Vorgehensweise der KirchenVolksBewegung, so zum Beispiel der „Aufruf zum Ungehorsam“ der österreichischen Pfarrer-Initiative15 und deren weltweite Vernetzung,16 wie auch das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“17 von über 300 deutschsprachigen Theologieprofessorinnen und -professoren. Priestermangel und der damit einhergehende aktuelle Zusammenbruch der klassischen Gemeindepastoral verstärken diese Entwicklung, zumal es immer weniger Kleriker gibt, die die Gemeinden bevormunden könnten.
Wir sind Kirche setzt auch Hoffnung auf Papst Franziskus und seine pastorale Umkehr (conversión pastoral). Sein Pontifikat wird von den Reformkräften als Wendezeit in Rom angesehen18. Johannes Paul II. hingegen leugnete bis zum Schluss seines Pontifikates den Skandal, der Anstoß für das Kirchenvolksbegehren war. Und Joseph Ratzinger, der spätere Benedikt XVI., stellte noch als Glaubenspräfekt 2001 das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker unter das päpstliche Geheimnis. Kurz vor seinem Rücktritt als Papst berief er zudem Kardinal Gerhard Müller als Präfekt der Glaubenskongregation, der bis heute die systemischen Ursachen geistlicher und sexualisierter Gewalt bestreitet – deren Ausmaß auch den Initiatorinnen und Initiatoren des Kirchenvolksbegehrens 1995 noch nicht bewusst war.
Papst Franziskus hat zusammen mit seinem Umfeld von Anfang an die Bedeutung des Kirchenvolkes betont. Mit der entscheidenden Aussage, „dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (Amoris Laetitia 3), gab er der Kirche wieder die Freiheit zum Dialog und zur Entwicklung der Lehre zurück. Zwar gestaltet sich der Prozess seitdem mühsam und zäh. Die anfängliche Papsteuphorie ist in reformkatholischen Kreisen einer größeren Nüchternheit gewichen. Doch andererseits kann auch ein Papst wie Franziskus alleine die geistliche und strukturelle Erneuerung nicht schaffen. Deswegen wird es hier auch weiter auf eine kritisch-loyale Begleitung ankommen.
Gerade an der „Frauenfrage“ zeigt sich die noch nicht überwundene Ambivalenz des Pontifikates von Franziskus. Mehrfach hat Papst Franziskus zwar betont, dass die Kirche um ihrer selbst willen in allen Bereichen, gerade auch in Leitungspositionen, der größeren Präsenz von Frauen bedarf. Doch zu einer Distanzierung vom Schreiben Ordinatio Sacerdotalis, mit dem Papst Johannes Paul II. versuchte, die Diskussion um die Frauenordination zu beenden, konnte er sich noch nicht durchringen. Immer mehr Frauen und auch Männer in der wissenschaftlichen Theologie fügen sich nicht mehr dem Diskussionsverbot. Auch die Geduld der älteren und in den Gemeinden aktiven Frauen sowie der Ordensfrauen kommt ans Ende. Das zeigt das Engagement der katholischen Frauenverbände ebenso wie neuere Bewegungen wie Maria 2.0 und Catholic Women´s Council. Aus der Sicht von Wir sind Kirche sind dies ermutigende „Zeichen der Zeit“, die dem ursprünglichen Impuls des Kirchenvolksbegehrens entsprechen. Und zugleich bleibt langer Atem gefragt.