Haslbeck, Barbara / Heyder, Regina / Leimgruber, Ute / Sandherr-Klemp, Dorothee (Hgg.): Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche.
Münster: Aschendorf 2020. 271 S. Gb. 20,–.
Sexueller Missbrauch an Minderjährigen in der Kirche ist seit gut zehn Jahren im deutschsprachigen Raum ein großes und sehr schmerzhaftes Thema. Spiritueller Missbrauch kommt seit einigen Jahren als neues Thema hinzu. Dass Erwachsene zu Opfern dieser Weisen von Missbrauch werden – und sehr oft sind beide verbunden – ist noch kaum thematisiert, oder es wird weiter bagatellisiert und beiseitegedrängt. Besonders Frauen sind betroffen, in einer Gesellschaft, in denen meist Männer Macht über Frauen haben, und vor allem in einer Kirche, in denen geweihte, also sakral erhöhte Männer über Frauen nochmals besondere Macht ausüben, die oft, wie man sagt, durch „männerbündische“ Strukturen verstärkt wird – sowohl sexueller wie geistlicher Missbrauch ist ja immer Machtmissbrauch. Im September 2019 trafen sich bei einer Tagung in Siegburg 125 Frauen, viele davon persönlich betroffen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen und sie zu reflektieren – ein Meilenstein auf dem Weg, diesen Missbrauch zu erkennen und anzugehen.
Das Buch entstand im Gefolge dieser Tagung. Es vereint Erfahrungsberichte 23 betroffener Frauen; die Texte sind anonymisiert und haben sehr unterschiedlichen Charakter. Erschütternd ist zu lesen, wie Männer, unterstützt oft von anderen Männern und bisweilen auch von Frauen, geistlich manipulieren, die Religion instrumentalisieren, Frauen auf diese Weise unterwerfen und gefügig machen, sie emotional ausbeuten und sehr oft auch sexuell für ihre Bedürfnisse ausnutzen. Meist können die betroffenen Frauen sich nicht wehren, denn der Täter macht sie emotional oder spirituell von sich abhängig. In der Folge entwickeln sie selbst Scham- und Schuldgefühle, sie trauen sich nicht, über ihr Leid zu sprechen, und sie sind eingeschlossen in ein verborgenes und oft unsägliches Leid. Die Berichte erzählen auch, wie betroffene Frauen nochmals traumatisiert wurden: weil ihr Sprechen über das Erlittene oder ihre Suche nach Hilfe nicht ernst genommen wurden, weil sie abgewertet und ausgegrenzt wurden, weil die Machtkartelle die Taten zweifelhaft rechtfertigten und vertuschten, weil die Männerbünde zusammenhielten und die darin Beteiligten sich gegenseitig schützten.
Ergänzt wird das Buch durch reflektierende Beiträge der Herausgeberinnen und anderer Fachfrauen, mit systemischen und traumatologischen Erkenntnissen, mit Hinweisen zur Vulnerabilität und zum möglichen Widerstand, auch mit einem Text darüber, wie biblische Texte missbraucht werden, um zu drohen oder Gewalttaten zu rechtfertigen. Barbara Haslbeck gibt in einem Beitrag wertvolle Tipps zum seelsorglichen oder auf andere Weise helfenden Gespräch mit betroffenen Frauen. Das Buch dokumentiert am Ende offizielle Texte und Publikationen zur Thematik, und es gibt Hilfemöglichkeiten für Betroffene an.
Das Buch erschüttert und rüttelt auf. Es bringt das gewohnte Bild der Kirche durcheinander. Doch nur die Wahrheit befreit, nur durch aktives Sprechen können Wunden gezeigt werden und anfangen zu heilen, nur solches Aufarbeiten wird künftiges Leid zu vermeiden helfen und die Kirche verändern und erneuern. Bücher, die an Schmerzen rühren, finden oft kein großes Publikum – diesem kann man weite Verbreitung nur wünschen.
Stefan Kiechle SJ
Schönian, Valerie: Halleluja. Wie ich versuchte, die katholische Kirche zu verstehen.
München: Piper 2018 (Taschenbuch 2020). 368 S. 12,–.
„Wir müssen aufstehen, aufeinander zugehen, / voneinander lernen, miteinander umzugehen“, lautet ein von Valerie Schönian zitierter Liedtext (75). Das Lied kommt vielleicht etwas naiv daher, es passt aber gut als Motto für ein gewagtes Experiment: Eine politisch linke und feministisch orientierte Journalistin begleitet ein Jahr lang den Priester Franziskus von Boeselager. So kommt es schnell zu einer einzigartigen Spannung zwischen Orientierungslosigkeit, Widerständen, Annäherungsversuchen, Entfernungs- und Verstehensprozessen. Die Autorin beschreibt dies ironisch damit, dass sie mehrfach „mit Tabernakel-Monstranz-Kopfschmerzen im Bett“ lag (27, 293).
Schönian blendet weder ihre persönliche Biografie noch ihre Empfindungen aus. Bewegend ist ihre Wertschätzung des täglichen Friedensgrußes in der Heiligen Messe weltweit (45). Die Kirchen sind für sie „Garanten dafür, dass es immer irgendwie weitergeht“ (228), das kirchlich begangene Weihnachtsfest mit ihrer areligiösen Familie lässt in ihr „etwas nachwirken, zum ersten Mal“, und legt ihren „weichen Kern offen“ (271).
Doch dazwischen stehen immer wieder Gesprächssituationen, die im Dissens, mitunter im Streit enden: Bringt das Bittgebet überhaupt etwas angesichts allen Übels in der Welt? Ein möglicher Verweis darauf, „dass die Wege des Herrn unergründlich seien“, wird von Schönian zu Recht als „Totschlagargument“ verworfen (49). Dass es zwischen willkürlicher Promiskuität und ausschließlich in der Ehe gelebter Sexualität „einige Möglichkeiten dazwischen“ gibt (61), betont sie deutlich. Unterschiedliche Welten prallen aufeinander: Welche Relevanz kommt verschiedenen Gender-Theorien zu (64-66, 237-246), was leistet der Verweis auf die Natürlichkeit einer Norm („Natürlichkeitskeule“, 67), weshalb werden Frauen vom Weiheamt ausgeschlossen, wie geht die Kirche mit Homosexuellen um (68-70, 208-215), und schließlich: Sind bestimmte Ideale und Normen überhaupt angebracht im Bereich des persönlichen Lebens (136-139, 242)?
Schönian beschreibt einen Punkt, an dem das Projekt zu scheitern droht (155). Sie und von Boeselager vereinbaren, mehr „neutrale Zeit“ miteinander zu verbringen, in denen sie nicht die Journalistin und der Priester sind, sondern „einfach Valerie und Franziskus“ (156). Sie besuchen sich in Franziskus’ Elternhaus und in Valeries Wahlheimat Berlin. Der Perspektivwechsel scheint zu gelingen. Die Differenzen liegen zwar noch offen zutage, beide öffnen sich aber etwas (324).
Theologisierendes Nachdenken bekommt von der Autorin indes kein gutes Zeugnis ausgestellt (163-166). Im Hinblick auf die großen Streitthemen, die sie und mit ihr viele aus der urbanen Mittzwanziger-Generation ins Feld führen („Klimaschutz, Politik und Feminismus“, 235), hätte ein Verweis auf die jüngere Lehrentwicklung unter Papst Franziskus manche Härten in der Auseinandersetzung abmildern können. Schönians Eindruck über ein vielerorts sehr traditionsfixiert gelebtes Christentum ist beizupflichten: „Sie glauben an Jesus, der Revolutionär war, aber machen selbst nie etwas anders. Sie feiern ihn, weil er sich Aussätzigen zugewandt hat, und machen es doch selbst nicht. […] Ich bin wütend. Ich will hier raus“ (71).
Was ihren eigenen Glauben betrifft, schreibt Schönian, sie ziehe „die Idee der letzten Gerechtigkeit, der Liebe für alle“ an (318). „Ich hoffe, dass es Gerechtigkeit geben wird“ (323). Jedoch gilt auch: „Mir fehlt nichts“ (187, 188, 327), „doch ich kann auch nicht garantieren, dass ich nie wieder in eine Kirche gehen werde“ (327). Valerie Schönians Buch ist eine heilsame Provokation, nicht nur für sich überzeugt gebende Gläubige, sondern auch für all diejenigen, die davon ausgehen, jeder Mensch sei zumindest implizit irgendwie religiös.
Raphael Weichlein
Renz, Monika: Ich träume von einer Kirche der Hoffnung.
Freiburg: Herder 2020. 154 S. Gb. 16,–.
Monika Renz ist Theologin und Psychoonkologin in St. Gallen. In ihrem neuen Buch „Kirche der Hoffnung“ geht sie der Frage nach, wie die Kirche auf die große Sehnsucht nach dem göttlichen Geheimnis heute antworten kann.
In ihren Forschungen und bisherigen Publikationen hat Renz eine Erlösungstheologie entwickelt, die die tiefenpsychologischen Erkenntnisse aus ihrer Arbeit mit Sterbenden integriert. Dieser Ansatz besagt: Gerade heute suchen die Menschen – zerrissen zwischen Wohlstand und Glücksanspruch einerseits und realer Leiderfahrung andererseits – nach Erlösung. Allerdings nicht mehr eine „Erlösung aus Sünde“. Der Sündenbegriff berührt – wie viele traditionelle christliche Begriffe – die meisten suchenden Menschen heute nicht mehr.
Monika Renz versteht unter Erlösung die Erlösung aus Urangst. Diese Angst entsteht während der Individuation des Ichs und prägt die menschliche Seele – Angst vor Überfülle des Numinosen auf der einen Seite, Angst vor Mangel und Verlorenheit auf der anderen. Dass der „Sünde“ die Angst zugrunde liegt, die sich aus der Trennung von Gott ergibt, ist nicht neu. Neu ist das differenzierte, tiefenpsychologische Modell, das die Autorin entwirft (Erlösung aus Prägung. Paderborn ²2017): Heilung geschieht dann, wenn der Mensch aus der Vereinzelung zurück in die Ganzheit, zurück zum Anschluss an Gott findet, was schließlich im Sterben geschehen kann und häufig von der Autorin miterlebt wurde (Hinübergehen. Freiburg 2015). Erlösung geschieht jedoch durch ein Drittes, das von außerhalb kommt – und für das sich die Seele öffnen muss. Jesus Christus ist – im westlichen Kulturkreis – der Prototyp für dieses Dritte. Er verkörpert die vollständige Verbundenheit mit Gott.
Diese wird in einigen Gottesdiensten immer weniger erfahren – deshalb die Abwanderung vieler Menschen. Die Autorin nimmt sie ernst – sie lamentiert nicht einfach nur über Zeitgeist und „Glaubensverlust“, sondern greift das Leiden an der Sinnlosigkeit auf, an Entfremdung und entleerten Würdebegriffen der heutigen westlichen Kultur.
Renz wirbt für eine Seelsorge, die keine schnellen Antworten gibt, sondern für Gottesdienste, die „nach Erlösung klingen“ (130), die mit Musik und Stille Räume für die Erfahrung der Verbundenheit eröffnen, die dem Geheimnis Raum geben.
In weiteren Kapiteln untersucht Renz die Hochfeste des Kirchenjahres auf ihr Potenzial für vertiefende Veränderungen: Weihnachten, Passion und Ostern. Sie blickt behutsam und genau auf die Liturgie: Wie hat Jesus das Abendmahl damals gefeiert? Wie hat er es gemeint? Wie können wir uns diesem urkirchlichen Ritus heute annähern? Renz unterscheidet klar zwischen Ritus und Ritual und weist darauf hin, dass ein Ritus wie die Eucharistiefeier das Unbewusste anspricht und nicht leichtfertig verändert werden kann – und sollte.
Dieser differenzierte, integrative Ansatz ist sehr überzeugend. Das Buch enthält, wie auch Paul M. Zulehner im Vorwort betont, viele wichtige Anregungen für Gemeinden, Seelsorgende und alle, die sich dem Geheimnis der Liturgie weiterhin verbunden fühlen und beides heute in den Kirchen erfahren möchten: das Neue und das „Uralte“ (122).
Ricarda Moufang