Gesundheitsversorgung in DeutschlandHerausgefordert durch die Pandemie

Die Pandemie zeigt viele Schwachstellen in der Gesundheitsversorgung auf – teilweise bestehen sie schon lange. Wo ist unser in Deutschland ausgebautes System zudem neu herausgefordert? Welche ökonomischen und ethischen Fragen stellen sich aktuell? Astrid Selder ist Professorin für Gesundheitsökonomie und Dekanin der Fakultät „Soziales und Gesundheit“ an der Hochschule Kempten.

Die prägenden Themen der gesundheitspolitischen Diskussion der letzten Jahre sind rasch aufgelistet: Auswirkungen des demografischen Wandels, Fachkräftemangel, effiziente und bedarfsgerechte Versorgung durch Zentralisierung und Spezialisierung, mehr ambulante Leistungserbringung und vernetzte Versorgung, Zugang zur Versorgung auch im ländlichen Raum, Chancen und Risiken der Digitalisierung. Nun interessiert die Frage, ob diese Debatten durch die Pandemie im Verlauf des vergangenen Jahres eine Veränderung erfahren haben, und ob neue Themen in den Fokus gerückt sind. Dieser Beitrag nimmt vor allem die Akutversorgung im stationären oder ambulanten Setting in den Blick und beleuchtet andere Versorgungsbereiche nur am Rande.

Finanzierungs- und Ausgabenseite des deutschen Gesundheitssystems werden seit Jahrzehnten vor allem von demografischem Wandel und technologischem Fortschritt beeinflusst. Nun übt auch das Pandemiegeschehen Druck auf die Sozialversicherungssysteme und andere Kostenträger im Gesundheitswesen aus. Kurzfristig ist ungeplanter Mehrbedarf in der Versorgung entstanden, mittelfristig wird dieses Problem ergänzt durch eine sinkende Einnahmenbasis aufgrund der verschlechterten wirtschaftlichen Lage. Dennoch hat sich das System bisher in Bezug auf die finanziellen Ressourcen als stabil erwiesen. Die bekannten Fragen rund um die Finanzierung sind allerdings auch in der Krise virulent, so zum Beispiel: Wie wird eine angemessene Beteiligung aller Kostenträger, insbesondere der privaten Krankenversicherung, der GKV und des Staates sichergestellt, wenn Leistungen beispielsweise vom Öffentlichen Gesundheitsdienst veranlasst werden? Wie kann die zu geringe Investitionstätigkeit der Länder im akutstationären Sektor aufgefangen werden? Auf welche Weise können mehr finanzielle Ressourcen für die ambulante und stationäre Pflege generiert werden? Die Pandemie hat gezeigt, dass die Antworten auf solche Fragen nach wie vor ausstehen.

Neu ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt hat die Pandemie die Verfügbarkeit von Versorgungskapazitäten und Gesundheitsgütern. Der Optionsgutcharakter von Gesundheitsdienstleistungen bewirkt, dass sächliche Ressourcen vorgehalten oder zumindest im Bedarfsfall rasch verfügbar gemacht werden müssen. Eine vielzitierte Kenngröße zu Beginn der Pandemie war beispielsweise die Intensivbettendichte. Deutschland weist hier seit Jahren eine im internationalen Vergleich hohe Quote aus.1 Es zeigte sich aber rasch, dass für den konkreten Fall der Covid-19-Pandemie Informationen über Beatmungskapazitäten gebraucht wurden, die nur bei einem Teil der Intensivbetten vorhanden waren. Um diese Informationen zu generieren, musste erst ein entsprechendes Register auf den Weg gebracht werden. Darüber hinaus fehlte in vielen Fällen Personal oder Know-how, um die vorhandenen sächlichen Ressourcen sinnvoll zum Einsatz zu bringen. Für die Zukunft ergibt sich daraus das Erfordernis, mehr Transparenz über verfügbare Kapazitäten inner- und außerhalb des Intensivbereichs zu schaffen. Nur so können Patientinnen und Patienten im Bedarfsfall an die richtige Stelle im Versorgungssystem gelotst werden. Des Weiteren muss neu über Lieferketten bei Medizinprodukten und Arzneimitteln (einschließlich Impfstoffen) sowie deren Inhaltsstoffen gesprochen und über Produktionsverlagerungen oder Kapazitäten für Produktionsausweitungen nachgedacht werden.

Besonders eklatant zeigt sich in der Krise allerdings einmal mehr, dass eines der zentralen Probleme des deutschen Gesundheitssystems ein Personalproblem ist. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland in Bezug auf die Dichte des ärztlichen und des pflegerischen Personals in Kliniken eher im Mittelfeld.2 Aus diesen Daten lassen sich noch keine Aussagen über Knappheiten ableiten. Ob die personellen Ressourcen für eine angemessene Bedarfsdeckung ausreichen, hängt von den Versorgungsstrukturen, Ausbildungs- und Tätigkeitsprofilen ab. Im ärztlichen Bereich liegt ein Mangel derzeit vor allem im Bereich der hausärztlichen Versorgung in einigen ländlichen Regionen vor. Die Versorgung mit ärztlichen Leistungen ist (noch) eher ein Verteilungsproblem. Mit den Pflegekräften, bei denen der Mangel bereits manifest ist, teilt sich jedoch der bevorstehende Ärztemangel eine wesentliche Ursache: die unattraktiven Arbeitsbedingungen. Die Pflege betreffend, sind eine höhere Vergütung, mehr gesellschaftliche Anerkennung, ein attraktives Aufgabenspektrum und Entlastung durch Digitalisierung wichtige, aber nicht ausreichende Ansätze gegen den Fachkräftemangel. Vielmehr müssen Strukturen geschaffen werden, die der zunehmenden Arbeitsbelastung entgegenwirken. Mehr Pflegekräfte müssen durch geeignete Arbeitsorganisation gewonnen und gehalten werden, und zwar in möglichst guter Gesundheit über ihr gesamtes Berufsleben hinweg.

Die Pandemie dürfte trotz der anfänglich großen öffentlichen Wertschätzung für die Gesundheitsberufe zu einer Verschärfung der Situation führen. Zwar war laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2019 ein Zuwachs an neuen Auszubildenden in Gesundheits- und Kranken- sowie Altenpflege gegenüber den Vorjahren zu verzeichnen. Laut Bundespflegekammer mehren sich aber Berichte über höhere Abbruchszahlen von Auszubildenden, die während der Pandemie einerseits mit herausforderndem digitalen Theorieunterricht konfrontiert seien, andererseits während des praktischen Teils der Ausbildung überfordert würden. Auch in Bezug auf die bereits ausgebildeten Arbeitskräfte in den Gesundheitsberufen ist durch die Pandemie, die damit verbundene hohe Arbeitsintensität und die gesundheitliche Belastung keine Verbesserung der verfügbaren personellen Ressourcen zu erwarten.

Zentralisierung und Spezialisierung

Eng verbunden mit dem Thema Arbeitsorganisation ist die Frage, wo Personal mit welchen Qualifikationen gebraucht wird. In Bezug auf eine sinnvolle Ausgestaltung der Krankenhauslandschaft in Deutschland wurde zu Beginn des Jahrtausends vor allem über Effizienzsteigerungen und die damit einhergehenden tatsächlich oder vermeintlich notwendigen Standortschließungen diskutiert. Schon seit einigen Jahren ist die Debatte deutlich differenzierter geworden. Die Entwicklung der Kliniken in den letzten Jahren war geprägt von Zentralisierung und Spezialisierung. Eine Konzentration an bestimmten Standorten ist aus gesundheitsökonomischer Sicht für viele Leistungsbereiche sinnvoll, weil die Qualität der Leistung meist mit der Menge der erbrachten Leistungen dieser Kategorie zunimmt. Auch in der Pandemie hat sich gezeigt, dass eine Leistungskonzentration bei den Maximalversorgern stattfand. Hier lässt sich bei einem neuen Krankheitsbild ein schneller Erkenntnisgewinn generieren, personelle Ressourcen mit einschlägigem Qualifikationsniveau lassen sich zwischen Leistungsbereichen verschieben und Behandlungskapazitäten ausbauen.

In der ersten Phase der Pandemie wurden in Häusern aller Versorgungsebenen elektive Eingriffe gestoppt und Ausgleichszahlungen für den Leerstand auf den Weg gebracht. Deren Ausgestaltung rief Kritik auf den Plan, da sie kleine Häuser durchschnittlich besserstellte als im Normalbetrieb, für die Maximalversorger aber unzureichend war. Die Befürchtung entstand, dass sich der Reformprozess der Kliniken auf diese Weise verzögern könnte. Tatsächlich aber hat die Krise die bisher angestoßenen Reformen bestätigt. Eine schlüssige Zentralisierung, gepaart mit einer Spezialisierung, die auch in kleineren Häusern möglich ist, muss begleitet werden von der Weiterentwicklung einer angemessenen Versorgung in der Fläche. Diese braucht nicht nur, aber auch stationäre Einheiten für eine Grundversorgung der Bevölkerung. Um seinem Auftrag der Daseinsvorsorge und dem Hinwirken auf bundesweit gleichwertige Lebensverhältnisse nachzukommen, muss der Staat dafür Sorge tragen, dass versorgungsrelevante Krankenhäuser auskömmlich finanziert werden, solange sie grundsätzlich einer wirtschaftlichen Betriebsführung unterliegen.

Sektorenübergreifende Planung und Vergütung

Diese Überlegung führt zum Ansatz einer sektorenübergreifenden Planung. Die Pandemie schärfte den Blick einmal mehr für das Problem der Abschottung zwischen den Versorgungssektoren. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf das Geschehen in den Kliniken richtete, berichtete die Kassenärztliche Bundesvereinigung im September 2020, dass während der ersten Phase der Pandemie sechs von sieben Covid-19-Patientinnen und -Patienten ambulant versorgt wurden.3 Ob die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte eine Art Schutzwall für die stationäre Versorgung bildeten und so dazu beitrugen, dass weniger stationäre Einweisungen und damit auch weniger Infektionen in den Kliniken als in anderen Ländern auftraten, wird die Gesundheitssystemforschung sicherlich beschäftigen. Anzuerkennen ist in jedem Fall, dass auch der ambulante Sektor schnell auf die neue Situation reagiert hat. Zu Beginn der Pandemie wurden beispielsweise Test- und Behandlungszentren von den Kassenärztlichen Vereinigungen aufgebaut sowie die Patientenservicenummer 116117 technisch und personell ausgebaut.

Die Kooperation innerhalb der Gemeinsamen Selbstverwaltung hat ebenfalls funktioniert, zum Beispiel bei Fragen zur Abrechnungsfähigkeit telemedizinischer Leistungen. Trotzdem traten an vielen Punkten die üblichen Probleme geteilter und manchmal unklarer Zuständigkeiten auf. Diese verteilen sich in Bezug auf Planung und Finanzierung des Gesundheitssystems auf Bund, Länder und Gemeinden, auf die Gemeinsame Selbstverwaltung, diverse Sozialversicherungsträger und andere Kosten- und Leistungsträger sowie gewerbliche, frei-gemeinnützige und öffentliche Organisationen. In Pandemiezeiten ist dies noch problematischer, weil zeitkritischer, als in der Regelversorgung. Als Beispiel kann die Vorhaltung und Finanzierung von Schutzausrüstung für die Mitarbeitenden in niedergelassenen Praxen dienen. Die Praxen sind hier nur für den üblichen Bedarf zuständig, während die Vorhaltung für Pandemiezeiten eine öffentliche Aufgabe ist.

Der Gesetzgeber versucht seit langem, die Sektorengrenzen zu überwinden und die Rahmenbedingungen für eine vernetzte Versorgung zu schaffen. Ein wesentlicher Trend der letzten Jahre war beispielsweise die Öffnung der Kliniken für die ambulante Versorgung durch das Einrichten von Klinikambulanzen oder die Übernahme Medizinischer Versorgungszentren. Dieser Trend wird anhalten, erfordert aber auch den Schritt hin zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung. So geht die in Kliniken vorhandene Versorgungskapazität derzeit nicht in die ambulante Bedarfsplanung ein. Sektorenübergreifend angelegt werden muss dabei auch die Notfallversorgung. Ein diesbezüglicher Gesetzentwurf von Januar 2020 hat zum Ziel, die bisher weitgehend getrennt organisierten Versorgungsbereiche der ambulanten, stationären und rettungsdienstlichen Notfallversorgung in Deutschland zu einem integrierten System weiterzuentwickeln. Das Fehlen einer solchen gesetzlichen Grundlage hat den Aufbau von Notfallstrukturen zu Beginn der Pandemie deutlich erschwert.

In der Versorgungspraxis sind Modelle regionaler Versorgungszentren oder -netzwerke bereits vielfach in Planung oder sogar in Umsetzung befindlich. Üblicherweise fungiert dort ein Krankenhaus als zentraler Akteur, der mit weiteren Institutionen der ambulanten Versorgung und Therapie, mit Pflege- und Rehabilitationseinrichtungen und sozialen Diensten verknüpft ist. Für eine flächendeckende Entwicklung solcher Strukturen braucht es schlüssige Konzepte, um sektorenübergreifend zu planen, zu vergüten und die Qualität der Leistungserbringung zu sichern. Eine Vielzahl von beteiligten Gremien und Institutionen muss bereit sein, Kompetenzen abzugeben oder zu bündeln. Dass dies im föderalen System ein steiniger Weg ist, hat die aktuelle Pandemie einmal mehr eindrücklich aufgezeigt.

Wenn Leistungen von Organisationseinheiten unterschiedlicher Sektoren, also beispielsweise von ambulant tätigen Klinikärzten und niedergelassenen Ärztinnen gleichermaßen oder auch entlang von Behandlungspfaden gemeinsam erbracht werden können und sollen, muss sichergestellt werden, dass die Vergütungssysteme dazu passen. Eine tatsächlich sektorenübergreifende Vergütung scheint noch in weiter Ferne und wird bisher nur in Ausnahmefällen praktiziert. Mehr Aufmerksamkeit richtet sich derzeit auf eine Weiterentwicklung der Vergütungssystematik des stationären Sektors. Das zu Beginn des Jahrtausends eingeführte Fallpauschalensystem führte in einigen Bereichen zu den erwünschten Effizienzsteigerungen, es brachte aber auch Fehlanreize mit sich, die in den Mittelpunkt einer Reformdiskussion gerückt sind. Das Herauslösen der Pflegepersonalkosten aus der pauschalierten Vergütung und die Überführung in ein krankenhausindividuelles Pflegebudget nach dem Selbstkostendeckungsprinzip ab dem Jahr 2020 war bereits ein wichtiger korrigierender Schritt. Aktuelle Reformvorschläge stellen beispielsweise den Einhausansatz infrage, nach dem Krankenhäuser unabhängig von ihrer Kostenstruktur die gleiche Vergütung für einen Fall erhalten.4 In der Pandemie rückt hier besonders die Ausgliederung von Vorhaltekosten aus der pauschalierten Vergütung in den Blick. Es ist deutlich geworden, dass die Infrastruktur, die für den Pandemie- oder sonstigen Katastrophenfall vorgehalten werden muss, sich zwischen den Häusern unterschiedlich gestaltet. Entsprechend muss die Refinanzierung von Vorhaltekosten von der Zahl der behandelten Fälle entkoppelt werden.

Digitalisierung

Wie in anderen Lebensbereichen auch, hat die Pandemie im Gesundheitswesen einen Digitalisierungsschub bewirkt. Innerhalb kurzer Zeit wurden beispielsweise Videosprechstunden ermöglicht und Telekonsile eingerichtet sowie digitalisierte Angebote in Psycho- oder Ergotherapie geschaffen. Die Einführung einiger Angebote wurde bereits durch das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ aus dem Jahr 2019 erleichtert, weiterer Spielraum für digitale Prozesse und IT-Sicherheit insbesondere für die Kliniken wurde mit dem „Krankenhauszukunftsgesetz“ Ende 2020 auf den Weg gebracht. Für viele Anwendungen, die nun quasi über Nacht flächendeckend zum Einsatz kamen, müssen nach der Pandemie die Rahmenbedingungen über entsprechende Leitlinien klarer abgesteckt werden. Wann ist eine Videosprechstunde angemessen, wann muss ein direkter Kontakt zwischen Therapeutin oder Arzt und Patientin erfolgen? Positive Beispiele und Entwicklungen wurden allerdings von vielen Schwächen des Gesundheitssystems im Bereich der Digitalisierung überlagert. Besonders prekär war dabei die Situation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, der personell und technisch der Pandemie oftmals nicht gewachsen schien. Ein veraltetes Meldewesen machte die Pandemieüberwachung, Kontaktdatenerfassung und Maßnahmenkontrolle zur Herausforderung und zeigte damit eine der Schwachstellen des Systems in großer Deutlichkeit.

Die Gesundheitspolitik arbeitet sich mittlerweile seit fast zwei Jahrzehnten an der Etablierung einer digitalen Infrastruktur ab. Die Pandemie hat noch einmal klar gezeigt, dass ein – von angemessenen datenschutzrechtlichen Bestimmungen begleitetes – Erfassen, Übermitteln und Auswerten von Daten vieles erleichtert: Exemplarisch benannt seien die Kommunikation entlang eines Patientenpfads sowie zwischen Leistungserbringern und -empfängern, ein Frühwarnsystem bei erhöhtem Infektionsgeschehen oder drohender Knappheit von Behandlungskapazitäten, das systematische Bearbeiten von Fragestellungen der Versorgungsforschung. Digitale Anwendungen können auch einen wichtigen Beitrag zur Versorgung im ländlichen Raum leisten. Dies betrifft einerseits den faktischen Zugang zum System in Regionen mit ansonsten geringem Versorgungsangebot. Nutzerinnen und Nutzer können sich über größere Distanzen hinweg mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder dem stationären Zentrum der Region vernetzen. Andererseits kann die Qualität der Versorgung beispielsweise durch Telekonsile zwischen kleineren Häusern in der Region und Spezialistinnen und Spezialisten bei Maximalversorgern gesteigert werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass auch für den Zugang und die Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen das Problem des digital divide bestehen kann. Hierbei geht es einerseits um die Zugangsmöglichkeiten zu leistungsstarkem Internet, das wiederum als Voraussetzung für die Nutzung digitaler Gesundheitsangebote benötigt wird. Andererseits gilt es im Blick zu behalten, dass Medienkompetenz und Nutzungsstile sich zwischen Bevölkerungsgruppen unterscheiden. An einer Videosprechstunde teilzunehmen erfordert technisches Equipment und die Fähigkeit, es zu bedienen, aber auch die Kompetenz, Informationen in diesem Format zu übermitteln und zu empfangen. Nicht nur, aber auch im Gesundheitswesen dürfte die Minimierung einer digitalen Kluft in der Gesellschaft eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre sein.

Versorgung im Katastrophenfall

Neben den bekannten Herausforderungen hat die Pandemie Themen in den Fokus gerückt, die nicht im Zentrum der gesundheitspolitischen Diskussion der letzten Jahre standen. Allen voran ist dies die Versorgung im Katastrophenfall. Einige Teilaspekte wie die Vorhaltung von Versorgungskapazitäten für den Notfall, eine digitale Pandemieüberwachung und die notwendige Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes wurden bereits erwähnt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst muss finanziell und personell dauerhaft gestärkt werden, um seinen vielfältigen Aufgaben rund um bevölkerungsbezogenen Gesundheitsschutz, Gesundheitsförderung und Prävention gerecht zu werden. Der im September 2020 von Bund und Ländern auf den Weg gebrachte Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst ist ein erster kleiner Schritt in diese Richtung.

Neben den konkreten Versorgungsfragen müssen aber auch die Strukturen des Pandemiemanagements auf den Prüfstand. Die Pandemie hat Deutschland in dem Sinne nicht unvorbereitet getroffen, als bereits zu Beginn des Jahrtausends mit der sogenannten Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung die Zusammenarbeit zwischen allen Zuständigen in Bund und Ländern geprüft und in der Folge weiterentwickelt wurde. Trotzdem zeigten sich zu Beginn der Pandemie deutliche Defizite aufgrund unklarer Verantwortlichkeiten, die für die Zukunft geklärt werden müssen. Insbesondere regionale Pandemiepläne müssen mit mehr Aufmerksamkeit für ambulante Versorgungseinheiten überarbeitet werden. Innerhalb eines bundesweiten Rahmens sollten regionale Anpassungen von Maßnahmen in Abhängigkeit von der jeweiligen Pandemiesituation vorgesehen werden.5 Erwähnt sei an dieser Stelle auch das Erfordernis einer spezifischen Präventionsstrategie für besonders vulnerable Gruppen in Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie für Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen. Eine solche Präventionsstrategie muss zwischen Infektionsschutz und der Beschränkung von Freiheiten und sozialer Teilhabe abwägen, was in der aktuellen Pandemie sicherlich nicht immer gelungen ist. Sinnvoll aufgebaute Strukturen und gesetzliche Vorgaben für den Katastrophenfall sollten eine gute Krisenkommunikation ermöglichen und ein Regieren über Verordnungen mit den damit verbundenen Demokratiedefiziten in Grenzen halten.

Ressourcenallokation nach
transparenten Kriterien

Ein weiteres Thema hat die Pandemie in die öffentliche Wahrnehmung gerückt, das im Alltag des Versorgungsgeschehens zwar omnipräsent ist, aber trotzdem meist im Verborgenen abläuft: die Entscheidung über die Allokation knapper Ressourcen. Die deutsche Gesundheitspolitik delegiert die Entscheidungen auf Systemebene grundsätzlich an die Gemeinsame Selbstverwaltung, insbesondere an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als deren oberstes Beschlussgremium. So konkretisieren die Richtlinien des G-BA das Sozialgesetzbuch und definieren in vielen Bereichen, welche Leistungen erbracht und im Rahmen der GKV erstattet werden dürfen. Die Kriterien, die den Entscheidungen des G-BA zugrunde liegen, werden im Allgemeinen ausschließlich in Fachkreisen diskutiert. Daneben steht die Ebene des Einzelfalls, wenn eine Behandlerin oder ein Behandler eine Empfehlung über Diagnostik und Therapie abgibt oder eine Therapieentscheidung trifft.

Unter dem Schlagwort der Triage ist nun ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass im Gesundheitswesen regelmäßig, beispielsweise in der Notaufnahme einer Klinik, Entscheidungen über die Dringlichkeit von Behandlungen getroffen werden. In einer pandemischen Lage könnten solche Entscheidungen aufgrund der Vielzahl von zu behandelnden Patientinnen und Patienten häufiger als sonst negative gesundheitliche Folgen bis hin zum Tod für zunächst Zurückgestellte haben. Ob vor diesem Hintergrund Triage-Regeln in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden sollten, ist umstritten. Zu Beginn der Pandemie hat sich die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin als zuständige Fachgesellschaft frühzeitig mit der Frage befasst, wie Triage-Entscheidungen in einer gerechten Art und Weise getroffen werden können.6 Zudem konnten durch Verlegungen von Patienten und Patientinnen Überlastungen einzelner Häuser bisher meist vermieden werden. Trotzdem werden Forderungen laut, dass sich der Bundestag zumindest in einer Orientierungsdebatte, möglicherweise auch durch das Verabschieden eines Triage-Gesetzes, mit dem Thema befassen sollte. Demgegenüber hat beispielsweise der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Empfehlung zur Pandemie ausgeführt, dass der Staat menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben dürfe, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten sei.7 Eine analoge Diskussion ist in Bezug auf die Nationale Impfstrategie entbrannt. Per Rechtsverordnung hat das Bundesgesundheitsministerium die Reihenfolge der Impfungen und die Priorisierung bestimmter Gruppen in der Gesellschaft festgelegt. Auch hier werden Forderungen nach einer gesetzlichen Grundlage laut. Diese Debatten zeigen jedoch über die akute pandemische Lage hinaus. Einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion über die Frage, wie mit knappen, lebensnotwendigen Ressourcen im Gesundheitssystem umgegangen werden sollte, sollten sich Wissenschaft und Politik gemeinsam stellen.

Die Pandemie hat die bekannten Schwachstellen der Gesundheitsversorgung noch einmal verdeutlicht und manche Veränderungsprozesse beschleunigt. Die Vorsorge für den Katastrophenfall und der Umgang mit knappen Ressourcen sind zwei Aspekte, die durch die Pandemie in den Fokus der Debatte gerückt sind und die es wert sind, weiter diskutiert zu werden.

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