Die Situation war neu für den Katholizismus: Bis zur Aufklärung waren es die Kirchen gewohnt, ein mächtiger Player in der Gesellschaft zu sein. Über tausend Jahre lang hatten sie Politik, Kultur und Gesellschaft geprägt, wenn nicht dominiert. Davon war außerhalb der kirchlichen Milieus nach den Revolutionen des 19. Jahrhunderts nicht mehr viel übrig. Die Bischöfe waren keine Fürsten mehr, der bürgerliche Nationalstaat hatte die Kontrolle übernommen. In Frankreich hatte sich die Kirche mit einem militanten Atheismus auseinanderzusetzen, in Deutschland geriet die katholische Kirche in den Kulturkampf, in Italien wurde die Auseinandersetzung um den Kirchenstaat und die Einheit Italiens gar mit Waffen ausgetragen.
Die alten Rollen waren Vergangenheit, es brauchte neue Formen des gesellschaftlichen Engagements. Dominanz war keine Option mehr. Also machte man das, was andere vorgemacht hatten: Auch Kirchen griffen zur Feder und zur Druckerpresse. Das war neu, denn gesellschaftliche Debatten in Zeitschriften waren bis dato kleinen elitären Kreisen vorbehalten. Erst im 19. Jahrhundert erreichten sie eine breite gebildet-bürgerliche Leserschaft. Von Jesuiten herausgegebene katholische Zeitschriften wie Études in Frankreich, La Civiltà Cattolica in Italien und die Stimmen aus Maria Laach, später in Stimmen der Zeit umbenannt, verbanden Regelmäßigkeit des Erscheinens mit dem Anspruch, die katholische Stimme in diesen breiteren Schichten hörbar zu machen.
Unumstritten war das nicht, bei der Gründung der Stimmen hatte es Warnungen gegeben. Rom äußerte Bedenken: Was eine Jesuiten-Zeitschrift drucke, werde letztlich den gesamten Orden betreffen, und überhaupt stehe ein solches Projekt immer unter dem Druck der Aktualität. Dass die Stimmen trotz dieser Warnung an den Start gingen, zeigt, dass die Autoren damals diese Aktualität bewusst aufgriffen. Man wollte in gesellschaftlichen Debatten dabei sein. Einige Jahre später galt dann das Gegenteil, die Stimmen hatten sich auf gelehrte Darlegungen verlegt, und ihr Mangel an Austausch mit anderen – sie seien „quasi Eremiten“, klagte der Provinzial um die Jahrhundertwende – führte zu „Furchtsamkeit“. Der Streit setzte sich fort: Einige wollten Austausch und Kompetenz in der Aktualität der Debatten, andere wollten griffige Apologetik und gar keine offene Debatte.
Es mag heute merkwürdig klingen, dass Rom meinte, vor Aktualität warnen zu müssen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ganz schlicht die Frage, wer die Themen der Debatte vorgibt. Kann ich als Zeitschrift oder als gesellschaftlicher Player selbst Themen vorgeben? Kann ich die Spielregeln des Diskurses bestimmen? Oder muss ich mich den von anderen vorgegebenen Themen stellen, weil es eben die „aktuellen“ Themen sind? Muss ich mich den Spielregeln der Mediengesellschaft unterwerfen? Dass dieser Streit um die „Aktualität“ bis heute nicht ausgeräumt ist, zeigen die Klagen über eine angeblich unfaire Presse. Sie gehören quasi zur Standard-Klage einiger Kirchenvertreter, wenn man nicht mehr bestimmen kann, wie eine Debatte zu verlaufen hat.
Das gleiche gilt für den mangelnden Austausch, das „Eremit-Sein“, nur nennen wir das heute „Blase“. Man bleibt unter sich, bestärkt sich gegenseitig und muss sich die eigenen Ansichten und Überzeugungen nicht infrage stellen lassen. Hier besteht sie noch, die Dominanz. Nur bezahlt man einen hohen Preis: Außerhalb der Blase interessiert sich niemand für solcherart vorgebrachte katholische Beiträge. Man bestätigt sich gegenseitig, Ausstrahlung oder gar Zeugnis für den eigenen Glauben ist das für die weitere Gesellschaft aber nicht.
Das Paradebeispiel heute ist die Debatte um sexualisierte Gewalt und deren Vertuschung in der Kirche. Das Vorgehen des Erzbistums Köln um die Gutachten war der Versuch, die Deutungshoheit zu halten, an einigen Stellen sogar zu erzwingen, etwa indem man Journalisten zu Verschwiegenheits-Unterschriften bringen wollte. Gleichzeitig gab es in einschlägigen Medien den Versuch der Umdeutung: Hier würde versucht, einen rechtgläubigen Bischof und Kritiker des Synodalen Weges mundtot zu machen. Als Begleitmusik erklingt dazu die These, Missbrauch sei ein Problem der Homosexualität und müsse nur bei Individuen, nicht in Strukturen gesehen werden.
Wer sich in gesellschaftliche Debatten einbringen will, kann nicht erwarten, das zu seinen Bedingungen machen zu können. Ganz gleich ob ich eine Missbrauchs-Studie veröffentlichen, über den Synodalen Weg berichten oder moraltheologische Erwägungen zur Sterbehilfe unter die Menschen bringen will: Deutungshoheit lässt sich nicht beanspruchen. Die schon erwähnten Klagen über „die Medien“ zeigen, dass sich Teile der Kirche trotz der langen Erfahrung immer noch schwer damit tun, anzuerkennen, dass sich öffentliche Debatten nicht steuern lassen. In einer freien Gesellschaft bilden sich die Debatten um die Interessen aller herum, sie lassen sich nicht vorgeben, nicht im Sinne einer Institution gestalten. Und genau das ist der Ort, an den die Stimmen gehören.