Lewitscharoff, Sibylle / Hartmann, Heiko Michael: Warten auf. Gericht und Erlösung. Poetischer Streit im Jenseits.
Freiburg: Herder 2020. 207 S. Gb. 20,–.
Zu Dantes 700. Todestag wird in Italien, das ihn als den größten Sänger seiner Sprache ansieht, 2021 als Dante-Jahr begangen und gefeiert. Auch der Papst hat dazu ein Schreiben angekündigt. Der Florentiner, der sich in seiner Göttlichen Komödie mit Vergil auf die Reise durch alle Kreise der Hölle, des Fegefeuers und des Himmels macht, hat das Jenseits poetisch zu erkunden versucht. Seinen Spuren folgt die bekannte Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die 2016 im Roman „Das Pfingstwunder“ einen internationalen Kongress von Dante-Wissenschaftlern in der Entrückung enden ließ und 2019 in „Von oben“ einen Blick aus dem Überirdischen auf einen verstorbenen Professor werfen ließ. Nun hat sie zusammen mit Heiko Michael Hartmann ihre danteske Trilogie vollendet.
Es geht um zwei zufällig nebeneinandersitzende Passagiere eines Airbus-Flugzeuges, einen Mann und eine Frau, die bei einem Absturz ums Leben kommen. Im Jenseits können sie sich hören und miteinander sprechen. Der Tod ist, ob man gläubig ist wie „Gertrud“ aus Stuttgart, oder skeptisch-atheistisch wie der namenlose Dialogpartner, hier kein Ende des Nachdenkens und Fragens, sondern deren radikales Beginnen. Man könnte den ideenreichen Text einen „Streitdialog im Fegefeuer“ nennen, zugleich ein hartnäckiges Aneinander-Vorbeireden. Es geht um alles: Identität, Gerechtigkeit, Erfahrung und Selbstfindung, Emotion und Rationalität, Erwartung und Gerichtsfurcht. Gertrud „will eine Gerichtsbarkeit haben, die wirklich straft“ und möchte die Massenmörder des 20. Jahrhunderts für immer in der Hölle sehen. Ihr „Widerborst“ lehnt dagegen ein „duales System“ (141) ab. „Die wahre Sünde ist das Sicherseinwollen, wo ich nicht sicher sein kann. Die wahre Sünde ist es, sich selbst mit etwas zu verwechseln, was Bestand haben könnte“ (142), sagt der über Sören Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ forschende Gegenpart.
Verzweifelt man-selbst oder verzweifelt nicht man-selbst sein zu wollen sei die eigentliche Tod-Sünde, nicht eine noch so schreckliche Tat. Und so fragt er als Jenseitsbegleiter: „Was unterscheidet Glaubensfestigkeit von Eigen- und Starrsinn?“ (195). Gertrud ist keine Asketin oder Eremitin, sondern eine barocke Figur, die sich gerne von herumschwebenden Seelen ablenken lässt. Ihr begegnen die Schriftsteller Gilbert K. Chesterton, Christine Lavant und Samuel Beckett, aber auch die Terroropfer von Charlie Hebdo, die als „Andere“ allesamt nicht (wie bei Sartre) Hölle, sondern sanftes Licht verbreiten. Gertrud ist eine bildhaft-positive Theologin, ihr Gegenüber vertritt eine negative Theologie am Rand des Atheismus. Der Jenseitsdialog kommt zu keinem Ergebnis, behandelt aber viele Fragen. Nicht nur für Dante-Freunde ist das Ganze ein literarisches Vergnügen. Theologen werden eingeladen, das so lange geschlossene „eschatologische Büro“ (Hans Urs von Balthasar) wieder zu öffnen und „letzten Fragen“ nicht durch eine beschwichtigende Barmherzigkeitstheologie auszuweichen. Am Ende wird auch im Jenseits und nach dem Tod geglaubt, gehofft, geliebt und gebetet, damit wie bei Dante aus Mangel, Verzweiflung und Fegefeuer am Ende Fülle, Freude und Himmel werden kann.
Stefan Hartmann
Lehnert, Christian: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten.
Berlin: Suhrkamp 2020. 239 S. Gb. 22,–.
Die Rede von Engeln klingt schnell nach populärer Erbauungsliteratur oder gleich nach Esoterik. Und doch hat sie seit einigen Jahrzehnten auch in seröser Spiritualität Konjunktur. Nur die hohe Theologie bleibt zögerlich im Rantasten. Christian Lehnert, der mittlerweile weithin bekannte ostdeutsche Dichterpfarrer, wagt sich ran: mit einem sowohl lyrisch inspirierten wie präzisen und auch noch umfassenden Hindenken an das eigentlich Undenkbare. Die essayartigen Absätze des Buches wirken zunächst ungeordnet, assoziativ, weitschweifig, ohne übergeordnetes Thema, mäandernd über Biblisches und Biografisches, Theologiegeschichtliches und lyrisch Phantastisches, Natur Beschreibendes und Mystisches – aber sie bilden zugleich ein Ganzes, indem sich Linie und Sinn schrittweise entwickeln und Kohärenz finden.
In Getsemani kommt der Engel zu Jesus, der in Todesangst betet, und tröstet ihn, aber scheu, unfassbar, „Gott jenseits des Gottes“ (12). Am Jabbok überfällt Jakob ein dunkles Wesen, ein Würgeengel, sehr körperlich und völlig flüchtig, verletzend und segnend (134). Elija wird verheizt in den „Aporien des Monotheismus“ und geht todesmüde in die Wüste; dort ist Gott weg, nur der Engel weckt ihn und schickt ihn zum Horeb, wo Gott sich im „stillen, sanften Sausen“ andeutet (192). Die Sprache der Engel ist Musik (83). Engel schützen Gott davor, spirituell vereinnahmt zu werden (vgl. 139). Luther predigt poetisch über „Hefata“, „Tu dich auf“: Er führt ins irritierende Zwischenreich von Worten und Wirklichkeit, ins „gedankliche Wolflicht“; Poesie ist dann, auf den Ruf ins Dasein, auf den Anspruch zu antworten; Glauben und Poesie fallen in eins (159). Die beiden Putten, die unterhalb der sixtinischen Madonna Raffaels so keck schauen, gehören zum Putten-Nebel im Bildhintergrund; „Putten sind indifferente Verwandlungskünstler, die jegliche Grenzen … verflüssigen“. In Barockkirchen schauen sie aus Fensterrahmen heraus, kriechen aus Ritzen, zwinkern von der Decke herab und „sorgen, dass die Dinge unbestimmt bleiben. Sie singen und summen in einem subversiven Pantheismus“ (125).
Lehnert hat eine unerhörte sprachliche Kraft. Er traut sich in jenes Zwischenreich zwischen Welt und Gott, in der jedes Sprechen sich verflüssigt, jedes Wahrnehmen nur Hauch ist, jedes Denken versagt. Er findet Mut zum Sprechen, es ist ein schweigsames Sprechen, das aber nie peinlich wird. Das Buch ist eine sehr ungewöhnliche Theologie, aber es ist wirkliche Theologie, denn es redet über Gott und seine Kräfte und Mächte und Gewalten. Und es lässt Gott Gott sein. Lehnert zitiert Merleau-Ponty: „Die Sprache ist Geste, ihre Bedeutung ist eine Welt“, und geht weiter zur Angelologie: „Der Engel ist Geste, seine Bedeutung ist Gott“ (176).
Lehnerts Buch wird den atheistischen Materialisten nicht zum Glauben führen, es wird den „Gottprotz“ (Elias Canetti) nicht für Gott öffnen, auch wird es Gott nicht „unbelästigt halten von den vielen Überfällen einer geborgenheitsheischenden Wohlstandsfrömmigkeit“ (139). Aber es weist dem sensiblen Gottsucher einen Denkweg, der Tore öffnet und hinausführt ins Weite.
Stefan Kiechle SJ
Hermann-Fertig, Lisa: Jesuita cantat! „Musik“ in der interkulturellen Kommunikation jesuitischer Mission in Südindien während des späten 17. und 18. Jahrhunderts.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. 469 S. Gb. 68,–.
Die Dissertation, zugehörig den Fachbereichen „Historische Musikwissenschaft“ und „Ethnomusikologie“, beschreibt die missionarische Arbeit der Jesuiten in Südindien in der Barockzeit unter dem Aspekt des Einsatzes von Musik. „Musik“ versteht die Autorin breit und schreibt das Wort daher immer – das wirkt etwas manieriert – in Anführungszeichen, nämlich als Klangerzeugung aller Art, auch mit Einbezug von Theater und Tanz, auch mit den damals üblichen Prozessionen, Festakademien usw. (108). Dabei war „Musik“ für die Jesuiten ein Werkzeug der Verkündigung, das mit Sinnlichkeit, mit Feierlichkeit und mit dem Appell an das Gefallen die Menschen anlocken, sie bewegen und die christliche Botschaft vermitteln will. Die Jesuiten brachten dazu aus Europa ihre Musik und ihre Instrumente mit, aber sie knüpften auch an einheimische musikalische Traditionen – christliche und nichtchristliche – an und integrierten diese mit ihrer europäisch-christlichen Kultur. Man spricht von den Prinzipien der Akkommodation und der Interkulturalität: Es geht um einen kulturellen Dialog, bei dem beide Seiten bereichert werden und der christliche Glaube in neuer Kultur lebendig wird und sich einwurzelt.
Das Buch beruht auf einem umfassenden Quellenstudium, es ist geprägt durch ausführliche methodische Reflexion, es vergleicht die Situation in Südindien auch mit jesuitischen Aktivitäten anderer Kontinente, u.a. Europas und Iberoamerikas, es betont die kontextuelle Bezogenheit aller Aktivitäten, es zitiert ausführlich – teilweise amüsant zu lesen – zahlreiche farbige Berichte, es zeugt von großer musikwissenschaftlicher und historischer Kenntnis – und ist damit hervorragend ausgearbeitet. Die Autorin zeigt gute Wertschätzung sowohl der lokalen Hochkultur wie auch der jesuitischen Missionsarbeit. Beeindruckend ist in dieser wie in anderen Arbeiten, wie ganz „profane“ Wissenschaften, mit einem gesunden Blick von außen, in der Geschichte der Orden immer wieder Wegweisendes zu Tage bringen.
Was bleibt für die Gegenwart? Mission ist dann wirksam, wenn sie sich in lokale Kulturen hineinbegibt und die Menschen über die Sinne anspricht – die zentralistisch vereinheitlichte Kirchenkultur seit dem 19. Jahrhundert war dafür ein Rückschritt. Die römische Kirchenleitung muss Andersheit respektieren, für die Inkulturation des Glaubens in Fremdes, für pastorale Experimente, für die Eigenständigkeit kirchlicher Subkulturen in Orden, geistliche Bewegungen und lokalen Kirchen. Über Kultur geschieht Dialog, Kommunikation, Verbindung – und insbesondere die Musik als die Sprache der Engel öffnet die Herzen der Menschen für Transzendenz und für Gott.
Stefan Kiechle SJ