SchreibwettbewerbDie prämierten Essays

Zum 150-jährigen Jubiläum der „Stimmen der Zeit“ veranstaltete die Redaktion einen Essay-Schreibwettbewerb für junge Autorinnen und Autoren (unter 35 Jahre alt). Die Resonanz war hervorragend, es wurden 42 meist sehr gute Essays eingereicht. Die Jury (Prof. Dirk Ansorge, Claudia Keller, Stefan Kiechle SJ) prämierte drei Essays, die im Folgenden publiziert werden. Neben dem ersten Preis wurden zwei zweite Preise vergeben, die beim Jubiläums-Festakt in Berlin am 27. Mai 2021 überreicht werden. Die Preisträger: Dominique-Marcel Kosak (1. Preis) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Dogmatik der Universität Erfurt. Lea Caanitz (2. Preis) studiert spanische Philologie mit Lateinamerikanistik sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Jan Juhani Steinmann (2. Preis) ist Lehrbeauftragter für Philosophie und Doktorand an der Universität Wien. An den drei prämierten Essays überzeugte vor allem, dass sie zu aktuellen und brisanten Themen klare Thesen präsentieren, diese gut begründen und auch sprachlich und in der Essayform sehr gelungen sind. Die Redaktion gratuliert von Herzen der Gewinnerin und den Gewinnern! Einige weitere herausragende Essays des Wettbewerbs werden im Laufe der nächsten Monate publiziert werden.

Die Zukunft und der Abgrund 
Geschichtsinterpretation angesichts des Klimawandels

Dominique-Marcel Kosack 

Es gibt in unseren Breiten wohl wenige Phänomene der Natur, die das Urvertrauen des Menschen in das Leben so sehr bestärken wie die Abfolge der Jahreszeiten. Auf jeden noch so harten Winter folgt irgendwann die Wärme des Frühjahrs, auf jede noch so schlimme Dürre irgendwann der ersehnte Regen. Der Zyklus der Jahre verhindert zwar keine harten Zeiten und macht sie auch im Nachhinein nicht ungeschehen. Aber die Wiederkehr des immer Gleichen trägt in sich den Grund zur Hoffnung, dass mit dem neuen Jahr die Nöte wieder vergehen. Diese Hoffnung bezieht ihre Plausibilität aus dem Rhythmus der Natur – und sie ist heute in bisher ungekannter Weise bedroht. Die Häufung von Hitze, Trockenheit, Waldbränden und Unwettern könnte eine vorübergehende Erscheinung sein. Doch nun werden die globalen Rekorde des einen Jahres nur noch durch jene des jeweils nächsten Jahres übertroffen. Es folgt nicht die erlösende Wiederkehr dessen, was früher schon einmal besser war, sondern nur die noch größere Eskalation. Durch klimatologische Untersuchungen wird das Ausmaß dieser Entwicklungen erkennbar: Es geht nicht um eine extreme Phase, wie sie womöglich immer mal wieder vorkommt, es geht um etwas, das in zehntausenden von Jahren einmalig ist. Und gerade weil die zunehmenden atmosphärischen Extreme nicht durch die Zyklen der Welt hervorgerufen werden, können wir auch nicht einfach auf die Wende zum Besseren hoffen. Die Menschheit hat sich klimatisch etwas in ihrer Geschichte noch nie Dagewesenes erschaffen. 

Die Tragweite dieses Gedankens einzuholen, ist gar nicht so einfach. Er impliziert nicht nur veränderte Lebensbedingungen, sondern auch ein neues Verhältnis des Menschen zur Geschichte. An die Stelle eines zyklischen Bildes der Natur, die sich durch die ständige Wiederkehr erneuert, tritt das lineare Bild einer Welt, die sich auf Grund menschlichen Handelns unumkehrbar auf eine ganz andere Zukunft hin entwickelt. Die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser veränderten Interpretation liegen weit zurück – sie lassen sich hier ausgehend von Karl Löwith knapp nachzeichnen: Löwith hat maßgeblich die Unterscheidung eines zyklischen von einem linearen Geschichtsverständnis herausgearbeitet. Das Denken der griechischen Antike charakterisiert er als zyklisch. Der Kosmos ist darin durch einen regelmäßigen Kreislauf von Werden und Vergehen bestimmt, in dem es keine radikalen Brüche, sondern nur die zyklische Wiederholung gibt. Dagegen habe vor allem die christliche Heilsgeschichte ein lineares Verständnis mit sich gebracht. Das Heil liegt nun in einer von Gott kommenden Zukunft, mit der etwas noch nie Dagewesenes anbricht. In der Neuzeit wiederum habe sich, so Löwith, diese lineare Struktur auf die Menschheitsgeschichte übertragen. In dieser säkularen Heilsgeschichte bringt nun der Mensch selbst durch sein Tun eine Zukunft hervor, die mit nichts in der Vergangenheit vergleichbar ist. Der geschichtliche Umbruch, die Revolution oder die radikale Innovation bekommt damit ein enormes Gewicht und kann selbst zu einem Sinnträger werden. Aber in der Einmaligkeit des Geschehens kann auch ein bisher ungekannter Abgrund liegen, der durch keine Wiederkehr des Früheren mehr abgefedert wird. Diese Gefahr und die Angst vor ihr lag als Schatten besonders über dem 20. Jahrhundert. 

Löwith ist äußerst skeptisch gegenüber jedem philosophischen Versuch, Sinn oder Geltung in der Geschichte zu entdecken. Die einzige Erkenntnis aus der Geschichte sei, dass die Orientierung an ihr ins Leere führt. Immer wieder kommt er auf Friedrich Nietzsches Ausführungen zur ewigen Wiederkehr zu sprechen. Es geht darum, in das Schicksal und den immerwährenden Kreislauf der Natur einzuwilligen, das immer Gleiche zu bejahen – statt sich an die vermeintlichen Fortschritts- oder Verfallserscheinungen der Zukunft zu klammern. Löwith beobachtet, dass Nietzsche die Rückkehr zu dieser (heidnischen) Idee in ihrer ursprünglichen Form gar nicht gelingt, weil er selbst schon zu sehr von der (christlich grundierten) Moderne bestimmt ist. Doch heute versperrt noch etwas anderes diesen Weg, nämlich der Blick in die Natur selbst. Sie wurde schon längst hineingerissen in die unerbittliche lineare Dynamik der Geschichte und entkommt ihr nicht mehr. In ihr einen unerschütterlichen Kreislauf zu suchen, würde künftig die Realität verfehlen. Der nächste Winter kommt bestimmt, aber er ist nur noch ein schwacher Abglanz des früheren und kein Grund zur Beruhigung. Ja, es ist sogar eine Wurzel der gegenwärtigen Eskalation, dass die Menschheit so agiert, als könnte die Welt sich durch die Wiederkehr des immer Gleichen erneuern. 

Das lineare Denken hat seine Grundlage nicht zuletzt in einem christlich inspirierten Geschichtsverständnis. Doch welche Deutungspotentiale bietet die christliche Tradition angesichts der Dramatik einer anthropogenen linearen Veränderung der Grundlage allen Lebens? Das Buch Genesis stellt ein Paradies vor Augen, das immer schon verloren ist – und es auch bleibt. Die Johannesoffenbarung nährt in apokalyptischen Bildern die Hoffnung auf eine neue Erde. Doch zwischen diesen beiden Eckpfeilern, die als schöpfungstheologische und eschatologische Grundprinzipien jenseits der Geschichte stehen, eröffnet sich ein weites Feld möglicher Interpretationen der Geschichte selbst. Zumindest unter US-amerikanischen Evangelikalen ist aktuell die Erwartung einer Wiederkunft Christi in den kommenden Jahrzehnten stark verbreitet. Angesichts des nahen Endes aller bekannten Wirklichkeit verlöre der ökologische Kollaps seinen bedrohlichen Charakter, ja er könnte sogar ein Zeichen der anbrechenden Endzeit sein. Die Welt wäre damit sicher in Gottes Hand, selbst wenn es so wirkt, als ob ihm das Schöpfungswerk längst entgleitet. Doch ist es mit Blick auf die Christentumsgeschichte zumindest denkbar, dass diese Naherwartung sich wieder nicht erfüllt. Folgt dann statt des apokalyptisch erlösenden Endes mit Schrecken nur noch der Schrecken ohne Ende?

Wenn die Gewissheiten eines ewigen Kreislaufes verbaut sind, doch gleichzeitig die lineare Geschichte kein sinnvolles Ziel mehr findet, bleibt nur noch der Weg in eine offene Zukunft. Sie konfrontiert den Menschen mit einer unerhörten Verantwortung, die nichts Erhabenes mehr an sich hat, sondern sogleich durch seinen fortgeschrittenen Kontrollverlust konterkariert wird. 

Theologisch gesprochen ist dies eine radikale Entäußerung Gottes: Er gibt seine Schöpfung einem Geschöpf preis, das sich seiner Verantwortung kaum bewusst und mit ihr völlig überfordert ist. Er sichert sie dabei weder durch einen gleichsam göttlichen Zyklus der Natur ab noch durch die Möglichkeit, Verluste zu korrigieren. Jeder Moment bekommt damit ein außerordentliches Gewicht und ist zugleich durch eine groteske Sinnlosigkeit überschattet. Wenn nun das Vertrauen in die Abfolge der Jahreszeiten verblasst und die Extreme sich überbieten, heißt das daher auch: Der Mensch muss seinen Platz in der unumkehrbar veränderten Welt neu finden, ob er es will oder nicht. Er bringt etwas noch nie Dagewesenes hervor und hat dadurch alles zu verlieren. 

 

 

Schachspielen und Gerechtigkeit

Lea Caanitz

Die Welt muss gerecht sein. Mit neun war ich davon vollends überzeugt. Hat jemand etwas getan, etwas Unrechtes, habe ich aufbegehrt. Natürlich besonders, wenn das Unrecht mir selbst angetan wurde. Ich habe geschrien, kaputtgemacht und boykottiert. Mit zehn schrieb ich eine Mail an Angela Merkel, in der ich erklärte, dass ich es ungerecht fände, dass mein Vater so viel arbeiten müsse, schließlich habe er ja Kinder und sie sei als seine indirekte Chefin für dieses Unrecht verantwortlich. Eine Antwort erhielt ich nie, es änderte sich nichts. Bei größerem Unrecht lief ich davon: aufs Feld, durchs Dorf, in den Wald. Einmal war ich so wütend und gekränkt, dass ich mit meiner Decke in den Fahrradschuppen im Garten zog. Dabei waren mir zwei Dinge immer besonders wichtig: Ich wollte, dass alle mitbekommen, dass ich nicht einverstanden war mit dem, was passierte und, dass sich das Unrecht in Recht kehren lässt. Auch wenn ich Stück für Stück realisiert habe, dass die Welt zwar gerecht sein sollte, aber dem nicht so ist, habe ich meine Grundeinstellung beibehalten. 

Da ich sehr behütet aufgewachsen bin, spielte Ungleichheit für mich nie eine größere Rolle: Jeder der wollte, konnte doch Musikunterricht nehmen, jeder der nur gut genug war, im Sportverein sein. Es war für mich auch normal, dass alle Menschen in meinem Umkreis Abitur machten und von einem ihrer Elternteile in einem der beiden Familienautos zum Abiturball gebracht wurden.

Meine Eltern reisten früh mit meiner Schwester und mir um die Welt, und so bekam ich doch ein kleines bisschen von der Armut mit, die existiert. Vietnam, Sri Lanka, Peru und Mexiko haben mich geprägt. So richtig aufgewacht bin ich, als ich fünfzehn Jahre alt war, im Schüleraustausch in Costa Rica. Meine dortige beste Freundin Mellanie und ich standen in der Schulmensa, und uns knurrten beiden kräftig die Mägen, als sie zu Boden sah und behauptete, sie hätte keinen Hunger. Für mich war es damals unbegreiflich, wie etwas so offensichtlich Unrechtes so unbehoben bleiben konnte. Seit ich diese andere Seite der Welt kennenlernen durfte, konnte ich das Unrecht nicht mehr ignorieren. Von überall schaute es mich nun auch in Deutschland an. Ich fing an, meine Privilegien zu begreifen und an der Welt, die ich für selbstverständlich wahrnahm, zu zweifeln. Es stellen sich mir seitdem immer wieder dieselben Fragen. Es sind die Art von Fragen, die Erwachsene meistens kurz mit den Achseln zucken lassen. Sie haben keine Antworten darauf, es ist einfach so. Und auch: Es ist viel zu kompliziert, es zu ändern, daran kann man selbst auch nichts ausrichten. Das für mich sichtbare und zugängliche Leid wuchs und ich wurde zunehmend frustrierter. Da ich schon zu alt war fürs Weglaufen und In-den-Schuppen-Ziehen, und da ich langsam einsah, dass das leider auch nicht mehr anrichten konnte, als Emails an Frau Merkel zu schreiben, versuchte ich für mich in meinem Leben einen Weg zu finden, um mit der Ungerechtigkeit umzugehen. Ich kam mir schrecklich töricht und verwöhnt vor, hatte ich mich schließlich über Dinge beschwert, die man heute als Luxusproblem abtun würde. 

Meine Fragen nach der Gerechtigkeit auf der Welt bleiben. Womit habe ich es verdient, in dieses Leben hineingeboren zu werden? Ich habe Glück gehabt. Pures Glück. Es war kein reiner Verdienst, der mich dorthin gebracht hat, wo ich heute stehe, vieles davon hatte mit Glück zu tun. Wenn wir Menschen etwas gerecht gestalten wollen, zum Beispiel ein Brettspiel, dann versuchen wir meist alle Variablen, die vom Glück abhängig sind, zu beseitigen. Wir würden sofort sagen, dass Schach ein faires Spiel ist, Mensch-ärgere-dich-nicht hingegen empfinden wir als unfair. Leider ist das Spiel der Wahl vieler Menschen in Machtpositionen weltweit nicht das Schachspiel, sondern das Mensch-ärgere-dich-nicht. Wir fordern Gerechtigkeit, machen sie aber vom nie gerecht verteilt auftretenden Glück abhängig. Ist das nicht absurd?

Es gibt Dinge, die sind von Natur aus dazu prädestiniert, zum Unrecht zu verleiten, egal mit welcher guten Absicht man sie auch angeht. Und es gibt Dinge, die sind von Natur aus dazu prädestiniert, zu Unrecht zu verleiten, besonders, wenn man sich nur um sich selbst sorgt und mit den Schultern zuckt. Aber es gibt auch andere Dinge. Dinge, die nicht nur gerecht sein können, sondern auch gerecht sein müssen. Dinge, die in unseren Händen liegen.

Nach Gerechtigkeit zu streben, bedeutet gleichzeitig auch, Veränderungen zu akzeptieren, auch wenn sie sich erst einmal unbequem anfühlen können. Die Welt, wie wir sie kennen, funktioniert unter anderem, weil wir Ungerechtigkeiten einfach so hinnehmen, auch, weil sie uns als Mitteleuropäer meist bevorteilen. Erst wenn wir uns unserer Privilegien bewusst werden, können wir etwas verändern. Das Thema der Gerechtigkeit frustriert uns gerne, denn wir wissen: Oft sind wir im Recht. Allein, dass wir hier geboren sind und so behütet aufwachsen dürfen, ist für uns großartig, jedoch macht es uns automatisch indirekt zu Schuldigen an der Ungerechtigkeit. Auch das ist pures Glück, dafür können wir nichts. Glücklicherweise sind wir Menschen mit menschlichen Gefühlen. Auch, wenn wir selbst nicht von Unrecht betroffen sind, werden wir wütend, fühlen uns betroffen und haben sogar den Wunsch nach Veränderung. Manche von uns engagieren sich sozial oder verändern für sich etwas im Kleinen, was für andere Großes bewirkt. Trotzdem neigen wir oft dazu, auf Fragen, die Unrecht aufdecken oder anklagen, mit den Schultern zu zucken. Auch wenn wir den Bedarf zur Veränderung sehr wohl erkennen, denken wir, dass manche Dinge einfach nicht von uns kleinen Menschen geändert werden können. Die gute Nachricht ist: Das stimmt nicht. Natürlich gibt es Unrecht, auf das wir keinen Einfluss haben, jedoch ist das meiste Unrecht menschengemacht. Das heißt, wir können, dürfen und müssen es verändern. Im Kleinen und im Großen. 

Auch heute habe ich noch manchmal den Drang wegzulaufen, aus Trotz in den Schuppen umzuziehen und wütende Emails an Politiker zu schreiben. Unrecht zu sehen und darauf zu reagieren ist nicht bequem. Man ist frustriert, verzweifelt und möchte manchmal der Einfachheit halber einfach mit den Schultern zucken. Am Ende sind wir alle Menschen. Wir können jeden Tag die Welt ein Stück gerechter machen. Das fängt im Kleinen an, im Respekt füreinander, im gegenseitigen Stärken aller Menschen, im Akzeptieren anderer Menschen wie sie sind; im Liebe zeigen, denn jemanden zu lieben heißt, der Missgunst keine Chance zu geben; im Hinsehen und Anerkennen, im Verändern, im Schachspielen. 

Die Welt ist nicht gerecht. Aber: Zuckende Schultern hindern helfende Hände. 

 

 

Das Grab im Westen 

Jan Juhani Steinmann

Getreu dem Wort Blaise Pascals, dass der Mensch den Menschen unendlich übersteigt, nährt das Ideal einer Selbstüberhöhung des Menschen auch den gegenwärtigen Zeitgeist. Anders aber als in der Antike, als Paulus in seinem Brief an die Epheser einforderte, dass man den neuen Menschen anziehen soll, der nach Gott geschaffen sei; in der Renaissance, als Giovanni Pico della Mirandola in seiner Rede Über die Würde des Menschen vom Aufstieg des unbestimmten Menschen schrieb, der sich durch Selbstbestimmung bis zur Gottwerdung aufschwingen könne; oder im späten 19. Jahrhundert, als Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra den Übermenschen verkündete, der sich, anstelle des toten Gottes, selbst zum Schöpfer neuer Werte überwinden solle, präsentiert sich das heutige Ideal der Selbstüberhöhung nicht primär als Folge einer dem menschlichen Willen innewohnenden Kraft, geschweige denn als Gnadengabe, sondern als Konsequenz der menschlichen Verschmelzung mit der Technologie.

Ausgangspunkt dieser technologischen Selbstübersteigung ist dabei der als defizitär verstandene Mensch, der eines externen Korrektivs bedarf. Wo dies mit verschiedenen, technisch unterlegten Anthropotechniken der Selbstoptimierung heute schon seinen Anfang genommen hat, bahnt sich in absehbarer Zeit, etwa mittels Genmanipulation, Gehirnimplantaten oder Nanobots, eine allgemeine Transhumanisierung des Menschen an. Am Horizont dieser Entwicklung steht die posthumanistische Vision einer technologischen Singularität, in welcher der Mensch mit einer computerbasierten, gottgleichen Superintelligenz verschmelzen wird. Dass etwa Elon Musk im Sommer 2020 die baldige Implantation von Brain-Computer-Interfaces seiner Firma Neuralink bei Menschen verkündet hat, der Nobelpreis für Chemie im selben Jahr für die Genschere CRISPR/Cas9 verliehen wurde, mit welcher sich DNA-Bausteine im Erbgut verändern lassen, und Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google, auf die Frage, ob es einen Gott gibt, mit „Noch nicht“ antwortete, dürfte auch den Skeptikern dieser Entwicklungen zeigen, dass sie, zumindest ihrem Ansinnen nach, weitaus mehr als bloße Rhetorik sind.

Hinter diesen Bestrebungen einer technologischen Selbstübersteigung des Menschen lassen sich vor allem zwei treibende Kräfte ausmachen, welche bereits die antike Philosophie auf den Begriff brachte: Zum einen das menschliche Streben nach Glückseligkeit, wie Aristoteles dies in seiner Nikomachischen Ethik beschreibt; zum anderen der menschliche Drang zur Verähnlichung mit der Gottheit, soweit dies möglich ist, wie Platon dies etwa in seinen Nomoi diskutiert. Beide Motive kehren in leicht abgewandelter Form auch in den Idealen des Trans- und Posthumanismus wieder, indem nämlich sowohl das menschliche Leiden ausgemerzt als auch die Unsterblichkeit erlangt werden sollen. Und erst dann, wenn der Mensch sich selbst durch eine technologische Apotheose zur Gottheit erhoben hat, wird er auch glückselig sein. 

In Entweder-Oder berichtet Søren Kierkegaard von einem in England befindlichen Grab mit der Inschrift „Der Unglücklichste“. Als man das Grab aushob, war es leer. Ganz zum Spott von Aristoteles ruft der Autor so einen Wettlauf auf diese letzte Ruhestätte aus, für die manch ein Unglücklicher sich auserwählt sieht. Doch was bedeutet es, der „Unglücklichste“ zu sein? Unglücklich ist nach Kierkegaard derjenige, der sich selbst abwesend ist, und zwar indem er sich einerseits im plus quam perfectum der Erinnerungen und andererseits im futurum exactum der Hoffnungen verloren geht. Diese Erklärung mutet zunächst seltsam an, denn oftmals ist das Gegenwärtigsein in den eigenen Erinnerungen und Hoffnungen gerade Quell des Glücks. Kierkegaard präzisiert deshalb: Der Unglücklichste ist derjenige, der sich selbst in seinen Hoffnungen abwesend ist, weil er auf das hofft, woran er sich erinnern sollte. Seine Hoffnung wird folglich immer enttäuscht. Ebenso ist er derjenige, der sich selbst auch in seinen Erinnerungen abwesend ist, denn er erinnert sich an das, worauf er hoffen sollte. Der Unglücklichste lebt also ein doppelt verkehrtes Leben. Er hat sowohl seinen Lebensinhalt als auch sein eigentliches Wesen außer sich, denn er ist sich selbst stets entzogen und hat somit auch keine Gegenwart. Wer aber war dieser Unglücklichste? Vielleicht Niobe, die all ihre Kinder verlor, oder Hiob, der vom Satan Versuchte? Oder sogar Christus, der Auferstandene? Kierkegaard lässt die Frage offen und bewahrt so das Geheimnis des leeren Grabes. 

Wie aber, wenn der Wettlauf auf das leere Grab noch gar nicht abgeschlossen ist? Wenn der Unglücklichste also nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft angehört? Wie, wenn wir hier gerade den trans- und posthumanistisch motivierten Menschen der Gegenwart ins Rennen schicken müssten? Wenn dieser nämlich glaubt, dass er das Glück durch Unsterblichkeit erlangen kann, indem er das Leiden eliminiert und durch Verschmelzung mit einer Superintelligenz gottgleich wird, so will er dies alles im Diesseits und nicht im Jenseits. Die trans- und posthumane Eudaimonie der Selbstapotheose ist Ausdruck einer Immanenz ohne Transzendenz. Hofft er damit aber nicht auf ein Glück, an welches er sich eigentlich erinnern sollte, nämlich als Gunst aller leidlos verlebten Tage, die im Diesseits niemals selbstverständlich sind? Erinnert er sich damit nicht eigentlich an Gott, auf den er hoffen sollte, nämlich als denjenigen, den es tatsächlich gibt und der ihn, über das Diesseits hinaus, erlösen wird? Und hofft er damit nicht auch auf einen Gott, wo er sich erinnern sollte, dass eine Gottwerdung im Diesseits jedenfalls unmöglich ist? Und erinnert er sich so nicht eigentlich an das Glück, wo er doch hoffen sollte, dass ihm kein unerwartetes Unglück widerfahren wird?

Wenn dies zutrifft, dann ist der trans- und posthumanistisch motivierte Mensch sich selbst doppelt abwesend, denn er hat in seinen Desiderien keine Gegenwart. Je mehr er also hofft, worauf er hofft, und sich erinnert, woran er sich erinnert, desto unglücklicher wird er. Er droht aber nicht nur deshalb der Unglücklichste zu werden, weil er seine eigene Gegenwart verfehlt, sondern weil er auch die Zeitlichkeit seines Begehrens verkennt: Denn das Glück und Gott lassen sich nicht durch eine vermeintliche Eliminierung des Leidens oder die Unsterblichkeit in der Zeit erlangen. Beide sind im Diesseits angelegt, weisen aber auf ein Jenseits ihrer eigenen Erfüllung. Es scheint also, dass sich das Ideal der technologischen Selbstüberhöhung des Menschen als ein kolossales Missverständnis herausstellt: Es sät einerseits ein Versprechen auf Glück, riskiert es aber, das Unglück der Selbstverfehlung des Menschen zu ernten, denn allzu viele seiner Versprechen klingen nach einer insgeheimen Sehnsucht, in die Vorgeburtlichkeit zu entfliehen, wo es noch kein Leiden gab. Es ruft andererseits die Verheißung der Gottwerdung aus, riskiert es aber, die große Gottverkennung zur Antwort zu erhalten, denn allzu viele seiner Verheißungen deuten eine Flucht vor dem als unerträglich erfahrenen Tod an. – Es ist wahr, der Mensch übersteigt unendlich den Menschen, doch tut er dies als Geborener nur, insoweit er auch den Tod bejaht und auf seine Vollendung zielt im Jenseits aller Dinge. Jener aber, der im technologisch gesteigerten Diesseits das Grab im Osten wähnt, läuft er nicht Gefahr, den Wettlauf auf das leere Grab im Westen für sich zu entscheiden?

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