Geschichte wiederholt sich eigentlich nicht. Aber es gibt überraschende Wiedererkennungseffekte. Manchmal muss sich der Staub der jeweils zeittypischen Aufregungen erst legen, um das im Rückblick klarer zu sehen. Kürzlich schaltete sich Josef Schuster in die Debatte um die „Verletzung religiöser Gefühle“ ein, und zwar anlässlich des Gedenkens an die Anschläge auf „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 und vor dem Hintergrund des Mordes in Paris an dem Geschichtslehrer Samuel Paty, der im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte (Stimmen der Zeit 2/2021, 121-132). Zeitgleich stieß ich zufällig auf das Gedicht „Peinlicher Vorfall“ von Bertolt Brecht. Zusammen mit anderen deutschen Literaten im US-amerikanischen Exil war Brecht am 14. August 1943 der Einladung von Alfred Döblin ins kalifornische Santa Monica zur Feier von dessen 65. Geburtstag gefolgt. Döblin verursachte auf dieser Feier einen Skandal. Nach den üblichen Dankesworten schockierte er die Anwesenden mit der Mitteilung, dass er katholisch geworden sei.
Bert Brecht war wie vor den Kopf gestoßen und verfasste kurz darauf das genannte Gedicht: Als einer meiner höchsten Götter seinen 10 000. Geburtstag / beging, / Kam ich mit meinen Freunden und meinen Schülern, ihn zu feiern. [...] / Die Stimmung war gerührt. Das Fest nahte seinem Ende. / Da betrat der gefeierte Gott die Plattform, die den Künstlern gehört, / Und erklärte mit lauter Stimme, / Dass er soeben eine Erleuchtung erlitten habe und nunmehr / Religiös geworden sei, und mit unziemlicher Hast / Setzte er sich herausfordernd einen mottenzerfressenen Pfaffenhut auf / Ging unzüchtig auf die Knie nieder und stimmte / Schamlos ein freches Kirchenlied an, so die irreligiösen Gefühle / Seiner Zuhörer verletzend, unter denen / Jugendliche waren. / Seit drei Tagen / Habe ich nicht gewagt, meinen Freunden und Schülern / unter die Augen zu treten, so / Schäme ich mich.
Es gibt also die Verletzung „irreligiöser Gefühle“. Mit verletzten Gefühlen wird gelegentlich auch von radikalen Laizisten im Falle der Sichtbarkeit von religiösen Symbolen argumentiert. Wenn diese auch noch von religiösen Gruppen mit missionarischer Absicht in der Öffentlichkeit inszeniert werden, kommt ein weiteres Erregungselement hinzu. Das zeigte sich kürzlich mal wieder in einem Antrag von „DieLinke.Pirat“ in der Regionalversammlung Stuttgart zur Aktion Bibelzitat-Plakate der Süddeutschen Plakatmission im ÖPNV: „Im öffentlichen Nahverkehr sollten die Nutzer nicht ungewollt mit dogmatischen Bibelzitaten konfrontiert werden, die ihre eigenen religiösen oder weltanschaulichen Empfindungen herabsetzen.“
Im Falle des Auftritts von Santa Monica wird bei Döblin weniger missionarische Absicht vorgelegen haben, wenn auch ein möglicher missionarischer Effekt, der bis heute in Form von dröhnendem Schweigen nachhallt: Als Autor von „Berlin Alexanderplatz“ ist Alfred Döblin zwar nicht aus der Germanistik wegzudenken, aber sein Œuvre aus der Nachkriegszeit ist von Schweigen umgeben. Die Verletzung irreligiöser Gefühle hat bei Brecht aber auch mit dem Gefühl des Verrats zu tun, nach dem Motto: „Einer von uns, mehr noch: Einer unserer irreligiösen Götter ist zur anderen Seite übergelaufen.“ Das spürte auch die jüdische Katholikin Elisabeth Langgässer. Sie schrieb 1947: „Dass einer, der früher einer von ihnen war, vor dem Kreuz niederfällt und anbetet, mag noch angehen … dass aber ein solcher Geist seine Konversion nicht in ästhetischen Kategorien vollzieht, sondern zuletzt hinkniet wie ein alter Bauer – etwas schwerfällig mit steifen Knien – und so betet: Seele Christi, heilige mich. Leib Christi, erlöse mich, Blut Christi, tränke mich – das darf nicht sein“ (zitiert nach Matthias Hilbert: Gottsucher. Dichter-Bekehrungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neuenkirchen 2020, 86).
Brecht fühlte sich verraten. Anders akzentuieren heute diejenigen, die daran Anstoß nehmen, dass die öffentliche Präsenz von „dogmatischen Bibelzitaten“ die „eigenen religiösen und weltanschaulichen Gefühle“ herabsetze, also nicht nur irreligiöse, sondern auch religiöse Gefühle, zum Beispiel – so könnte man vermuten – die von Muslimen, die aus religiösen Gründen Anstoß nehmen am Kreuz. Hier müsste man allerdings Muslime selbst befragen, bevor man meint, im Namen des Laizismus religiöse Gefühle anderer schützen zu müssen. Letztlich stimmen nämlich der fürsorgliche ebenso wie der aggressive Laizismus, der Gefühle gerade verletzen will, weil sie religiös sind (siehe Charlie Hebdo), im Grundanliegen überein: Religion soll aus dem öffentlichen Raum verschwinden.
Das aber wird nicht gelingen, wie der Fall Döblin zeigt. Es wird immer wieder passieren, was für Brecht der Verrat war: Einer oder eine „von uns“ geht unvermutet, zur Überraschung aller „unzüchtig auf die Knie“ nieder, stimmt „schamlos ein freches Kirchenlied“ an, „so die irreligiösen Gefühle seiner Zuhörer verletzend“, und tut dies auch noch in Anwesenheit von Jugendlichen, die durch diesen Anblick zu Interesse gegenüber religiösen Äußerungen im öffentlichen Raum verführt werden könnten. Es gibt eben eine nicht vermeidbare Verletzung irreligiöser Gefühle, wenn religiöse Konversion möglich bleiben soll – und umgekehrt natürlich genauso.