ProphetHans Küng (19.3.1928 - 6.4.2021)

Mit Hans Küng verlor die moderne Theologie Anfang April einen ihrer wichtigsten Denker. Bekannt ist der Schweizer Priester und Theologe für seinen Konflikt um die Unfehlbarkeit des Papstes, der zum Entzug der Lehrerlaubnis führte. Küng war aber kein Gegner der römisch-katholischen Kirche, sondern ein unangenehmer „Prophet“, wie Wolfgang Beinert schreibt. Der Autor skizziert Küngs theologische Entwicklung anhand von dessen Biografie. Er ist emeritierter Professor der Universität Regensburg, wo er Joseph Ratzinger auf den Lehrstuhl für Dogmatik gefolgt war.

Das Professorium der Katholischen Theologischen Fakultät Tübingen war in den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine Versammlung illustrer Namen. Für die Studierenden aber waren die absoluten Stars die beiden „dogmatic brothers“ Hans Küng (an der Fakultät seit 1960, zunächst als Fundamentaltheologe) und Joseph Ratzinger (seit 1966 Professor in Tübingen). Die größten Hörsäle reichten gerade aus (manchmal auch nicht), um den Hörerinnen- und Hörerscharen Platz zu bieten, darunter zahlreichen Nichttheologen, ja Nichtstudenten. Die beiden hatten vieles gemeinsam, was in diesen unruhigen Jahren der unmittelbaren Nachkonzilszeit hilfreich, ermutigend, manchmal auch trostreich wirkte. Beide zeigten sich als hoch kenntnisreiche Fachleute, begabt mit anziehender Rhetorik, jung, dynamisch, offenen Geistes, hinreichend vernetzt, im besten Sinn Erneuerer der guten Tradition der alten Tübinger Katholischen Schule des 19. Jahrhunderts, auch persönlich freundschaftlich verbunden. Dass es zu dieser einzigartigen Symbiose gekommen war, ist Küng zuzuschreiben. Gewichtige Fakultätsmitglieder trugen Bedenken, den Münsteraner Dogmatiker vom Aasee an den Neckar zu berufen. Küng hingegen wollte gerade ihn als Ergänzung zu seinem eigenen Denken.

Schon nach wenigen Jahren trat eine Entfremdung zwischen beiden ein, die bald zum Bruch führte. Verursacht war sie von den katalysatorischen Ereignissen des Schicksalsjahres 1968: im kirchlichen Bereich die gerade in Tübingen heftig bemerkliche Studentenrevolution sowie die Publikation von Humanae vitae, der Enzyklika Pauls VI. über die Empfängnisregelung. Rasch zeigte sich, dass der Schweizer und der Oberbayer grundverschiedene Personen waren, verschieden nach Ansatz wie nach Intentionen. Sollte man den Gegensatz kurz umreißen, könnte man wohl – im ganzen Wissen um die Problematik eines solchen Unterfangens – formulieren: Von den drei traditionell dem Christenmenschen und besonders den klerikalen zugeschriebenen „Ämtern Christi“ verkörperte Joseph Ratzinger den Typus des Priesters, Hans Küng jenen des Propheten. Ratzinger: hieratisch-hierarchisch, ästhetisch, liebenswürdig, ordnungsbedacht – Küng: zukunftsausgerichtet, liberal, sensibel für die Verwerfungen der Zeit, manchmal schroff gegenüber anderen, die er nicht auf Augenhöhe mit sich glaubte. Zeitlebens sind sie sich nicht mehr wirklich nahe gekommen: Zwar lud Benedikt XVI. im Jahr 2005 den ehemaligen Kollegen noch einmal nach Castel Gandolfo zu Gespräch und Abendessen ein – aber beide klammerten alle möglichen Kontroverspunkte mit Sorgfalt aus. Am Ende hat sie dann doch noch etwas eng verbunden: Beide scheiterten am System.

Rom I: Prophetenschule

Geschichte kann sehr ironisch sein. Wenn man nach dem Ort der Bewusstwerdung des prophetischen Charismas Küngs sucht, muss man ausgerechnet in jenes päpstliche Rom gehen, das sich in der Folge als sein Haupt- und Generalgegner erweisen sollte. 1948 schickte der Baseler Bischof den hochbegabten jungen Priesteramtsbewerber aus Sursee zum Studium an die Universität „Gregoriana (Pontificia Universitas Gregoriana). Damit verbunden war die Aufnahme ins Priesterseminar „Germanikum“ (Pontificum Collegium Germanicum et Hungaricum de Urbe). Beide Institutionen werden von der Gesellschaft Jesu geführt; ihren Ursprung haben sie ebenfalls beide im Werk des Ordensgründers Ignatius. Während des ersten römischen Aufenthaltes von Küng nahm die Ordensleitung einen Generationenwechsel hier wie dort vor, der sich allerdings als weit mehr als das erweisen sollte. Der neue Rektor des Kollegs (offiziell seit 1953, aber schon vorher kommissarischer Chef) war P. Franz Graf von Tattenbach SJ, ein gerade einmal 40 Jahre alter Mann. Zusammen mit dem wesentlich älteren Spiritual, dem legendären P. Wilhelm Klein SJ (1948-1962), unternahm er vorsichtig-umsichtige Schritte zu einer Anpassung des Kollegs an die sich nach dem Krieg anbahnenden gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungen. Parallel dazu machte auch die Universität einen Wandel durch. Die neue Professorengeneration löste sich langsam aus den Verengungen der Neuscholastik. Sie befasste sich nicht nur mit den Geistern des Mittelalters, sondern versuchte sich, ebenfalls mit großem Bedacht, auch an der Auseinandersetzung mit dem modernen philosophischen wie theologischen Denken.

Das war in den Spätjahren des Pontifikates Pius XII. nicht nur ein Wagnis, es schien vornehmlich unbegründet. Der damalige Bamberger Weihbischof Artur Michael Landgraf (1895-1958), exzellenter Kenner der Frühscholastik, äußerte gern: „Wenn es eine Prophezeiung gäbe, dass das Weltenende kommen werde, wenn die Kirche sittlich wie theologisch auf einem Hochstand angelangt ist, dann müsste es bald so weit sein“. Im Fall der Theologie war er überzeugt, dass der absolute Gipfel erreicht sei. Es herrschte, das war weithin Konsens, in der Tat Frieden und Zufriedenheit auf allen Ebenen. Freilich dauerte es nicht mehr lange, bis sich die pianische Ruhe als Gottesackerruhe herausstellte: Als in der Vorbereitung des Konzils Vorschläge für das Programm erbeten wurden, sammelten sich tausende Voten im Vatikan, später in rund einem Dutzend Bänden veröffentlicht. Sie alle mahnten allenthalben Veränderungen, Reformen, Aufnahme ganz neuer theologischer wie pastoraler Themen in die kirchliche Debatte an.

Für die Germaniker, also auch für Hans Küng, zeigten sich die ersten Risse in der scheinbar gut verputzten Fassade der Kirche ziemlich oft, jedes Mal, wenn sie den Antimodernisteneid Pius X. (1910) ablegen mussten, also bei allen Weihen und allen akademischen Graden, die sie bekamen. In ihm war die Abschottung der Kirche vor den Zeichen der Zeit unübersehbar deutlich. Die neuen Verhältnisse in Universität und Kolleg aber hatten sie längst aufgesprengt: Man beschwor nach dem Mittagessen, was man vor dem Mittagessen in der Gregoriana als schon lange überholte Thesen serviert bekommen hatte. Küng war nicht der einzige, der den faktischen Zynismus mitbekam. Gleichzeitig mit ihm waren damals im Germanikum Theologen wie Gottfried Bachl, Gisbert Greshake, Gotthold Hasenhüttl, Peter Hünermann, Karl Lehmann, Hermann Josef Pottmeyer – um nur einige zu erwähnen, die im nachkonziliaren Deutschland wichtige Impulse für die Kirche gaben. Aber niemand hat die Situation und ihre möglichen Implikationen ähnlich scharf wie der Schweizer beobachtet.

Kampf um das Konzil

Kaum jemand hat wohl auch so sehr unter der Entwicklung gelitten, die sich seit Paul VI. mit immer größerer Klarheit abzeichnete. Das Konzil, an dem er ebenso wie Ratzinger als Experte (Peritus) teilgenommen hatte, sollte die Glaubensgemeinschaft nach Jahrhunderten der rigorosen Distanz zum Zeitgeschehen wieder dialogfähig – nicht angepasst – machen: Aggiornamento lautete das Kennwort, unter dem Johannes XXIII. die Kirchenversammlung 1959 angekündigt hatte. Küng nahm sehr bald wahr, dass die Kirchenleitung, angefangen bei Paul VI., kaum verhüllt den Rückwärtsgang einschaltete. Das machte ihn, der so empfindsam für die Einschlüsse des Zeitgeschehens war, der unbestechlich klar die Gefahren erkannte, welche aus der Verweigerung des Aggiornamento für die Kirche erwachsen mussten, sehr bald zum entschiedenen, mehr noch: erbitterten Gegner der römischen Kirchenpolitik.

Es konnte kaum überraschend sein, dass sich aus den Gefechten, die an verschiedenen Fronten ausbrachen (vor allem zu den Themen Empfängnisregelung, Abtreibung, Gültigkeit der anglikanischen Weihen, Frauenordination, Zölibat), die Schlacht um die päpstliche Unfehlbarkeit entwickelte. Sie wurde zum Hauptkonfliktpunkt in der Auseinandersetzung Küngs mit dem römischen Magisterium. Das Dogma von der absoluten Papstmonarchie, artikuliert im Jurisdiktionsprimat und eben der Infallibilität des römischen Bischofs, war der Höhepunkt der antimodernistischen Abschottungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts. Die Feinde der Kirche mussten, so argumentierte Graf Mastai-Ferretti, der spätere Pius IX., ihre Waffen strecken, wenn deren Oberhaupt sie machtvoll widerlegte, im Rücken die gewaltigen, einmütigen Scharen der Katholiken. Das war zwar, wie der Kirchenhistoriker Hubert Wolf nachweist, „invention of tradition“ – niemals war der päpstliche Absolutismus so auf die Spitze getrieben worden – aber die traditionell denkenden Kirchenleute versprachen sich davon nicht nur die epistemologische, sondern auch noch die hamartiologische Unangreifbarkeit der Institution Kirche: Im Begriff fehlbar schwingt nicht nur Irrtumslosigkeit, sondern auch noch Sündenfreiheit mit. Die katholische Kirche war frei von Irrtum, „frei von Schuld und Fehle“ (Schiller).

Es ist tragisch, dass das von Küng erahnte Desaster der Kirche tatsächlich nicht an der Lehre, sondern an der Moral seinen Ausgang nahm. Dabei offenbarten sich auch die Zusammenhänge: Die Aufdeckung der sexualisierten Gewalt zeigte, dass die Täter weitgehend Kleriker und Ordensleute waren, also jene Personengruppen, denen fast ausschließlich die Lehre und die Ausübung der Autorität in der Kirche anvertraut war. Die beiden Komplexe bedingten sich gegenseitig. Die doktrinale wie die moralische Autorität der Kirche tendierte gegen Null. Hans Küng hat darunter außerordentlich bis zum Ende gelitten.

Rom II: Weg in die theologische Weite

Es kam, wie es kommen musste. Seine scharf durchdachten, aber auch manchmal übers Maß scharf formulierten Invektiven gegen das Erste Vatikanische Konzil und seine Konsequenzen führten im Dezember 1979 zum Entzug der Lehrerlaubnis erst durch Rom, dann durch die Deutsche Bischofskonferenz. Jetzt zeigte sich die Geschichte abermals von ihrer ironischen Seite. Das Ziel der Maßnahmen war nicht nur eine Abstrafung, sondern auch der Entzug des Echoraums für seinen theologischen Einfluss. Haargenau das Gegenteil geschah. In seiner prophetischen Weitsicht hatte der Schweizer schon in frühen Jahren erkannt, dass um ihres Auftrags wie um ihrer Wirksamkeit willen sich die Kirche heute allen Bestrebungen öffnen müsse, die im Geist des Evangeliums wirkten, unter welchem Label auch immer. Seine Dissertation über die Rechtfertigungslehre seines Landsmannes Karl Barth war eine erste bedeutungsvolle Etappe in der Realisierung dieser Einsicht. Sie verhalf ihm auch sofort zu einer außerordentlichen Bekanntheit, die später immer größere Dimensionen annehmen sollte. Seit 1963 trug sein Lehrstuhl in Tübingen die Bezeichnung „Dogmatik und Ökumenische Theologie“; ein Institut für letztere wurde im gleichen Jahr eingerichtet und ihm als Direktor anvertraut.

Die römische Disziplinierung nun erwies sich als ein Akt der Niederlegung aller akademischen Begrenzungen seines Arbeitsfeldes. Aus der Beobachtung der politischen Entwicklung wurde ihm deutlich, dass ökumenisches Denken und Handeln sich nicht auf den binnenchristlichen Bereich beschränken konnte, sondern alle Religionen einzubeziehen hatte. 1989 legte er für ein Symposion an der UNESCO ein Basispapier vor mit dem Titel „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“. Bereits im Titel spricht sich die Überzeugung aus, dass die einzige moralische Instanz, welche die finale Katastrophe der Menschheit aufhalten könnte, die Religionen seien. Diese müssten so weit als möglich um dieses Zieles willen miteinander wirken. Die „Stiftung Weltethos“ wurde gegründet, deren Präsident Küng bis 2013 blieb. Rom hatte ihm den Weg eröffnet, so etwas wie ein Lehrer der Welt zu werden.

Seine Tätigkeit führte Küng buchstäblich rund um den Globus. Höhepunkt seiner Vortragsarbeit war eine Rede vor der Vollversammlung der UNO (2001). Dort fasste er seine Intentionen wie folgt zusammen: „Kein Überleben unseres Globus in Frieden und Gerechtigkeit ohne ein neues Paradigma internationaler Beziehungen auf der Grundlage globaler ethischer Standards“. Seine zahlreichen, gewöhnlich sehr umfangreichen Bücher wurden nahezu samt und sonders Bestseller, übersetzt in die Kultursprachen sind viele. Die bei Herder erscheinenden „Sämtlichen Werke“ in 24 Bänden wurden vor kurzem fertiggestellt. Küng avancierte zum bekanntesten Theologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wie wertgeschätzt sein Denken war, zeigten ungezählte Ehrungen und Auszeichnungen von Institutionen aus allen Kontinenten. Das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland (2003) war ebenso darunter wie der „Wolfgang-Amadeus-Ehrenlehrstuhl“ der Europäischen Akademie Yuste in Spanien (2004).

Zu einer leidenschaftslosen kirchlichen Würdigung, gar einer Rehabilitation ist es zu seinen Lebzeiten nie gekommen. Als Ansatz dazu wertete er selber freundliche Briefe von Papst Franziskus. Es sollte eigentlich der Kirche eine Ehre sein, Küngs tatsächlichen Verdienste um sie unbefangen, wenn auch spät zu würdigen, konnte man in vielen Nachrufen lesen.

„Christ sein“

Der Titel eines der erfolgreichsten Werke Küngs, zuletzt 2016 in den „Sämtlichen Werken“ aufgelegt, ist das Programm seines Lebens. Er war kein einfacher Mann; mit ihm zu leben und zu arbeiten erwies sich gelegentlich als sehr schwierig. Man kann ihn als komplizierten Charakter bezeichnen, der entwaffnend freundlich, aber auch verletzend arrogant sein konnte. Aus Prinzipienfestigkeit wurde auch einmal Starrsinn. Mancherorts sah er Gessler-Hüte, wo keine da waren, ein naher Geistesverwandter Wilhelm Tells. Man muss das nicht verschweigen, gerade um seiner Gesamtpersönlichkeit willen, die Leidenschaftlichkeit im Positiven vor allem auszeichnete. Unter den vielen Stimmen, die sich anlässlich seines Todes äußerten, sind jene zahlreich, welche seine priesterliche Existenz, seine pastorale Bereitschaft zur Hilfe in allen menschlichen Nöten, seine Empathie rühmen. Küng ein echter Christ – das ist die nüchtern-einfache Kennzeichnung seiner Persönlichkeit. Er hat wohl nie einem nach dem Mund geredet, aber vielen aus der Seele gesprochen. Ihn zeichnet eine ungewöhnliche Liebe zu seiner Kirche aus. Er hat sie nie verlassen, obwohl das manchmal nahelag und ihm auch nahegelegt wurde. Er liebte auch den Papst dieser Kirche. Der innerste Grund dafür war seine tiefe Katholizität. Christus hatte die Welt erlöst; seine Kirche sollte diese Botschaft aller Welt vermitteln. Dazu musste sie aber selber zeit-, welt- und gottesoffen zugleich sein – katholisch im ursprünglichen Verständnis eben. In der Moderne drohte sie, fürchtete Küng, dieses Ziel zu verfehlen. Er setzte seine ganze Persönlichkeit ein, um den Kompass neu zu justieren.

Wenn es Prophetenschicksal ist, hellsichtig zu sein und als blind zu gelten, dann kann man das an seiner Biografie ablesen. Hans Küng hat sehr zeitig gesehen, auf welche Untiefen und Klippen die Kirche in der Nachkonzilszeit zugesteuert ist, weil sie die in den Dokumenten des Zweiten Vatikanums angelegte Ambiguität, die „beiden Ekklesiologien“ vornehmlich, die sie nebeneinander stehen lassen, nicht zugunsten des Aggiornamento aufgelöst und damit ihre eigene Gestalt vereindeutigt hat. Reformprozesse bahnen sich an, sind aber weit vom Ziel entfernt. Das Werk von Hans Küng ist mit seinem Tod noch nicht abgeschlossen. Seine Impulse sind nötiger denn je.

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