Die poetische Wirkungsgeschichte des Buches Kohelet ist noch ungeschrieben. In den vorliegenden theologisch-literarischen Kompendien zur Wirkungsgeschichte biblischer Stoffe, Motive, Figuren und Formen fehlten bislang sowohl das Buch als auch sein Protagonist.1 Das liegt zum Teil an einer Besonderheit seiner Rezeptionsgeschichte: Die Wirkspuren des Prediger-Buches sind oft eher zu ahnen als konkret nachzuweisen. Sie lassen sich eher in motivischen Andeutungen finden als in direkten thematischen Bezügen. Diese indirekte Prägekraft ließe sich wahrscheinlich als unterschwelliger Grundzug ganzer Epochen nachweisen, bliebe aber spekulativ, da sie nur selten direkt und nachweisbar an die Textoberfläche dringt. In diesem Beitrag sollen die exemplarisch aufgeführten Beobachtungen deshalb ausschließlich Belege von direkt erkennbarer, eindeutiger Rezeption verdeutlichen.
Tatsächlich: Keine der gängigen Studien zur Wirkungsgeschichte der Bibel würdigt Kohelet mit einem eigenen Stichwort oder gar einem Überblicksartikel.2 Sein Profil scheint ganz und gar in schwer fassbaren Motivströmen zu verschwimmen, im Konzept der Vanitas etwa, die „im europäischen Barock“ von „zentraler Bedeutung“3 war. Andere vom Buch Kohelet mitgeprägte Motive treten an dessen Seite: die aufklärerisch-skeptische Einsicht in die Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens; die Melancholia als Ergebung in die Schwermut; die Reflexion über den rechten Umgang mit der Zeit. Philosophen wie Michel de Montaigne (1533-1592) waren maßgeblich von Kohelets Weltsicht geprägt. Aufklärer wie Voltaire (1694-1778) haben das Buch in ihre Nationalsprachen übertragen.
Derartige Wirkspuren lassen sich auch in der Gegenwart nachzeichnen. Stellvertretend für andere spricht der Germanist Johannes Anderegg von einem grundlegenden „Einfluss Kohelets auf die neuere deutsche Literatur“4. Als unterschwellig-atmosphärischer Strömung wirkt das Buch vor allem in weite Teile der sprach- und erkenntnisskeptischen modernen Lyrik ein. Anhand von fünf Gedichten, in denen dieser Einfluss direkt deutlich wird,5 soll dieser Rezeptionsstrom im Folgenden exemplarisch konkretisiert werden.
„Aber die Liebe macht fromm“
Christine Busta
Im Werk der österreichischen Lyrikerin Christine Busta (1915-1987) finden sich zahllose Verweise auf biblische Motive und Themen aus beiden Testamenten. Der deutlichste, im Gedichttitel selbst direkt aufgenommene Hinweis auf das Koheletbuch, stammt aus ihrem frühen Gedichtband „Lampe und Delphin“6 aus dem Jahre 1955.
Über dem Buch des Predigers Salomo
Alles ist eitel. Aber noch ist das Licht
Ausgesetzt in unsres Vaters gestirntem Haus,
und eine Stimme singt in die Nacht hinaus:
„Fürchtet euch nicht!“
Alles ist eitel. Aber wir bleiben Kind.
Wenn auch die Mühlen schon leiser, die Schiffe langsamer gehn,
wir haben das Korn und die Ströme wachsen gesehn
unter dem Wind.
Alles ist eitel. Aber die Liebe macht fromm.
Flaum und Wolle, genug des Reichtums für Vogel und Schaf!
Arm und gut an den Hirtenfeuern wartet der Schlaf:
komm!
Die Überschrift des Gedichtes verrät seinen Grundzug: Es handelt sich hier um eine lyrische Meditation „über“ das Buch Kohelet. Der Grundthese des biblischen Buches wird dabei dreimal bestätigend zugestimmt: Ja, „alles ist eitel“ – wobei „eitel“ ja eine traditionelle Übersetzung von „Windhauch“ ist. Zwar beginnt jede der drei im umschließenden Reim verfassten Vierversstrophen mit der Wiederholung dieses biblischen Grundmotivs, tatsächlich wird es jedoch jeweils durch ein nachgeschobenes „Aber“ dreimal relativiert und umgedeutet.
In der ersten Strophe wird der Flüchtigkeit allen Seins das Vertrauen auf „das Licht“ – als der klassischen Sphäre göttlich bestimmter Hoffnung – entgegengesetzt: einerseits ganz konkret das Licht der Sterne, das von dem als „Vater“ bestimmten Schöpfer eingesetzt wurde; andererseits jedoch auf das über die Astralmetaphorik assoziativ verbundene Licht des weihnachtlich geborenen Messias in Anspielung auf die Engelsbotschaft an die zunächst erschrockenen Hirten aus Lk 2,10: „Fürchtet euch nicht!“
Die zweite Versgruppe nimmt noch einmal die Beziehung von Mensch und Gott im Bild von Vater und Kind auf. Diese Beziehung bleibt bestehen, durch alle Einsichten in die Eitelkeit des Daseins hindurch. Der „Wind“ – assoziativ verbunden mit der schöpferischen Wirkkraft des göttlichen Geistes – lässt immer noch Korn und Wasserströme wachsen, auch wenn in unserer Wahrnehmung Wachstum, Ernte und Gedeihen schon bessere Tage gesehen haben mögen. Wie auch in der Schlussstrophe übernimmt Christine Busta hier Bildmaterial aus dem meditierten biblischen Buch, um es für eigene Bildfügungen zu verwenden.
In der dritten Strophe wird nach „Licht“ und „Wind“ eine dritte Metapher als Gegenkraft gegen den Sog des Vanitas-Motivs aufgerufen, die Liebe. Unter Aufnahme der Anspielung auf die Hirten aus der ersten Strophe wird in knappen Strichen ein pastorales Idyll skizziert. So wie Vögel und Schafe in ihrer natürlichen Ausstattung genug zum (Über-)Leben haben, so bietet auch das Hirtenfeuer Wärme und Schutz, eben: zum Leben genug. In seinem Glanz erfolgt die der Einsicht auf die ‚Eitelkeit allen Strebens‘ abgetrotzte Aufforderung zur Gemeinschaft: „Komm!“
Durch die Verkürzung des jeweils letzten Verses erhalten die aufmunternden, gegenläufigen Bilder am Ende atmosphärisch die Überhand. Überhaupt werden Christine Bustas Reflexionen über das alttestamentliche Buch durch die Beimischungen von neutestamentlichen Motiven zu einer Art Antwort auf Kohelet. Es geht ihr weniger um eine motivgetreue Nachzeichnung dieses Buches, das im Neuen Testament auffälliger Weise nicht ein einziges Mal zitiert wird, als vielmehr um eine persönliche Auseinandersetzung. Für sie als praktizierende, wenn auch nie unkritische Christin scheint festzustehen: Gerade wenn man zu der Einsicht gelangt, dass im Kern alles eitel sei, kann man sich als gottgläubiger Mensch im Vertrauen auf Gottes Beistand – angedeutet in den Bildern von Stern, Licht und Wind – dem Leben und dem Anderen zuwenden.
In einem aphoristischen Gedicht aus dem Nachlass charakterisiert sich Christine Busta wie folgt:7
Ich bin eine durch
das Christentum
gebrochene Heidin.
Aber ich bin für diese
Brechung dankbar.
Das vorliegende Gedicht kann diese Selbstumschreibung verdeutlichen. Für die Dichterin wird die Botschaft des Predigers nicht zum Anlass für Resignation, sondern zur christlich gebrochenen Besinnung auf eine selbstgenügsame Lebensbetrachtung und damit zum Impuls für eine aktive, auf andere ausgerichtete Lebensgestaltung.
„Groß wird die Angst“
Heinz Piontek
Eine ganz andere Deutung begegnet uns in einem Kohelet-Gedicht von Heinz Piontek (1925-2003). Wie schon bei Busta, so finden sich auch in den Gedichten des Georg-Büchner-Preisträgers von 1976 immer wieder biblische Anspielungen. Vor allem der 1987 erschienene Band „Helldunkel“ ist unter dieser Perspektive interessant. Er enthält mehrere Gedichte, die als direkte lyrische Meditationen über biblische Figuren konzipiert sind.
Im Gegensatz zu Busta schlüpft Piontek hinein in die Binnenperspektive seiner Figuren. Vor allem der „Greis“, der am Ende des Buches Kohelet zu sprechen scheint, reizt Lyriker, die sich in ähnlicher Lage wähnen. Wie folgt dichtet Piontek:8
Der Prediger Salomo. Das 12. Kapitel
(Paraphrase)
Was wusst ich schon von all den bösen Tagen,
von all den Jahren, die man Alter nennt.
Nein, sie gefalln mir nicht, hör ich nun sagen –
obwohl und nach wie vor die Sonn brennt,
die Wolken weiß und klar am Himmel stehen,
und wie vorzeiten ziehn die Flüsse weit…
Doch find ich bärtige Müller müßig gehen,
und rotgesichtige Maurer plagt die Zeit.
So werden finster hinter Fenstern Mienen
Von Mann und Frau und ihre Stimme leis.
Sind die verhassten Kläger schon erschienen
Und gehn umher in Gassen auf Geheiß?
Groß wird die Angst. Und Türen dichtzuhalten,
was nützt es denn? Selbst Hohe scheun die Stadt.
Dauert noch Schönes? Heimlich in Gestalten
Von Vögeln, Mandelbäumen, Blatt um Blatt …?
Der Müllerin Gesang verliert sich heiser;
Ihr Wassereimer ist verbeult und schief.
Doch jemand wirft ins Feuer goldne Reiser.
Und der am Born Ermattete schläft tief.
Wie im ersten Text so scheint auch hier die Überschrift auf den Gesamtcharakter des Gedichtes hinzuweisen: Es handele sich, so lässt sich ja vermuten, um eine dichterische, in Vers, Reim und Rhythmus gebrachte Paraphrase des Schlusskapitels des biblischen Buches. Bei einem genauen Vergleich stellt sich jedoch heraus, dass es sich um weit mehr als nur um eine Paraphrase im eigentlichen Sinne handelt, die ja von eigenen Deutungen, Verfremdungen und Hinzufügungen abzusehen und sich auf eine sinngemäß treue Übertragung in eine andere Sprachebene zu beschränken hätte.
In dem schon für Bustas Gedicht zentral wichtigen zwölften Kapitel des Buches Kohelet wird der Leser als imaginärer junger Mann ermahnt, an die kommenden Tage des Alters zu denken, an die Tage von Krankheit und schließlich des eigenen Sterbens: „Freu dich, junger Mann in deiner Jugend“ (Koh 11,9). Bildreich wird die Umwelt geschildert, in der sich das individuelle Vergehen spiegelt: Sterne werden verlöschen, Wächter des Hauses zittern, starke Männer sich krümmen, Müllerinnen ihre Arbeit einstellen, sämtliche Geräusche verstummen, Klagende durch die Straßen ziehen. Dass sich in den genannten Beschreibungen – für damalige zeitgenössische Lesende erkennbare – allegorische Aussagen verbergen, die allesamt den Verfall des Körpers symbolisieren (Haus = Körper, starke Männer = Arme, Müllerinnen = Zähne, etc.), blieb für die literarische Rezeption unerheblich. Wichtig im biblischen Original: Der Vorausblick auf das Ende soll den jungen Mann dazu ermahnen, seine Jetztzeit zu nützen zur rechten Lebensgestaltung und zum Gedenken an den Schöpfer.
Piontek münzt diesen mahnenden Zukunftsblick zum wehmütigen Gegenwartsblick um: Jetzt ist der Gedichtsprecher bereits der alte Mann, dem all das widerfährt, was im biblischen Buch vor allem Vorausschau war. Aber als Beschreibung von real empfundener und erfahrener Gegenwart ändert sich nun der Grundton. Zwar spiegelt der Kosmos das eigene Vergehen gerade nicht: die Sonne brennt nach wie vor, die Flüsse ziehen vorüber wie immer – doch das Erleben des eigenen Zerfalls ist angesichts der Gleichgültigkeit der Schöpfung umso schlimmer. Nur die Menschen spüren ängstlich den sich ankündigenden Niedergang.
Bild um Bild ruft Piontek aus der biblischen Vorlage auf: arbeitslos gewordene Maurer und Müller; leiser werdende Stimmen; Klagende; die verstummende Sängerin mit ihrem ausgebeulten Wassereimer. Angesichts der gegenwärtigen Erfahrung des Altwerdens und der drohenden Gewissheit des baldigen Sterben-Müssens erscheint tatsächlich alles als Windhauch, obwohl dieses Grundmotiv auffälliger Weise direkt hier gar nicht benannt wird. Stattdessen noch einmal zaghaft die Rückfrage, ob denn nicht doch „Schönes“ überlebe? Durch seine starken Gegenbilder gegen „Vögel“, „Mandelbaum“ (direkt übernommen aus Koh 12,5) und „Blatt um Blatt“ scheint der Gedichtsprecher diese Frage eher zu verneinen. Allein die letzten zwei Zeilen – eingeleitet durch das einen Gegenzug andeutende „doch“ – öffnen noch einmal eine neue Perspektive. Am Ende des Gedichtes stehen die Bilder des goldenen Scheins eines wärmenden Feuers und eines ruhigen, gesättigten Schläfers an einem Brunnen.
In der Bildwelt (Sonne, Fluss, Müller, Vogel, Schlaf, Feuer) zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen den Gedichten Bustas und Pionteks. Umso auffälliger, dass der Grundton und damit die thematische Anbindung an das Kohelet-Buch grundverschieden ist: Aufforderung zu Lebenserkenntnis und hoffnungsfroher Lebensgestaltung dort, kaum durch Hoffnungsfunken überstrahlte Skepsis, Resignation und Lebensmüdigkeit hier. In diesen gegensätzlichen lyrischen Ausgestaltungen zeigt sich so idealtypisch die Spannweite der thematischen Ausdeutungsmöglichkeiten des biblischen Buches. Diese Weite zeigt sich erneut in dem dritten hier aufgerufenen Beispieltext.
„Wird sich zeigen, was Leben war“
Karl Krolow
Im Alterswerk von Karl Krolow (1915-1999) – wie Piontek Träger der wohl wichtigsten deutschen Literaturauszeichnung, dem Georg-Büchner-Preis (1956) – finden sich zahlreiche Texte, die im Hallraum von Kohelet verfasst zu sein scheinen. Am deutlichsten wird dies in dem Gedicht „Noch einmal“9 aus dem Band „Als es soweit war“ (1988):
Noch einmal
Ein trockner Wind geht, steigert die Geräusche.
Die morschen Türen drehen sich in den Angeln.
Ich möchte, dass ich mich noch einmal täusche.
So denke ich, es wird an nichts mir mangeln.
Ich täusch mich gern. Ich sehe, wie ein junger
zu einem alten Mann wird, unerfahren
noch immer, ahn den wahren Liebeshunger
der Welt, der sich nicht ändert mit den Jahren.
Ich hör den Wind als Sturm. Es trifft ein kalter
Atem nun meinen Nacken. – Wird sich zeigen,
was Leben war und wie es war im Alter
und wie man sich verhielt zu Scham und Schweigen?
In diesem Kreuzreimgedicht finden sich zunächst erstaunliche Parallelen zum Text von Piontek, obwohl es sehr viel freier mit den Motiven des biblischen Buches umgeht als jene Paraphrase. Erneut spricht ein alter Mann über seine Erfahrungen mit dem Altwerden, erneut herrscht dabei die Perspektive des Rückblicks vor. Wind, Tür, Geräusche, der Verweis auf das Alter sind beide Gedichte verbindende Elemente. Auch Krolow entwirft ein nüchtern-skeptisches Bild des Altwerdens. Die Adjektive „trocken“, „morsch“, „kalt“ beschreiben diesen Prozess als Zerfall.
Doch anders als bei Piontek setzt der Sprecher hier andere Schwerpunkte. Zunächst verweist er gegen die sehr wohl erkannten Einsichten in die Wirkmacht des Windhauchs auf die List und Lust am „Täuschen“. Gegen die mögliche skeptisch-resignative Melancholie dieser Erkenntnis hilft nur das Sich-Selbst-Täuschen. Ja, der Gedichtsprecher täuscht sich gern, ist also darin geübt. Und in diesem Sich-Täuschen „wird an nichts mir mangeln“, wohl im gewundenen Duktus eine Anspielung auf Psalm 23,1.
Die Welt bleibt gleich in ihrem „Liebeshunger“, das erkennt er nun, so die Aussage der zweiten Versgruppe. Daran ändert auch die allmähliche Verwandlung des jungen in den alten Mann nichts, der doch immer gleich unerfahren bleibt. Hat auch er Teil an diesem unersättlichen, von Erfahrung nicht zu stillenden „Liebeshunger“?
Die Schlussstrophe verändert noch einmal den Ton und die Aussage. Aus dem trockenen Wind wird ein „kalter Atem“, der ihn vorantreibt. Wohin? Zwei Fragen beschließen das Gedicht. Die erste betrifft die Erkenntnis: Wird am Ende eine Erkenntnis darüber bleiben, was das Leben auszeichnet, gerade im Alter? Und wird es eine richtende Einsicht geben im Blick darauf, wie er sich „Scham und Schweigen“ gegenüber verhielt – einerseits eine allgemeine Rückfrage nach dem, was von Schuld und Versagen bleibt; andererseits im Lebens- und Zeitkontext Krolows sicherlich im Speziellen die Frage nach dem Verhalten in der Zeit der Nazidiktatur. Anders als bei den beiden ersten Gedichten handelt es sich so bei diesem Text nicht um eine direkte Meditation über das Buch Kohelet, sondern um eine lyrische Selbstbesinnung, in die zentrale Motive und Stimmungen des biblischen Buches einfließen.
„Gebenedeit sei die Nichtigkeit“
Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger (*1929) schließlich reduziert in seinem assoziativen – hier unter Auslassung zweier Versgruppen, in denen weitere Beispiele aufgeführt werden, abgedruckten – Gedankengedicht „Salomonisch“10 den biblischen Bezug auf bloße Anspielungen.
Salomonisch
Psyche, Ego, Identität –
ziemlich fremde Wörter.
Je mehr du herumbohrst
in diesem Sumpf,
desto sinnloser.
Wie schon gesagt,
Prediger 1,2,
alles ganz eitel.
[…]
Vorbeihuschendes,
Turbulenz in der Kaffeetasse.
Auflösungsvermögen
unerhört, Farbscan,
Zoom, Zeitraffer –
einmalig das Ganze,
wie zum erstenmal
und alsbald erloschen.
Gebenedeit
sei die Nichtigkeit.
Was ist das, das Leben? Meditativ werden Elemente aufgezählt, Teile des Alltags, „alles ganz eitel“. Gerade so aber kann man das Leben feiern: „Gebenedeit / sei die Nichtigkeit“. Enzensberger zitiert hier einen Motivstrom, der sich von Anfang an durch sein Werk zieht. „Die Schöpfung nimmt nicht mehr / von uns Notiz“11, heißt es resignierend in dem schon 1960 veröffentlichten Gedicht „Ich, der Präsident und die Biber“. Für Enzensberger blieben schon damals nur „Oden an Niemand“, in welcher die religiösen Sprachformen zwar durchaus noch beerbt und weitergeführt werden, gerichtet jedoch eben an „Niemand“.
Ein letztes Mal wird zwar ein Schöpfungslob angestimmt, doch es trägt den ironischen Titel „Ehre sei der Sellerie“: „Gepriesen sei die friedliche Milch, / Ruhm dem Uhu, er weiß wie er heißt / und fürchtet sich nicht“12. Und wer oder was ist zu loben? „ich lobe den Himmel“13, „der am Himmel ist und sonst nichts, / den ich betrachte / der mich nicht betrachtet“14.
Ein 1995 veröffentlichtes poetisches „Dankgebet“ zieht den damit geknüpften Assoziationsfaden weiter aus. Es trägt den Titel „Empfänger unbekannt“15. Gerichtet an „niemand“? In „Salomonisch“ findet dieser Grundgedanke seine Fortführung als tatsächlich von Kohelet inspirierte Meditation über Windhauch. Auch der im Gedichttitel mit seinem legendarischen Verfasser verbundene biblische Prediger lobt das „Eitle“, weiß um die Unfassbarkeit des Windhauchs und schätzt doch gerade von dieser Einsicht aus das, was Leben auszeichnet.
Enzensbergers Werk zeichnet sich allgemein durch eine „Vollkommenheit des Geringfügigen“16 aus, erkennt Ulrike Irrgang in einer neuen Untersuchung zu seinem Werk. Gerade wenn man im Gefolge Kohelets der Nichtigkeit und Vergeblichkeit ins Auge blickt, könne man das Leben mit einer neuen Gelassenheit wahrnehmen und gestalten, so der Dichter vor allem in den Texten seines Spätwerks. Darin jedoch zeige sich – gut „salomonisch“ – der „Ausdruck echter Weisheit“17.
„Er wurde zum Hofnarren“
Elazar Benyoëtz
Das Buch Kohelet wurde im Christentum – wegen seiner oftmals quer zu den Grundzügen der biblischen Theologie verbalisierten Aussagen – marginalisiert. Dasselbe Schicksal widerfuhr ihm jedoch auch im Judentum. Auch dort haben eher poetisch-religiöse Randfiguren – wie Albert Ehrenstein, Uriel Birnbaum oder Matthias Hermann18 – das Erbe Kohelets weitergeschrieben.
Im Werk des 1937 in Wien geborenen, seit 1939 in Jerusalem lebenden Elazar Benyoëtz wird Kohelet zu einer zentralen Bezugsgestalt. Er fühle sich „nachhaltig angesprochen von der biblischen Figur des Kohelet“19, gibt der Autor an. Benyoëtz gilt als sprachmächtiger Erneuerer der Tradition des Aphorismus. Seine stets auf Deutsch publizierten Bücher wurden mehrfach preisgekrönt. Der Band „Finden macht das Suchen leichter“ (2004) verbindet die Form des Aphorismus mit lyrischem Ausdruck. Zahlreich sind die Zitate, Verweise, Anspielungen auf das Buch Kohelet, so dass der gesamte Band als kreativer Beitrag zur Bibelrezeption angesehen werden kann. Blicken wir als Illustration auf einen von zahlreichen möglichen Beispieltexten20, dessen drucktechnisch zentrierte Setzung sich so im Original findet.
Die Propheten
haben Gott verstanden.
Der Prediger
wollte nichts verstanden haben.
Er wurde
zum Hofnarren
des Herrn erklärt.
Das war seine Rettung,
so kam er in die Bibel
und auf uns –
Er,
der schier erste,
der versucht hat,
einen Denkhorizont zu schaffen,
ohne
Glaube, Liebe, Hoffnung
Benyoëtz profiliert den Prediger Kohelet als Gegenfigur, als Außenseiter der Bibel. Überhaupt: „Kohelet, das ist die Geburt des ‚Ich‘ in der Literatur“, erklärt Benyoëtz an anderer Stelle, gerade durch „die Gebrochenheit seiner so eindringlichen Stimme“21. Wo andere – in dem abgedruckten Text repräsentiert durch die Propheten – „Gott verstanden“ haben, war sein Programm gerade das Nicht-Verstehen. Wo weitere – repräsentiert durch die paulinisch geprägte Trias „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (1 Kor 13,13) – ein theologisches Programm entfaltet haben, versuchte er einen eigenen „Denkhorizont“ im Verzicht auf derartige Strukturen zu entwerfen.
Kohelet – ein „Wegweiser ohne Ausweg“22 – wird in einem anderen Text zum Mahner des Gebotes „Du sollst dir kein Bild / und nichts vormachen“23. Wie aber erklärt sich dann überhaupt sein Überleben, der rätselhafte Sprung in den biblischen Kanon, der ja im Grundzug theologisch so ganz anders bestimmt ist? Benyoëtz bietet augenzwinkernd eine Erklärung an, in der Kohelet zum „Hofnarr“ wird. Im Kostüm des Narren, der in abstrusem Humor als einziger die Wahrheit sagen und allen den Spiegel der Wahrheit vorhalten darf, habe Kohelet überlebt. Als Verkleidung der Wahrheit finde die närrische Häresie ihren Weg in die Orthodoxie.
Spuren Kohelets
„wehwind / woher / windweh / wohin / weiß gott“24, dichtet Andreas Knapp (*1958) Kohelets Nichtigkeitsklagen in unsere Zeit weiter. Tatsächlich: Die Rezeption und die kreative Weiterschreibung von weisheitlich-philosophisch geprägter Literatur wie dem Buch Kohelet funktioniert anders als die von erzählenden biblischen Büchern. Fasziniert von der „erkenntnistheoretischen Skepsis des Buches Kohelet“25 schreiben Schriftstellerinnen und Schriftsteller hier eher einzelne Motive, Gedanken oder Chiffren fort, als dass sie einen Stoff aufgreifen und aktualisieren.
Wie stark untergründige Prägungen auf spätere Epochen und Ausgestaltungen einwirken, darüber kann dabei nur spekuliert werden. Mag sein, dass Kohelet eine Tiefenwirkung auf große Teile der westlichen Literatur ausgeübt hat. Der konkrete Nachweis fällt bei rein motivlichen Ähnlichkeiten schwer. Fest steht, dass das „Bildvokabular, das im Buch Kohelet grundgelegt ist“26, vielfach produktiv aufgegriffen wurde und wird: das Motiv der Vanitas, die Windmetaphorik sowie die Rede von der Eitelkeit alles menschlichen Strebens.
Die österreichische Erzählerin Inge Merkel (1922-2006) legte 2001 einen bemerkenswerten, alttestamentlich motivierten Roman über die Begegnung von Salomo mit der Königin von Saba vor. Zum Abschied habe er ihr das – so will es ja die Tradition – von ihm verfasste Buch Kohelet geschenkt. Wieder zurückgekehrt in ihre alte Welt, kommentiert die weise Königin dessen Werk: „Es ist der alte Dreh unser aller, die imstande und willens sind, uns mit kleinen Tricks aus dem Jammer zu winden. Mach die Last noch um ein bißchen schwerer, als sie ist, dann sinkt das Elend bis zum Grund, und von unten erfährt es einen Anstoß, daß es wieder höher steigt und leichter wird“27. Ist das die einzige Lesart des biblischen Buches?
Die aufgeführten Beispiele haben eindrücklich gezeigt, dass Autorinnen und Autoren unserer Zeit Kohelet ganz unterschiedlich deuten und dabei immer wieder direkte Textbezüge zum biblischen Buch explizit markieren. Sie stellen sich in seine Tradition und deuten von ihm aus ihre eigene Zeit, vor allem: ihre eigene Sicht auf das Leben. Kohelet kann zu einer biografischen Identifikationsgestalt werden, oft aber auch zur Figur der Absetzung: Mit ihm kann man Lebensverdruss und -müdigkeit benennen (Piontek), aber auch einen unzerstörbaren Leichtmut gerade im Wissen um die Vergänglichkeit (Enzensberger). Mit ihm kann man bei aller Einsicht in die Vergeblichkeit unseres Daseins die Hinwendung zum Nächsten begründen (Busta), aber auch das eigene Leben im Spiegel von Schuld und Scham reflektieren (Krolow) oder das Überleben des weisen Narren feiern (Benyoëtz). Alles „Windhauch“? Die Motivspuren Kohelets wehen weiter.