Es gibt Texte, die ein Sinnpotenzial in sich tragen, das den Zeitgenossen verschlossen bleibt und erst Jahrhunderte später freigelegt wird. In der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts vor Christus ist ein solcher Text in Athen geschrieben worden, der lange dunkel schien und kaum beachtet wurde, dann aber frühchristliche Theologen elektrisiert hat, weil sie hier einen geradezu prophetischen Verweis auf das Leiden und Sterben Jesu Christi ausgesprochen fanden. Der Text, für den heutige Gottesgelehrte kaum mehr eine Antenne zu haben scheinen, findet sich in Platons Politeia.
Er inszeniert ein Streitgespräch zwischen Glaukon und Sokrates über den Gerechten als den wahren Menschen. Die Gerechtigkeit ist für Platon nicht nur eine moralische, sondern vor allem auch eine metaphysische Größe, die dem Reich der Ideen entstammt. Der Mensch erreicht seine wahre Bestimmung dann, wenn er sich nicht von seinen Leidenschaften und Interessen, sondern von den Ideen des Wahren, Guten und Gerechten bestimmen lässt. Er ist nicht selbst das Maß aller Dinge, wie Protagoras in seinem Homo-Mensura-Satz nahelegt. Nein, es gibt etwas, das über den Menschen hinausreicht – und in dem Maße der Mensch sich von den vordergründigen Dingen der Welt abwendet und sich der Idee der Gerechtigkeit zuwendet, verwirklicht er seine Bestimmung und wird zu einem lebendigen Abbild des ewigen Urbilds. In der Politeia werden diese Fragen zwischen Sokrates und Glaukon erörtert. Glaukon meint, dass der Mensch mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit nur so tut, als ob er gerecht wäre. Er will gerecht scheinen, ohne es wirklich zu sein. Würde man den Menschen lassen, wie er will, würde er ungerecht und rücksichtslos handeln, um seine Interessen durchzusetzen und seinen Einfluss zu vergrößern. Das Prinzip der Gerechtigkeit sei nur eingeführt worden, um den menschlichen Geltungsdrang einzuschränken und das Zusammenleben zwischen den Menschen zu befrieden. Um diese These zu verdeutlichen, macht Glaukon ein Gedankenexperiment und fragt, wie es dem vollkommen Ungerechten und dem vollkommen Gerechten in der Welt, wie wir sie kennen, wohl ergehen würde – und er kommt zu dem Ergebnis, dass der geschickte Simulant, der in der Öffentlichkeit nur so tut, als ob er gerecht sei, in Wahrheit aber Unrecht tut, deutlich besser dastehe als der Tugendhafte, der wirklich gut und gerecht sein will. Daher ist für Glaukon ein ungerechtes Leben unter der Maske der Gerechtigkeit Schein letztlich empfehlenswerter als ein gerechtes Sein. Gerade durch sein tugendhaftes Verhalten lege der vollkommene Gerechte die Maskenhaftigkeit der anderen offen – und ziehe so die üble Nachrede, ja den kollektiven Unmut der anderen auf sich. Der wahrhaft Gerechte als Spiegel der allgemeinen Verlogenheit – er wird zum Opfer des Unrechts! Am Ende wird man ihn „schlagen und foltern und einkerkern; man wird ihm die Augen ausbrennen und ihn nach all diesen Misshandlungen zuletzt ans Kreuz schlagen“1.
Im Alten Testament wird ein vergleichbares Szenario geschildert. Im Buch der Weisheit, das Salomo zugeschrieben wird, dessen Verfasser aber dem Milieu des hellenistischen Judentums entstammt, geht es in den ersten Kapiteln um das Los der Gerechten und der Frevler. „Liebt Gerechtigkeit“, lauten die Eingangsworte des liber sapientiae, das einen rechtschaffenen Lebensstil anpreist. Der Weg derer, die Gott suchen und Sünden meiden, führt ins Leben, das Sinnen und Trachten der Frevler hingegen bringt Tod und Verderben. Sie wollen den Genuss steigern und in Luxus schwelgen, daher versuchen sie sich materielle Vorteile zu verschaffen auf Kosten der Armen, Witwen und Alten. „Unsere Stärke soll bestimmen, was Gerechtigkeit ist“, lautet die zynische Devise (Weish 2,11). Sehr genau wird beschrieben, wie bei den Frevlern der Unmut gegen den Gerechten aufkeimt, dessen toratreuer Lebensstil ihnen einen Spiegel vorhält, den sie nur schwer ertragen können: „Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg. Er wirft uns Vergehen gegen das Gesetz vor und beschuldigt uns des Verrats an unserer Erziehung […]. Er ist unserer Gesinnung ein lebendiger Vorwurf, schon sein Anblick ist uns lästig. […] Roh und grausam wollen wir mit ihm verfahren. Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen; er behauptet ja, es werde ihm Hilfe zuteil“ (Weish 2,12-13.19).2 Das Buch der Weisheit, das in griechischer Sprache verfasst ist und eine Brücke zwischen antiker Philosophie und Bibel schlägt, kündigt dem Gerechten einen ehrlosen Tod an, ohne das Motiv des stellvertretenden Leidens einzuspielen (vgl. Jes 53,4.12) oder, wie Platons Politeia, konkret von einer Kreuzigung zu sprechen. Die Athener Fremdprophetie scheint demnach das Leidensgeschick Jesu präziser vorauszubezeichnen als die Bibel.
Die Passion des Gerechten
„Höchstmerkwürdig ist diese Stelle!!! – und ebenso bedeutsam ist es, dass unsere Philosophen so still dabei vorüberschleichen“3, schreibt schon 1811 mit einiger Emphase Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), der der Stelle einen erbaulichen Kommentar gewidmet hat. Dort, wo die griechische Philosophie zum höchsten Begriff des Menschen vordringt, blitzt das Bild des Gekreuzigten auf, von dem der Hauptmann im Lukas-Evangelium bekennt: „Das war wirklich ein gerechter Mensch“ (Lk 23,47). Ja, die Passion des Gerechten wird in der Politeia in einer bemerkenswerten Sequenz von Marterpraktiken vorgestellt, die von der Geißelung und Folterung über die Fesselung und Blendung bis hin zur Kreuzigung reicht. Nun könnte man meinen, dass Platon hier das Geschick seines Lehrers Sokrates im Auge hat, der die Suche nach der Idee des Wahren, Guten und Gerechten in den Mittelpunkt seines Fragens gerückt hat. Bekanntlich hat er die Leute auf der Agora in Athen in Gespräche verwickelt, um sie der Oberflächlichkeit ihrer Denkweisen zu überführen. Politiker, Redner, Dichter und Handwerker hat er auf ihre Weisheit geprüft, um in bohrenden Dialogen festzustellen, dass sie sich nur einbilden, weise zu sein. Gerade durch die Aufdeckung der Kluft zwischen Sein und Schein hat sich Sokrates bei vielen seiner Mitbürger verhasst gemacht – und er hat diesen Mechanismus selbst durchschaut.4 An der Idee der Gerechtigkeit aber hat er auch dann kompromisslos festgehalten, als ihm 399 v. Chr. in Athen der öffentliche Prozess gemacht wurde. Wegen Gotteslästerung – asebeia – und Verführung der Jugend wurde er angeklagt und auf das Votum der Mehrheit der Geschworenen hin vom Gericht zum Tod verurteilt – allerdings nicht zum Tod am Kreuz, der Sklaven vorbehalten war, sondern zum Tod durch den Schierlingsbecher, der seinem Status als freiem Bürger der griechischen Polis entsprach.
Die Diskrepanz ist auffällig: Wenn Sokrates als Prototyp des leidenden und sterbenden Gerechten gilt, warum prognostiziert Platon dem vollkommenen Gerechten dann dennoch den Tod am Kreuz? Die Kreuzigung war in der athenischen Rechtspraxis Sklaven und Schwerverbrechern vorbehalten. Wegen der öffentlichen Zurschaustellung des Leidens, aber auch wegen der langsamen, qualvollen Marter galt diese Form der Hinrichtung als besonders entehrend und schlimm. Um die Stelle in der Politeia zu erklären, hat der Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz (1907-1978) vermutet, dass Platon hier eine mündliche Selbstdeutung des Sokrates eingeflochten habe. Dieser habe seinen Schülern in Gesprächen vor seinem Tod zu verstehen gegeben, dass er mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Sokrates wusste, dass er bereits in der Komödie Die Wolken durch Aristophanes zum öffentlichen Gespött geworden war.5 Er wusste, dass darüber hinaus Anklagen gegen ihn lanciert wurden, er habe die Gesetze der Polis übertreten und neue Götter eingeführt. Er ahnte, dass sein wachsender Konflikt mit den Mitbürgern für ihn zu einem gewaltsamen Tod führen könne, so zumindest ist es in der Apologie bezeugt. Nicht ausgeschlossen, dass er seinen Schülern im Sinne einer Leidensweissagung andeutete, „dass er für sich eine Hinrichtung auf tumultuarischem Wege erwartete, die mit der schimpflichen Form der Tötung, mit dem Sklaventod am Kreuz enden würde.“6
Wir wissen, dass es anders gekommen ist. Der im Alter schon vorgerückte Athener Philosoph – nach Platons Apologie war er zum Zeitpunkt der Verurteilung siebzig Jahre alt – ist nicht gegeißelt und verhöhnt, geblendet und gekreuzigt worden. Als freier Bürger der Stadt hat er den Schierlingsbecher trinken müssen. Das hat er gesammelt, gefasst und im Kreis seiner Schüler und Freunde getan, obwohl er aus dem Gefängnis hätte fliehen und ins Exil gehen können. Der Schmerz und die Qual, der agonale Schrei sind ihm erspart geblieben. Der Tod des Sokrates und der Tod des Gekreuzigten könnten unterschiedlicher kaum sein. Der heiteren Gelassenheit des griechischen Philosophen, der den Tod in Freiheit annimmt und so über ihn triumphiert, kontrastiert der abgründige Verlassenheitsschrei Jesu, der am Ende einer Reihe von grausamen Qualen steht.7 Das hat auch Auswirkungen auf die Rezeption: Der sterbende Sokrates wird nach Nietzsche „das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend“8, die Betrachtung des Gekreuzigten hingegen setzt eine Nachfolge-Mystik der Compassion, eine gesteigerte Sensibilität für die Schwachen und Marginalisierten frei. Kaum zufällig wird den Frauen beim Tod des Sokrates und bei der Passion Jesu eine ganz unterschiedliche Rolle beigemessen. Sokrates schickt sie weg, damit sie durch ihr Weinen nicht „einen falschen Ton hineinbringen“ (Phaidon 117d). Die Sprache der Tränen, Ausdruck der Trauer und Ohnmacht, stört die Überlegenheit des Philosophen, der die Kunst des Sterbens im geschützten Kreis seiner Schüler souverän bis ans Ende führt.9 Anders in den Passionserzählungen der Evangelien. Hier kommt es nicht zu einer Exklusion der Affekte, vielmehr wird die Compassion der Frauen ausdrücklich hervorgehoben. Ihr „Klagen und Weinen“ (Lk 23,27-28) in der Öffentlichkeit, ihr sichtbares Ausharren in der Nähe des Kreuzes (Mt 27,55-56) steht in auffälligem Kontrast zur feigen Flucht der Jünger (Mt 26,56) und zur dreimaligen Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69-75), der dann freilich aus Reue ebenfalls bittere Tränen vergießt.
Auch wenn das Ereignis von Golgatha sich tief in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegraben hat, darf doch nicht vergessen werden, dass es keineswegs von vornherein ausgemacht war, dass Jesus den Tod am Kreuz würde sterben müssen. In den Evangelien ist davon die Rede, dass er seinen bevorstehenden Tod wiederholt angesprochen, aber nie direkt eine Hinrichtung am Kreuz prognostiziert hat. Die Leidensankündigungen kommen ohne präzise Angabe der Hinrichtungsart aus (vgl. Mk 8,31; 9,31; 10,33f). Möglich ist, dass Jesus sein Geschick auf der Linie des Propheten Sacharja gedeutet hat: „Ihr alle werdet in dieser Nacht an mir Anstoß nehmen und zu Fall kommen; denn in der Schrift steht: ‚Ich werde den Hirten erschlagen, dann werden sich die Schafe der Herde zerstreuen.‘“ (Mt 26,31 mit Verweis auf Sach 13,7; vgl. Mk 14,27; Joh 16,32). Rudolf Otto (1869-1937) hat demgegenüber die Vermutung geäußert, dass Jesus wohl am ehesten mit einer Steinigung in Jerusalem gerechnet habe (vgl. Mt 23,35; Lk 13,33). Die Strafe der Steinigung war nach der Tora nicht nur bei Sexualdelikten (vgl. Dtn 22,21.24), sondern auch bei Gotteslästerung vorgesehen (vgl. Lev 24,14). Nach Otto ist nun der Gestus des Brotbrechens beim letzten Abendmahl ein vorausdeutendes Indiz für die Steinigung. Jesus nahm Brot, brach es und sprach: „Dies ist mein Leib für euch.“ Diese Selbstidentifikation mit dem gebrochenen Brot könne als zeichenhafte Antizipation der Steinigung gedeutet werden.10 Ottos Lesart ist allerdings keineswegs zwingend. Denn zum einen ist in den Passionsberichten von Steinigung nirgends ausdrücklich die Rede. Zum anderen ist die entscheidende Stelle für die Kreuzigung wohl doch Dtn 21,22-23: „Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben; denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter.“ Diese Stelle wird Mt 27,57 f.; Joh 19,31 und vor allem Gal 3,13 zur Deutung herangezogen. Der am Pfahl Gehenkte steht dem Gekreuzigten näher als ein Gesteinigter.
Auch wenn die Leidensweissagungen Jesu eine Leerstelle aufweisen und die konkrete Hinrichtungsart aussparen, so ist doch unzweifelhaft, dass Jesus von Pontius Pilatus, dem römischen Statthalter, rechtskräftig zum Tod verurteilt wurde und römische Soldaten die Exekution der Strafe vorgenommen haben. Wie aber kommt Pilatus dazu, Jesus zu kreuzigen, zumal das römische Strafrecht eine ganze Reihe anderer Hinrichtungsarten vorsieht? Im Normalfall wurden in der republikanischen Zeit Todeskandidaten erhängt oder enthauptet, aber auch Geißelung, Erwürgung oder Verbrennung waren möglich. Die Strafe der Kreuzigung war Sklaven oder Nichtrömern vorbehalten. Cicero nennt sie „die grausamste und scheußlichste Strafe“11 und lehnt sie für römische Bürger entschieden ab. Pilatus, der Jesus als antirömischen Rebell verurteilte, der das crimen laesae majestatis beging, hätte also eine ganze Palette an Alternativen gehabt, Jesus hinzurichten. Warum wählte er die Kreuzigung?
Die Evangelien berichten, die Juden selbst hätten als Strafe für ihren Volksgenossen diese schändlichste Form der Hinrichtung gefordert: „Kreuzige ihn!“ (Mt 27,22f; Mk 15,13f; Lk 23,21.23). In der Tat wurden Freiheitskämpfer und Zeloten, die das Joch des Imperium Romanum durch das Anzetteln von Aufständen abschütteln wollten, häufig mit der mors turpissima, dem Sklaventod am Kreuz, bestraft. Aus Gründen der Abschreckung sind unter römischen Prokuratoren tausende Rebellen gekreuzigt worden, so dass Peter Sloterdijk zu Recht von „Alleen des Schreckens“12 gesprochen hat. Die Kreuzigung als Form der Massenhinrichtung – eine Multiplikation von Golgatha! Kein Wunder, dass weder Flavius Josephus noch Tacitus das Kreuz auf dem Kalvarienberg in Jerusalem erwähnen. Für die Annalen der Weltgeschichte ist es zunächst eine nicht weiter erwähnenswerte Episode.
Der Tod des Sokrates
Auch wenn ein philologischer Vergleich zeigt, dass bei Plato und im Neuen Testament unterschiedliche Verben für „kreuzigen“ verwendet werden,13 so haben doch schon Theologen der frühen Kirche in dieser Aussage des Athener Philosophen einen vorweggenommenen Kommentar zum Kreuzesgeschehen gesehen. In den Märtyrer-Akten wird davon berichtet, wie dem gelehrten Christ Apollonius der Prozess gemacht wird, weil er sich weigert, den Forderungen des römischen Staatskultes nachzukommen. Obwohl sich unter Kaiser Commodus (161-192) eine mildere Haltung gegenüber den Christen durchsetzt, wird Apollonius vom römischen Präfekten Perennius vor Gericht aufgefordert, seinen Sinn zu ändern und bei der Glücksgöttin des Kaisers zu schwören. Beides verweigert Apollonius und beruft sich dafür auf das Leitbild der Gerechtigkeit: „Wer von gerechten, guten und bewundernswerten Geboten Gottes seinen Sinn abwendet, der ist gesetzlos, sündhaft und in Wahrheit gottlos; wer aber von jeder Ungerechtigkeit, Gesetzlosigkeit, Götzendienerei und von bösen Gedanken sich abwendet, die Herrschaft der Sünden flieht und nicht mehr zu ihnen zurückkehrt, ein solcher ist gerecht.“14 Nach drei Tagen Bedenkzeit wird er nochmals aufgefordert, den Göttern sowie dem Standbild des Kaisers zu opfern, doch Apollonius bleibt bei seiner Ablehnung, er könne von Menschhand gemachte Götzenbilder nicht anbeten, das wäre Abfall vom einen wahren Gott. In seiner Rechtfertigungsrede ruft er Lehre und Wirken Jesu in Erinnerung und sagt, dass die Gerechten den Ungerechten verhasst seien. Er zitiert aus dem Propheten Jesaja: „Wir wollen den Gerechten fesseln, denn er ist uns lästig“ (Jes 3,10LXX). Um das Geschick des leidenden Gerechten auch durch einen Topos aus der griechischen Kultur zu unterstreichen, führt Apollonius die Stelle aus Platons Politeia an. Ausdrücklich werden der Tod des Sokrates und die Passion Jesu als leuchtende Beispiele für das Leiden des Gerechten parallelisiert: „Wie die athenischen Ankläger gegen Sokrates ein ungerechtes Urteil abgaben, nachdem sie auch das Volk gegen ihn aufgebracht hatten, so haben auch über unseren Lehrer und Erlöser einige von den Verruchten ihr Urteil abgegeben, nachdem sie ihn gefesselt hatten“15. Gebildeten Christen, die in der hellenistischen Kultur aufgewachsen waren, drängte sich der Asebie-Prozess gegen Sokrates als Deutungsfolie für ihr eigenes Geschick ebenso auf wie die Passion Christi. Dass der Verweis des Apollonius auf die Platon-Stelle singulär sei, hat kein Geringerer als Adolf von Harnack herausgestellt: „Es ist mir nicht bekannt, dass diese Stelle sonst in der älteren christlichen Litteratur citirt [sic] worden ist.“16
Aber wenig später verweist auch der gelehrte Clemens von Alexandrien, der die Christenverfolgung unter Kaiser Septimius Severus (193-211) miterlebt hat und nur durch Flucht dem Märtyrer-Schicksal entgehen konnte, auf die Stelle bei Platon. Einmal unterstreicht er in seinen um 210 veröffentlichten „Teppichen“ – Stromateis –, dass der unschuldig leidende Gerechte ein Vorausbild Christi, des Gekreuzigten, sei. Dort heißt es: „Und ist es ferner nicht dem Schriftwort: ‚Laßt uns den Gerechten beseitigen, denn er ist uns lästig‘ (Weish 2,12) ähnlich, wenn Platon beinahe mit einer Weissagung auf den Heilsplan des Erlösers im zweiten Buch des Staates so spricht: ‚Wenn der Gerechte sich so verhält, wird er gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt, an beiden Augen geblendet und schließlich nach allen Martern noch ans Kreuz geschlagen werden?‘“17 Für den Alexandriner, der in Platon einen Christen avant la lettre sah, ist klar, dass es nicht nur bei den Propheten Israels, sondern auch bei den Philosophen Griechenlands Weissagungen gibt, die das Kommen Christi ankündigen. Ein andermal bezieht er das Wort Platons direkt auf die Situation der verfolgten Christen im Imperium Romanum und kombiniert es mit einer Stelle des Apostels Paulus: „Ich glaube nämlich, Gott hat uns Apostel an den letzten Platz gestellt, wie Todgeweihte; denn wir sind zum Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen. Wir stehen als Toren da um Christi willen […] wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden geschmäht und reden gut zu. Wir sind sozusagen der Unrat der Welt geworden, der Abschaum von allen bis heute“ (1 Kor 4,9-13). Vom leidenden Gerechten bei Platon wird über Christus und die Apostel so ein eindrücklicher Bogen hin zum Martyrium gespannt, das als Ernstfall der Kreuzesnachfolge verstanden wird.18
Die frühen Christen waren fasziniert, dass dort, wo die griechische Philosophie zum höchsten Begriff des Menschen vordringt, das Zeichen des Kreuzes aufscheint. Sie haben in der Politeia-Stelle ganz selbstverständlich eine Vorwegnahme des Evangeliums gesehen.
Heute mag eine solche Lesart kühn erscheinen und als Akt christlicher Vereinnahmung antiker Philosophie abgelehnt werden. Schon Platons Rede vom gekreuzigten Gerechten zeigt freilich die Anstößigkeit des Kreuzes: zum einen als Mahnung, dass unbestechliche Zeugen der Wahrheit oft mundtot gemacht werden; zum anderen als Spiegel, der kollektive Verblendung aufdeckt, Lüge überführt und Unrecht beim Namen nennt. Eine christliche Deutung kann daran anschließen, sie sieht im Kreuz aber zugleich das Zeichen des Heils und der Versöhnung. Jesus schreit auf Golgatha nicht nach Rache für das Unrecht, das er erleiden muss, er bittet sterbend für seine Peiniger um Vergebung (vgl. Lk 23,34). Gerade so löst er ein, was er gepredigt hat: Gewaltverzicht und Feindesliebe.