Rezensionen: Wissenschaft & Bildung

Thielscher, Christian: Wirtschaftswissenschaften verstehen. Eine Einführung in ökonomisches Denken. Wiesbaden: Springer 2020. 209 S. Kt. 29,99.

Manchmal helfen Informationen über den Autor, um den Wert eines Buchs zu erkennen. Christian Thielscher war Berater bei McKinsey und erfolgreicher Unternehmer. Er arbeitete in Praxen, Krankenhäusern, Krankenkassen und im Beschaffungswesen. Er ist Augenarzt, Diplom-Volkswirt und Diplom-Kaufmann. Lehrt jemand mit diesem Hintergrund Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Medizinökonomik, kann man davon ausgehen, dass er weiß, was in der wirklichen Welt funktioniert und was nicht – und was man wie verbessern könnte.

Wer sich jetzt wundert, weiß vermutlich nicht, dass das bis heute am weitesten verbreitete und einflussreichste Lehrbuch zum Thema Paul Samuelsons „Volkswirtschaftslehre – das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomik“ empirische Forschungsergebnisse mit den Analysen und Prognosen mathematischer Theoriemodelle vergleicht und anschließend empfiehlt, wie man Diskrepanzen zugunsten der Theorie auflösen und Ergebnisse dadurch verbessern kann. Dies war und ist im Kern das Vorgehen der Neoklassik und ihrer leider immer noch einflussreichen Anhänger. Wenig erstaunlich, dass eine mit solchen Methoden arbeitende Wirtschaftswissenschaft uns Ungleichheit, Gesundheitsnotstand und Klimakrise beschert hat.

Thielscher hingegen vertritt die These, dass Wirtschaftswissenschaft nicht nur über Marktanalysen und Ressourcenströme Bescheid wissen muss. Vielmehr bedarf es darüber hinaus auch einer gründlichen Kenntnis empirischer Datenlagen zu menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten sowie einer Diskussion ethischer Normen und Werte, etwa zu unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen. Beides ist beispielsweise wichtig, um fakten- und kriteriengeleitet entscheiden zu können, wie eine Wirtschaft organisiert werden soll. Konkret: ob etwa für den Gesundheitsbereich bzw. Medizinökonomik dieselben Regeln gelten dürfen wie für die Produktion von Automobilen, oder warum „marktgerechte Preise“ erst dann existieren, wenn auch soziale und Umweltkosten eingepreist sind. Eine Wirtschaftswissenschaft, die wirklich Oikonomia, die bestmögliche Kunst des Managens knapper Ressourcen für das Gemeinwohl aller sein will, muss genau so vorgehen.

Thielscher führt in die historisch-ethischen Wurzeln wirtschaftswissenschaftlichen Denkens ebenso ein wie in die Bandbreite relevanter Disziplinen und Theorien. Alles ist durchsetzt mit anschaulichen Zitaten und vielen Beispielen, weshalb das Buch auch für Nicht-Experten sehr empfehlenswert ist. Mit seinem Buch bürstet Thielscher gegen den etablierten wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream, weshalb am Ende des Buchs auch ein Gastbeitrag des Netzwerks Plurale Ökonomik zu finden ist.

                Jörg Alt SJ

 

Türcke, Christoph: Natur und Gender, Kritik eines Machbarkeitswahns. München: C.H.Beck 2021. 233 S. Gb. 22,–.

Wie schon der Titel sagt, setzt sich der Autor kritisch mit den Protagonist:innen des aktuellen Gender-Diskurses auseinander: „Aus dem vernünftigen Gedanken sexueller Selbstbestimmung wird das Gaukelbild einer künstlerischen Identitäts-Selbsterschaffung aus nichts“ (215), oder, auf eine noch kürzere Formel gebracht: „Einmal mehr erweist sich der radikale (De-)Konstruktivismus als Kreationismus“ (171). Um diese These zu begründen, entwirft der Autor im ersten Teil (13-120) zunächst eine Philosophiegeschichte des Konstruktivismus, angefangen mit der „Herrichtung von Natur“ (13) durch Kultur, wie sie im biblischen Mythos vom Garten Eden grundgelegt ist. Natur ist selbst schon Konstruktion – in den antiken Hochkulturen von göttlichen Mächten einem widerspenstigen Material abgerungen, in der biblischen Vorstellung „Schöpfung“ durch Gott „aus nichts“, und zwar durch Sprechen, durch Diskurs.

An die letztere Vorstellung reichen die Diskurs-Theorien von Michel Foucault und Judith Butler heran, allerdings unter säkularen Bedingungen. Türcke entfaltet sie am Beginn des zweiten Teils (121-220). Bei Foucault sind gibt es immerhin noch die Unterscheidungen zwischen Dingen und Ereignissen einerseits und den Diskursen andererseits, die aus ihnen entstehen. Bei Butler wird die Unterscheidung mehr oder weniger – hier bleibt eine Unschärfe in ihrer Sprache – aufgehoben. Körper sind zwar Dinge bzw. Materie, „aber nicht als Ort und Oberfläche, sondern als ein Prozess der Materialisierung, der im Verlauf der Zeit stabil wird … Dass Materie immer etwas zur Materie Gewordenes ist, muss nach meiner Meinung in Beziehung zu den schöpferischen und eben auch Materie schaffenden Wirkungen von reglementierender Macht im Foucaultschen Sinne gedacht werden.“ (zit. Butler 126 f.) Türcke kommentiert: „Das biblische Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht müsste in ihrer (Butlers) Version lauten: Und die Macht sprach: Es werde Materie. Und es ward Materie.“ (126) Im Unterschied zum widerspenstigen Material, aus dem die Götter einst etwas formten, wird Natur so im Umkehrschluss zu einer rein passiven, empfänglichen Größe, die alles mit sich machen lässt, was der Diskurs will. Die Forderung nach der „Entnaturalisierung“ des binären Diskurses erweist sich so eigentlich als Kritik daran, dass es (bisher) die falschen Diskurse waren, die die Materie formten. „Rückverwandlung der verfestigten Natur in die ursprünglich konturlose, unbegrenzt modellierbare Knetmasse des Diskurses“ (128) wäre dann nur der erste Schritt zur anschließenden Ausübung neuer, alternativer Diskursmacht.

So brillant Türcke formuliert, so sehr bleiben am Ende dann doch Fragen an sein Natur-Verständnis. Er argumentiert konsequent evolutionsbiologisch-naturalistisch, insbesondere mit Rückgriff auf Freud. Die Natur organisiert sich selbst (44-51). Sie hat ihr Überleben in einer Zweierstruktur von Keimzellen quasi „ausgelagert“ (49), die kein Genderdiskurs überwinden kann. Die „Nöte des Lebens“ (Freud) haben die Evolution vorangetrieben bis hin zur Konstruktion von Kultur, „um an der Übermacht der äußeren Natur nicht zugrunde zu gehen.“ (65) Kant zollt dieser widerständigen Natur noch einmal die Ehre mit seinem rätselhaften Begriff vom „Ding an sich“, entleert den Begriff aber so sehr, dass er das Konkrete – zum Beispiel die Zweigeschlechtlichkeit als Bedingung von Fruchtbarkeit – nicht mehr als zum „Ding an sich“ zugehörig ausdrücken kann. Über das „Ding an sich“ kann man ja bekanntlich nach Kant nichts sagen. Wenn man aber, so mein Einwand, doch etwas mehr über das „Ding an sich“ sagen kann, wieso sollte man es dann nur als etwas bedrohlich-gefährdendes ansehen, welches uns nur die Flucht nach vorne lässt? Mir scheint: Eher ist das, was wir aus der Natur gemacht haben, das, was uns zu Recht erschrecken lässt. Der Machtanspruch der Menschheit ist an einem Kipp-Punkt angekommen. Wie entkommt man nun diesem Anspruch?

                Klaus Mertes SJ

 

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