Nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz sind in aller Munde und nehmen inzwischen mit guten Gründen in öffentlichen Debatten, auch im beginnenden Bundestagswahlkampf, breiten Raum ein. Aktuelle Gerichtsentscheidungen wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im April, das von der Bundesregierung eine Nachbesserung ihres Klimaschutzgesetzes vom Dezember 2019 verlangt, oder das Urteil des Hague District Court gegen Royal Dutch Shell im Mai bestätigen die zentrale Einsicht von Papst Franziskus in seiner im Mai 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si‘: Die soziale und ökologische Krise sind eng miteinander verknüpft, und wer wirklich nachhaltige Entwicklung und die Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs: Sustainable Development Goals) erreichen will, kommt an einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft nicht länger vorbei. Gleichzeitig ermutigen uns wissenschaftliche Studien, die belegen: Trotz aller Herausforderungen ist der erforderliche Wandel keine unerreichbare Utopie, sondern eine realistische Zukunftsoption, die neue Entwicklungsperspektiven und Chancen für ein umfassenderes Verständnis von Wohlstand bieten.1
Der Begriff der sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft stammt ursprünglich aus dem eher linken politischen Spektrum, ist inzwischen aber weitverbreitet und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.2 Bei näherer Betrachtung werden damit aber ganz unterschiedliche Vorstellungen, Ziele und politische Instrumente verbunden. Vor diesem Hintergrund hat die interdisziplinäre Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ der Deutschen Bischofskonferenz am 16. Juni in Berlin eine Studie mit dem Titel „Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann“ vorgelegt, die in dreierlei Hinsicht Orientierung geben will, damit der notwendige Wandel gelingen kann.
Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedensten Disziplinen (Ökonomie, Politik- und Klimawissenschaften, Philosophie und Theologie) legen erstens eine ethisch begründete Zielperspektive vor, die motivierende und orientierende Kraft für den Wandel entfalten, Chancen aufzeigen und somit einzelne Menschen und ganze Gesellschaften zu den notwendigen Veränderungen ermutigen kann. Anhand von drei für die Transformation zentralen Handlungsfeldern – Energie-, Konsum- und Mobilitäts- sowie Agrarwende – identifizieren die Fachleute zweitens grundlegende Hindernisse, die die notwendigen Veränderungen blockieren oder erschweren. Auf dieser Grundlage werden in einem dritten Schritt vier Stellschrauben gelingender Transformation formuliert, die gemeinsam und aufeinander abgestimmt in den Blick zu nehmen und neu zu justieren sind. Die vier Stellschrauben gemeinsam zu betrachten ist auch deshalb notwendig, um bei den verschiedenen Einzelreformen, die notwendig sein werden, deren kohärente Abstimmung im Hinblick auf die gemeinsame Zielperspektive nicht aus dem Auge zu verlieren und den Wandel wirksam, effizient und gerecht gestalten zu können.
Die motivierende Zielperspektive
Angesichts der höchst unterschiedlichen Vorstellungen über die Veränderungen und der damit verbundenen Verteilungskonflikte ist es den Sachverständigen wichtig, eine ethisch fundierte Zukunftsvision zu formulieren. Aufgezeigt werden sollen attraktive Vorstellungen eines „Wohin“ der Transformation mit gangbaren Wegen, um die Menschen und die Gesellschaft(en) für die tiefgreifenden Veränderungen motivieren zu können.
Ausgangspunkt dafür ist ein Begriff der menschlichen Freiheit, der die persönliche Freiheit des Einzelnen und die damit verbundene soziale und ökologische Verantwortung zusammendenkt. Die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist von daher kein Selbstzweck, sondern verfolgt das Ziel, dass alle Menschen jetzt und auch zukünftig unter Wahrung der planetaren Grenzen gut leben können. Dazu müssen sie ihre Grundbedürfnisse angemessen befriedigen können, sie brauchen faire Handlungsspielräume und Beteiligungschancen sowie Entscheidungsprozesse, die gerecht und inklusiv sind.
Die in dieser Weise entfaltete Zielperspektive gründet in der Tradition der Christlichen Soziallehre, ist weltanschaulich aber offen und anschlussfähig an verschiedene ethische Begründungen, kulturelle Traditionen und Konzepte gelingenden Lebens.3 Es geht darum, Gemeinsamkeiten zu suchen und das Einende ins Zentrum zu stellen. Damit nehmen wir ernst, dass es höchst unterschiedliche Präferenzen, Wertorientierungen und Konzeptionen eines guten Lebens (z.B. im Hinblick auf Konsum, Mobilität oder Ernährung) geben kann. Deshalb sollte man es unterlassen, paternalistisch-bevormundend bestimmte Lebensweisen vorzuschreiben oder einzelne kulturell geprägte Zielvorstellungen zu bevorzugen. Verbote sind nicht das erste Mittel der Wahl. Insgesamt stehen allerdings die Lebensgrundlagen aller jetzigen und zukünftigen Menschen auf dem Spiel. Da bestimmte Lebensformen oder Konsumweisen aufgrund ihrer sozialen und ökologischen Folgen offensichtlich nicht verallgemeinerbar sind, sind Partikularinteressen, so nachvollziehbar sie auch sein mögen, im Konfliktfall dem Gemeinwohl unterzuordnen.
Barrieren und Hindernisse
Anhand konkreter Beispiele aus verschiedenen Handlungsfeldern identifiziert die Studie grundlegende Hindernisse und Barrieren, welche den notwendigen Wandel erschweren.
Handlungsfeld Energiewende: Aufgrund ihrer hohen ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Bedeutung ist die Energiebranche für die notwendige Transformation zentral. Dies wird v.a. an der Kohleverbrennung deutlich, denn mit mehr als einem Drittel der weltweiten Emissionen ist sie die wichtigste Ursache klimaschädlicher Treibhausgase. Dies verweist darauf, wie wichtig ein weltweiter Ausstieg aus der Kohleverbrennung ist. Denn dann käme die Staatengemeinschaft dem in Paris 2015 vereinbarten Ziel, die globale Erderwärmung unter 2 °C zu halten, deutlich näher.4 Doch obwohl ein zügiger weltweiter Kohleausstieg klimapolitisch notwendig, wirtschaftlich sinnvoll und technisch vergleichsweise einfach möglich wäre, halten viele Länder an dieser Energiequelle fest oder bauen diesen Energiepfad noch weiter aus, wie China im Rahmen seiner Corona-bedingten Konjunkturprogramme.5 Dies gilt leider auch für ärmere Länder in Afrika, wo hohe Finanzierungskosten den Ausbau erneuerbarer Energien gerade dort erschweren, wo dieser besonders notwendig und effektiv wäre.6 So werden durch unzureichende internationale Zusammenarbeit und mangelnde Finanz- und Technologiehilfen in vielen ärmeren Ländern langfristige Pfadabhängigkeiten geschaffen und die hohen Folgekosten von Kohleförderung und -verbrennung weiter auf unbeteiligte Dritte abgewälzt.
Handlungsfeld Konsum- und Mobilitätswende: Auch bei der viel diskutierten Mobilitätswende sind falsche Anreizstrukturen, die zur Verlagerung der ökologischen und sozialen Folgekosten führen, ein zentrales Hindernis für einen nachhaltigen Wandel. Solange gerade im Verkehrsbereich die wahren Kosten der Treibhausgasemissionen, aber auch der Arbeits- und Handelsbedingungen für Rohstoffe (z.B. Lithium und Graphit-Gewinnung für Elektrobatterien) nicht von den Verursachern getragen werden, fördert dies weiter den Bau übermotorisierter und hoch gewichtiger PKWs, einen verschwenderischen Umgang mit knappen Ressourcen, umweltschädigende Produktionsweisen sowie unfaire Arbeits- und Handelsbedingungen. Deshalb muss eine echte Mobilitätswende deutlich über alternative Antriebstechnologien hinausgehen. Sie kann nur dann gelingen, wenn sie auch mit einer Konsum- und Mentalitätswende einhergeht, die das überkommene Leitbild des „Immer mehr und schneller“ verändert. Effizientere Technologien müssen mit einer Kultur des rechten Maßes (Suffizienz) verbunden werden, um wirksame Anreize für eine größere Vielfalt an Mobilitätsdienstleistungen, längere Produktlebenszeiten und eine umfassende Wiederverwertung der eingesetzten Ressourcen zu geben.
Handlungsfeld Agrarwende: Im Agrarbereich verweist beispielsweise ein zu hoher Fleischkonsum, häufig gekoppelt mit niedriger Qualität und erheblicher Lebensmittelverschwendung, auf die unheilvolle Verbindung von problematischen Anreizstrukturen (z.B. hinsichtlich der Agrarförderpolitik), nicht nachhaltigen individuellen Verhaltensroutinen und ungesunden Ernährungsgewohnheiten. Viel zu häufig wird hier der Wettbewerb zulasten der Schwächsten, besonders der Natur, des Tierwohls, der menschlichen Gesundheit oder von prekär Beschäftigten ausgetragen – was während der Corona-Pandemie am Beispiel der höchst problematischen Arbeitsbedingungen in der großindustriellen Fleischverarbeitung stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Die vorherrschenden Strukturen und Routinen sind nicht leicht zu verändern – gerade dann, wenn sie durch sozio-kulturelle Normen und mangelnde nationale wie internationale Kooperation und Solidarität gestützt werden, wie das zähe Ringen um die dringend notwendigen Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU wieder einmal gezeigt hat.
Anhand der genannten Handlungsfelder identifiziert die Studie also vier grundsätzliche Probleme bzw. Barrieren des Wandels:
- Schwache Institutionen und unzureichende Ordnungspolitik (bzw. eine Verbindung von Markt- und Staatsversagen), die weiter eine Verlagerung der wahren Kosten auf unbeteiligte Dritte (v.a. die weltweit Verwundbarsten und zukünftige Generationen) zulassen,
- Ungelöste Verteilungskonflikte und ungleiche Machtverhältnisse, die den Wandel erschweren, um den Status quo zu erhalten,
- Mangelnder Mut zur politischen Gestaltung und Kommunikation sowie
- Überkommene Leitbilder und die Vernachlässigung der kulturellen Dimension.
Stellschrauben gelingender Transformation
Auf dieser Basis identifiziert die Studie vier zentrale Stellschrauben, die in ihren wechselseitigen Bezügen gemeinsam zu adressieren und im Hinblick auf das Ziel, dass alle gut leben können sollen, neu zu justieren sind. Diese entwickeln auch eine zentrale Grundüberzeugung der Vorgängerstudie „Raus aus der Wachstumsgesellschaft?“ von 2018 weiter, in der die Sachverständigengruppe die Rolle von Wirtschaftswachstum für eine nachhaltige Entwicklung analysierte und zu dem Ergebnis kam: Es geht nicht darum, Wachstum grundsätzlich abzulehnen, sondern dafür zu sorgen, dass die ökologischen und sozialen Kosten von den Verursachern getragen und nicht weiter auf unbeteiligte Dritte abgewälzt werden. Dies muss mit sozialem Ausgleich verbunden und in internationaler Abstimmung erfolgen. Notwendige Einzelschritte wie eine verursachergerechte CO2-Bepreisung und der angemessene soziale Ausgleich werden viel zu häufig gegeneinander ausgespielt, statt sie als zusammengehörige Teile eines Gesamtprojekts zu verstehen. Technische und wirtschaftliche Effizienzsteigerungen sind dafür genauso wichtig wie eine Kultur der Suffizienz, der Solidarität und der internationalen Zusammenarbeit.
1. Ordnungsrahmen schaffen, der Innovationen und das Gemeinwohl befördert: Die von der Studie skizzierte sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist ein wertebasiertes Modernisierungskonzept, das einen Ordnungsrahmen braucht, der technologische und soziale Innovationen im Dienst des Gemeinwohls befördert und beschleunigt. Das verlangt nichts anderes, als die soziale Marktwirtschaft zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft in enger internationaler Abstimmung weiterzuentwickeln und in der Tradition der Väter der sozialen Marktwirtschaft mit einer wertebasierten Zielperspektive zu verbinden („Vitalpolitik“ nach Alexander Rüstow). Erforderlich dafür sind Politikinstrumente und Rahmenbedingungen, die Markt und Wettbewerb in Richtung gemeinwohlförderlicher Innovationen lenken, angemessene Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft schaffen und mehr internationale Kooperation und Solidarität fördern. Gleichzeitig sind mutige Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu tätigen, um z.B. Infrastruktur für alternative Formen der Mobilität oder verändertes Ernährungsverhalten zu fördern.
Zukunftsfähige Technologien und Anreizstrukturen zu etablieren, bedarf meist längerer Anlaufzeit und guter Koordination, bis sie auf nationaler sowie internationaler Ebene effektiv zusammenwirken. Dies wird am Beispiel der Bepreisung von klimaschädlichen Emissionen deutlich: Nach der Einführung des EU-Emissionszertifikationshandels ist es für die Weiterentwicklung nun wichtig, Mengen und wo möglich auch Preise zügig anhand wissenschaftlicher Daten und unabhängig vom politischen Tagesgeschäft festzusetzen und bisher nicht erfasste Emissionen (Verkehr, Gebäude, Konsum) ebenfalls der CO2-Bepreisung zu unterziehen. Die Sachverständigengruppe spricht sich diesbezüglich für multilaterale Vereinbarungen über weltweite CO2-Mindestpreise aus und fordert weit höhere Technologie- und Finanzierungshilfen von Regierungen, Unternehmen und Finanzinstitutionen wohlhabender Länder, um nachhaltige Technologien auch in ärmeren Ländern flächendeckend zu etablieren.
2. Zumutungen und neue Handlungschancen fair verteilen: Wer die Transformation gestalten will, muss auch die damit verbundenen Machtfragen klar benennen, um Barrieren und Gegenkräfte erfolgreich identifizieren und überwinden zu können. Um dabei von den unvermeidlichen Verteilungskonflikten nicht gelähmt zu werden, ist es hilfreich, die betroffenen Interessensgruppen in angemessener Weise in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen und ihnen zu vermitteln, dass die Einschränkungen unter den richtigen Voraussetzungen und einem angemessenen sozialen Ausgleich nicht nur verkraftbar sind, sondern neue, fair zu verteilende Perspektiven eröffnen. Ehrliche Transformationspolitik ist also immer auch eine Politik der fairen Verteilung von Zumutungen und neuen Handlungschancen.
Eine zunehmend wichtige Rolle spielen dabei die so genannten „stranded assets“.7 Wer z.B. seinen Wohlstand dem Besitz fossiler Ressourcen oder der Nutzung nicht mehr zeitgemäßer Technologien verdankt, kann Einschränkungen in seinem bisherigen Geschäftsmodell nicht einfach als „kalte Enteignung“ ablehnen, sondern steht in besonderer Verantwortung, sich konstruktiv an gemeinwohlförderlichen Innovationen und Reformen zu beteiligen. Die Politik ist dazu aufgerufen, die dafür dringend notwendige Planungssicherheit zu schaffen.
3. Gesellschaftliche Unterstützung durch Transparenz und Teilhabe fördern: Der politische Populismus profitiert von materiellen und ideellen Verlustängsten. Er verstärkt sie deshalb gezielt, indem er die Verantwortung für komplexe Probleme und damit auch die Eigenverantwortung des Einzelnen an globale Feindbilder abschiebt. Damit bietet der politische Populismus verlockend einfache, gern nationalistisch geprägte, Antworten an.
Die Antwort auf diesen Vertrauensverlust sieht die Studie in mehreren Schritten: zunächst diese Erschütterung anzuerkennen, sodann Informations-, Mitsprache- und Teilhabemöglichkeiten zu verbessern, aber auch populistische Instrumentalisierungen, die diesen Vertrauensverlust zum eigenen Vorteil verstärken und kein Interesse an konstruktiven Lösungen haben, zu entlarven. Deshalb müssen die widersprüchlichen Haltungen des Rechtspopulismus in Bezug auf den Klimawandel offengelegt und konkrete Transformationsvorhaben möglichst partizipativ gestaltet werden. Mehr „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, eine vorausschauend verständliche Kommunikation und neue Wohlfahrtsindikatoren sollten diese Bemühungen um mehr Transparenz und Teilhabe begleiten.
4. Transformation als kulturelle Aufgabe ernst nehmen: Populisten erwecken zwar gerne den Eindruck, kulturelle oder religiöse Traditionen zu bewahren, faktisch verraten sie aber häufig die Werte, die diesen Traditionen zugrunde liegen. Wer die sozial-ökologische Transformation voranbringen will, muss das „kulturelle Bedeutungsgewebe“ wertschätzen, das sich häufig nur langsam verändert und somit träge, aber auch tragfähig ist. Häufig verändern sich Lebens- und Konsumstile zunächst in „Nischen“; es gilt, sie sensibel wahrzunehmen und ihre weitere Verbreitung zu fördern – durch Bewusstseinsbildung, entsprechende Dialogformate oder Förderung geeigneter Infrastruktur. Dies ist auch wichtig, um Leitbilder so zu verändern, dass sie Nachhaltigkeit befördern, wie etwa ein verändertes Verständnis von Wohlstand als Lebensqualität, die mehr umfasst als materielles Einkommen oder Konsum, und entsprechend andere Indikatoren für Wohlstand.
Zum spezifischen Beitrag der Kirche
Die Studie thematisiert abschließend auch den wichtigen Beitrag von Religionsgemeinschaften und Kirchen zu einem gesamtgesellschaftlichen Kulturwandel – einen Beitrag, den diese freilich nur dann leisten können, wenn sie sich, wie in der Studie beschrieben, zunächst um glaubwürdiges Verhalten und notwendige Reformen im eigenen Verantwortungsbereich bemühen. Angesichts der gegenwärtigen Krise und des massiven Verlusts an Glaubwürdigkeit gilt das für die katholische Kirche umso mehr.
Als weltweite Gemeinschaft und globale Akteurin, die zugleich in sehr unterschiedlichen Kulturen verankert ist, hat die katholische Kirche vielfältiges Potenzial, Anwältin für grenzüberschreitende globale Gerechtigkeit, universelle Menschenrechte und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu sein. Das Wissen um die genannten Stellschrauben gelingenden Wandels muss aber innerhalb des gesamten kirchlichen Einfluss- und Verantwortungsbereichs verstärkt zur Anwendung kommen – durch die Minderung des eigenen ökologischen Fußabdrucks, einer konsequenten Ausrichtung des kirchlichen Beschaffungswesens an sozial-ökologischen Kriterien, einem nachhaltigen Management von Gebäuden, Liegenschaften und Agrar- und Forstland sowie ethisch-nachhaltigen Geldanlagen.
Wenn dies gelingt, kann die katholische Kirche als Weltkirche nicht nur ihr materielles und strukturelles Vermögen, sondern auch ihr spezifisches Potenzial als Glaubensgemeinschaft in den gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess einbringen: ihr Eintreten für die Verwundbaren und Marginalisierten, Traditionen des rechten Maßes und universaler Gerechtigkeit, ein holistisches Verständnis von Lebensqualität sowie eine Spiritualität, die durch Durststrecken trägt, Gemeinsamkeiten sucht und Hoffnung vermittelt.
Die Sachverständigen betonen zudem die Chance und Verantwortung der katholischen Kirche, Orientierung für eine verantwortliche Bevölkerungspolitik zu geben, welche im Hinblick auf die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele immer bedeutsamer wird. Die Studie formuliert mit dem Schutz des Lebens, der Ablehnung staatlicher Zwangsmaßnahmen, aber auch der reproduktiven Selbstbestimmung von Familien, die den Zugang zu verlässlichen Verhütungsmitteln umfasst, dafür zentrale Maßstäbe.
Um tatsächlich beide Elternteile gleichermaßen zu verantwortungsvollen Gewissensentscheidungen ermächtigen zu können, ist es unerlässlich, Frauen weltweit einen besseren Zugang zu Bildung zu verschaffen und ihre Beschäftigungschancen zu verbessern. Dann können sie sich eigenständige Einkommenschancen und damit gleichwertige Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten erschließen. Diese zeitgemäßen Mitbestimmungsmöglichkeiten müssen selbstverständlich nicht nur in Staat und Gesellschaft eingefordert, sondern auch innerkirchlich konsequent weiterentwickelt werden, sodass aus dem „brüderlichen Umgang“ endlich ein zukunftsfähiges „geschwisterliches Miteinander“ wird.
Ein breiter Diskussionsprozess
Die Sachverständigengruppe sieht die Studie als Impuls, der die Debatte um den anstehenden Wandel innerkirchlich wie in der breiteren Gesellschaft anregen und bereichern möchte. Dazu wurde die bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax angesiedelte Resonanzgruppe unter Leitung von Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerks Misereor, eingerichtet, der Vertreterinnen und Vertreter kirchlicher Verbände und Organisationen, aber auch wichtiger gesellschaftlicher Akteure angehören. Schon bei der Erarbeitung der Studie hat diese Resonanzgruppe vielfältige Expertise aus den je unterschiedlichen Praxis-Hintergründen eingebracht. Dieser fruchtbare Theorie-Praxis-Dialog wurde bei einem Workshop im Haus der Wirtschaft in Berlin, der in einem hybriden Format eine breite Beteiligung hochkarätiger Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft ermöglichte, gleich im Anschluss an die Vorstellung der Studie am 16. Juni 2021 fortgeführt. Der Grundtenor der Debatte war, dass eine neue Bundesregierung den Auftrag habe, die sozial-ökologische Transformation unverzüglich, in der Breite und mit neuen Akteurs-Allianzen so zu gestalten, dass die damit verbundenen Chancen auch genutzt werden können. Gleichzeitig wurde deutlich, dass viele Akteure in Kirche und Gesellschaft bereit sind, ihren je eigenen Beitrag zu leisten und die Debatte gemeinsam weiterzuführen.
Ein Format dafür ist die digitale Dialogplattform DigiLog (www.digi-log.org), die vom Zentrum für Globale Fragen der Hochschule für Philosophie München eingerichtet und zeitgleich mit der Vorstellung der Studie freigeschaltet wurde. Interessierte können hier mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen über deren konkrete Forschungsprojekte zur Transformation ins Gespräch kommen. Die von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) geförderte Plattform dient dem barrierearmen Wissenschaftsdialog rund um die Frage, wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann. Die Nutzerinnen und Nutzer können dabei auch darüber debattieren, welchen spezifischen Beitrag Politik, Wirtschaft, Kirchen und Zivilgesellschaft leisten können, um eine lebenswerte Zukunft für alle und den dafür notwendigen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten.