Das Erbe antretenZur Tradition

Was du ererbt von deinem Vater hast,
Erwirb es um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.
– J.W. Goethe: Faust I, Nacht

 

„Tradition“ genießt in unseren Tagen einen mithin durchwachsenen Ruf. Ein Gemeindemitglied veröffentlichte jüngst ein Gebet, in dem sie um „Befreiung aus den Fesseln der Tradition“ bat. Häufig erfahren wir Tradition als bleiernes Gewicht, das unserer Kirche die Luft zum Atmen nimmt. Doch die Problematik macht auch vor dem Rest der Gesellschaft nicht halt. So ist es kein Zufall, dass sich der Song „No roots“ der deutsch-britischen Pop-Sängerin Alice Merton von 2017, in dem sie stolz davon singt, keine Wurzeln zu haben, monatelang in den europäischen Charts halten konnte. Die Existenz des Bedürfnisses, sich von als übermächtig empfundenen „Altlasten“ loszusagen und dem Neuen den unbedingten Primat einzuräumen, erscheint als quasi unwidersprochene communis opinio.

Es ist aber auch Ausdruck der genauen Umkehr des zentralen geschichtsphilosophischen Paradigmas der römischen Antike: Dem grundsätzlichen Primat des Alten. Das Übergebene (traditum) gilt als sakrosankt, unantastbar. Dabei bildet die Sitte der Väter (mos maiorum) eine Art durch den Akt der Tradition geheiligtes Gesetz. Bemerkenswert ist hierbei, dass Diskurse über den mos maiorum gleich ob bei Cato, Cicero oder Seneca vor allem in Kontexten wahrgenommener Sittenverfälle auftreten. Anhand der überlebensgroßen Vorbilder einer verklärten, vor allem aber vergangenen Epoche werden die Verfehlungen der eigenen Zeit gemessen und entsprechend kritisiert; der Blick des Betrachters ist dabei stets rückwärtsgewandt.

Römisch-katholisch wird der biblischen Offenbarung eine Tradition an die Seite gestellt, deren Autorität eng mit diesem römischen Verständnis verwandt ist. Das katholische Verständnis unterscheidet sich dabei vom römischen in zwei Punkten: Erstens gilt die Wahrheit der Lehre in ihrer Gesamtheit als bereits zur Zeit Jesu und der Apostel mitgeteilt. „Normative Kraft erwächst dem Ursprung also durch seine Qualifizierung als Wahrheit, und es gilt fortan, Etabliertes und zu Etablierendes auf diese Wahrheit zu beziehen; nur so entgeht das Neue dem Verdikt des Traditionslosen und damit des Unwahren“ (Zit. Bruno Steimer: Vertex Traditionis. Berlin und New York 1992). Hierin liegt ein Unterschied zum römischen Traditionsverständnis, das das Übergebene stets als historisch Gewordenes begreift (vgl. etwa Tacitus: Annales I,1). Zweitens wirkt – zumindest in der Theorie – seit dem Zweiten Vatikanum (Lumen gentium) der Sinn der Gläubigen (sensus fidelium) als ergänzendes Korrektiv.

Gemeinsam haben römische wie katholische Begriffe den Charakter des Bewahrens und den in letzter Zeit viel beschworen Aspekt der Konstruktion oder der Erfindung von Tradition: jüngst diskutiert etwa in den Beiträgen von Hubert Wolf, „Die Erfindung des Katholizismus“ (FAZ 18.08.2020) und Klaus Schatz SJ, „Die Tradition bin ich“: Pius IX. und die „Erfindung des Katholizismus“ (Stimmen der Zeit 12/2020). So rekurriert Kaiser Augustus zur Untermauerung seiner Losung res publica restituta – nichts lag ihm ferner – auf archaische Priesterkollegien und sogar völlig unverständliche Kultlieder (R. Gest. div. Aug. 10). Auch die Erfinder des monarchischen Episkopats leiten ab der Mitte des dritten Jahrhunderts von der priesterlichen Rolle des Bischofs (episkopos) sein Recht zur Vereinnahmung ganz irdischer Leitungsfunktionen ab und beziehen sich dabei so erfolgreich wie unzutreffend auf die Apostel (vgl. etwa Didasc. Syr. c 10 54, 6-12).

Kirchliche Autorität entwickelte sich, diesem Beispiel folgend, stets vor allem als traditionale Autorität im Weberschen Sinne. Entscheidend für die gegenwärtige Gemeinschaft der Gläubigen ist dies insofern, als diese sich als Bürger*innen zweier Reiche mit ganz gegensätzlichen Eigenlogiken wiederfinden: Hier eine stete Rückversicherung in einer Tradition, die conditio sine qua non für autoritatives Handeln in der Gegenwart darstellt, dort ein unhinterfragter Fortschrittsglaube, in dem das Alte stets den Defekt in sich trägt, nicht mehr an den Verheißungen der sehnlich erwarteten Zukunft teilzuhaben. Die römische Provenienz des römisch-katholischen Traditionsverständnisses lässt dieses einer Zeitkapsel gleich in eine Gegenwart einbrechen, die Traditionslosigkeit zur Kardinaltugend erhoben hat.

Diese Ungleichzeitigkeit des Denkens ist mit vielen Spannungen verbunden. Vor allem aber unterliegt ihr, gesamtgesellschaftlich betrachtet, nur noch eine kleine Minderheit. William Faulkners Diktum von der Vergangenheit, die nie sterbe und im Übrigen nicht einmal vergangen sei, ist nur halb richtig – es beruht auf der Annahme, dass erinnert, vor allem aber, dass sich zum Vergangenen stets noch in Beziehung gesetzt wird, kurz: Dass eine Traditionslinie fortbesteht. Wir alle erleben jedoch, dass der Faden der Tradition teils im Abriss begriffen, teils schon ganz verloren ist. Für eine ganze Generation junger Erwachsener ist das Christliche nicht einmal ein Reibungspunkt mehr wie im 20. Jahrhundert, sondern schlicht irrelevant. Für die allermeisten von ihnen ist die Spannung zwischen Übergebenem und Erhofftem eindeutig aufgelöst. Die Wurzeln der Tradition ragen ins Leere.

Folgt hieraus die Wertlosigkeit aller Tradition? Sicher nicht. Entscheidend ist aber Folgendes: Dass wir, die wir Nachgeborene, Kinder sind, uns auch als Erben begreifen; Erben Gottes und Miterben Christi. Wir müssen unser Erbe antreten, es uns zu eigen machen, es in Besitz nehmen. Der Antritt kann jedoch nicht gelingen ohne die Zusammenführung des Römischen und des Katholischen. Vom Römischen her bereichert uns das Bewusstsein um die historische Gewordenheit der Tradition. Denn auch wenn das Gründungsmoment des mos maiorum ex post als Einbruch des Numinosen in die Geschichte konzeptionalisiert wird, gehen ihm von Menschen gesetzte Gründungsakte, Innovationen voraus. Alles Traditionale, durch Alter Ehrwürdige war einmal neu – und es gab eine Zeit, in der es nicht war.

Historisch zeigen die eingangs zitierten Beispiele Ciceros, Senecas oder des Tacitus, wie erdrückend eine solche Tradition wirkt, die von eigenen Erfahrungen der Gründung, der Innovation, des gemeinsamen Handelns entfremdet ist. Diese Tradition trägt nicht mehr durch von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft. Vielmehr ist sie im Übergang von der Republik zur Kaiserzeit zunehmend eine Last, weil die Gründungen der Vergangenheit durch keine eigenen mehr erneuert und fortgesetzt werden können. Die Impotenz der Zeitgenossen, dem gemeinsam Ererbten etwas hinzuzufügen, beraubt den ehrwürdigen Blick zurück um das ausgleichende Moment der Gegenwart – das Ergebnis ist eine Verknöcherung, eine Unfruchtbarkeit, schließlich eine Irrelevanz des gemeinsamen Erbes: Der Faden reißt ab.

Heute droht uns dieselbe Katastrophe. Der Blick zurück ist kein Beitrag zur Lösung, sofern wir uns nicht zugleich der eigenen Verantwortung klar werden, selbst Tradition zu erneuern. Der Ausweg aus der Sackgasse der Verknöcherung ist dabei ein spezifisch christlicher: Die Rückbesinnung darauf, dass wir nicht als Waisen zurückgelassen und auf uns allein geworfen sind. Wenn alles Gewordene seine Ehrwürdigkeit kontinuierlicher Inspiration verdankt, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass diese jetzt plötzlich zum Erliegen gekommen sein sollte. Die Möglichkeit von Erneuerungen, Anfängen und unsere eigene Rolle in Bezug auf sie nicht anzuerkennen, hieße, die Botschaft Jesu geringzuschätzen.

Tatsächlich stehen Erneuerung, aber auch Neuerung und Tradition nicht zwangsläufig miteinander im Gegensatz. Sie bedingen einander. Nur insofern Traditionen nicht allein als Überliefertes begriffen, sondern auch als selbst neu zu Begründendes und dadurch erst Fortzuführendes erfasst werden, vermögen sie mehr zu sein als „Fesseln“, nur dann tragen sie, statt durch ihr Gewicht zu erdrücken. Diese Fortführung einer lebendigen Tradition im Sinne Jesu bedeutet natürlicherweise Neuerungen; sie ist die dringendste und schönste Pflicht aller Christ*innen. Von der Annahme dieser Aufgabe hängt der Fortbestand unseres Erbes als Ganzes ab – wir sollten es antreten.

Warum sollten dann nicht auch neue Denkmäler […] schriftlich abgefasst werden? Werden doch auch diese einmal in gleicher Weise alt und den Nachkommen nötig sein, wenn sie in ihrer gegenwärtigen Zeit wegen der nun einmal bestehenden Verehrung für das Altertum in geringerem Ansehen stehen. Die aber die gleiche Kraft des einen Heiligen Geistes allen Zeitaltern zuschreiben, mögen sich vorsehen, da das Neuere für größer zu halten ist, weil es dem Ende näher steht und ein Überfluss der Gnade gerade für die letzten Zeiten vorbehalten ist.

– Aus der Passio der Perpetua und Felicitas, übers. Bibliothek der Kirchenväter

 

Der Text ist ein Betrag zum Essay-Wettbewerb für junge Autorinnen und Autoren anlässlich des 150. Jubiläums der „Stimmen der Zeit“.

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