Bei der Bekämpfung des Covid-19-Virus haben Politik und Gesellschaft den Fokus auf die Entwicklung von Test- und Impfstrukturen, auf Schutz- und Abstandsregelungen und auf die Abschwächung der wirtschaftlichen Folgen gelegt. Zu Recht wird inzwischen kritisiert, dass die sozialen Auswirkungen sowohl der Pandemie selbst als auch mancher Bekämpfungsmaßnahmen nicht oder zumindest nicht rechtzeitig in den Blick genommen worden sind. Sofern sie geführt wird, behandelt die Diskussion die Auswirkungen besonders auf Kinder und Jugendliche.
Die massiven Folgen der Pandemie für Menschen am Rande unserer Gesellschaft, vor allem für Migranten und Flüchtlinge, bleiben weitgehend unbeachtet. Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist es jedoch hochgefährlich, wenn ein Teil von ihr mit seinen Bedürfnissen und Notlagen sowohl im Diskurs wie auch in der praktischen Politik überhaupt nicht vorkommt. Deshalb sollen an dieser Stelle einige Stichworte zur Situation von Flüchtlinge in Deutschland unter den Bedingungen der Corona-Pandemie genannt werden. Grundlage hierfür sind die Erfahrungen und Erkenntnisse des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (Jesuit Refugee Service, JRS) Deutschland aus der alltäglichen Einzelfallarbeit. Eine erschöpfende Darstellung aller Probleme, vor denen sich Flüchtlinge gestellt sehen, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Vielmehr sollen einige Schlaglichter zu einer weiteren und vertiefenden Diskussion anregen.
Zum Hintergrund: Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist eine internationale Organisation, die 1980 angesichts der Not vietnamesischer Bootsflüchtlinge durch die Gesellschaft Jesu gegründet worden ist. Nach dem Selbstverständnis des Jesuitenordens gehört die Förderung der Gerechtigkeit notwendig zum Dienst am Glauben. Entsprechend diesem Auftrag begleitet der JRS Flüchtlinge und Migranten, unterstützt sie und setzt sich mit ihnen gemeinsam für ihre Rechte ein – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Weltweit ist der JRS in mehr als 50 Ländern tätig. In Deutschland setzt er sich seit 1995 für Flüchtlinge ein, besonders für Menschen in der Abschiebungshaft, Flüchtlinge im Kirchenasyl, „Geduldete“ und Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Seelsorge, Rechtshilfe und politische Fürsprache.
Folgen der Grenzschließungen
Die Aufzählung der Menschen, um die sich der Jesuiten-Flüchtlingsdienst kümmert, macht deutlich, dass wir es bei Flüchtlingen oder „Migranten“ nicht mit homogenen Gruppen zu tun haben. Fast alle von ihnen wurden aber auf die eine oder andere Weise von den im Rahmen der Pandemiebekämpfung verhängten Schließungen auch der innereuropäischen Grenzen getroffen: Die Zusammenführung von Familienangehörigen, auf die die betroffenen Menschen zum Teil bereits über Jahre gewartet hatten, wurde ausgesetzt und damit das quälende Warten noch verlängert. Ebenso geriet die ohnehin eher zäh verlaufende Übernahme von Flüchtlingen aus den vollkommen überfüllten Lagern in Griechenland ins Stocken: Von den Zehntausenden Menschen, die in griechischen Aufnahmelagern unter größtenteils unzumutbaren Umständen ausharren mussten, durften 3.658 Flüchtlinge in den Jahren 2020 und 2021 in andere europäische Staaten ausreisen. Eine Mehrheit davon wurde nach Deutschland gebracht. Ende April 2021 wurde die Aufnahme jedoch für beendet erklärt. Was mit den übrigen Menschen passieren soll, die immer noch auf den griechischen Inseln festsitzen, wird noch nicht einmal diskutiert.
Verschärfte Gefährdung durch Wohnsituation
In Deutschland kommen vor allem für Asylsuchende die Probleme hinzu, die aufgrund ihrer Unterbringung in Großunterkünften (Erstaufnahmeeinrichtungen, AnkER-Zentren – „Ankunft, Entscheidung und Rückführung“ –, Gemeinschaftsunterkünften) entstehen. Wenn mehrere Menschen sich ein Zimmer und die sanitären Einrichtungen teilen müssen, ist es ihnen unmöglich, die zur Pandemiebekämpfung ausdrücklich angeordneten Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Deshalb haben in Einzelfällen einige Verwaltungsgerichte die Entlassung der Menschen aus Aufnahmeeinrichtungen angeordnet. So heißt es in einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster:
„Die Antragsteller (…) haben dargelegt, dass die Einhaltung eines Mindestabstandes zwischen zwei Personen von 1,50 m aufgrund der beengten Wohnverhältnisse nicht möglich ist. Sie haben weiter dargelegt, dass sie sich Sanitäranlagen mit anderen Bewohnern teilen müssen und dass Reinigungsmittel nicht zur Verfügung stehen. Weder die Abstandsempfehlung von 1,50 m noch eine ausreichende Hygiene sind somit sichergestellt. (…) Aufgrund dieser Sachlage kann daher nur davon ausgegangen werden, dass das Ermessen des Antragsgegners (…) dahingehend reduziert ist, den Aufenthalt der Antragsteller in der Aufnahmeeinrichtung vorläufig zu beenden. (…) Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund, also die Eilbedürftigkeit glaubhaft gemacht, denn es liegt auf der Hand, dass sie (…) durch die Verpflichtung zum Wohnen in der Aufnahmeeinrichtung einem erhöhten Infektionsrisiko mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 ausgesetzt sind.“ Diese Rechtsprechung beschränkt sich jedoch auf Einzelfälle. Eine generelle Anordnung, dass zumindest im Regelfall während der Pandemie Asylsuchende außerhalb von Großeinrichtungen untergebracht werden müssen, ist nie ergangen. Stattdessen mussten die Menschen sogar ertragen, dass aufgrund von Corona-Fällen die ganzen Einrichtungen oder große Teile von ihnen unter Quarantäne gestellt und damit die Bewegungsfreiheit der Bewohner noch stärker eingeschränkt worden ist, als sie es ohnehin schon war.
Aber auch die Wohnsituation außerhalb von Großaufnahmeeinrichtungen kann problematisch sein. Analysen zufolge sind Menschen in benachteiligten Stadtvierteln einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Das gilt zunächst für alle Bewohner, unabhängig von ihrer Herkunft. Nur wohnen aufgrund ihrer Einkommenssituation überdurchschnittlich viele Migranten in billigeren Wohngegenden wie Köln-Chorweiler. Die Ungleichheitsfaktoren Armut und Migration sind somit miteinander verschränkt.
Zugang zur Gesundheitsversorgung
Beim Zugang zum Gesundheitssystem, der unter den Pandemiebedingungen überlebenswichtig sein kann, kommen neben sprachlichen und kulturellen Barrieren auch bürokratische Regelungen, die weitere Hürden aufbauen. Dies betrifft etwa die Frage nach Corona-Schutzimpfungen: Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 der Corona-Impf-Verordnung (CoronaImpfV) ist unter anderem „der gewöhnliche Aufenthaltsort“ in der Bundesrepublik Deutschland Voraussetzung für einen Anspruch auf eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus. Gesetzlich ist dieser Begriff nicht definiert. Das Gesetz (§ 30 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 SGB I) kennt nur den „gewöhnlichen Aufenthalt“, der einen auf Dauer angelegten rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland voraussetzt. Demgegenüber ist nicht klar, wann von einem gewöhnlichen Aufenthaltsort ausgegangen werden soll.
Besonders für Menschen, die sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten, wird dies problematisch: Für sie ist völlig unklar, ob sie jemals die Möglichkeit haben werden, eine Impfung zu erhalten. Denn mangels eines Aufenthaltsrechts hat diese Personengruppe in Deutschland keinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ im Sinne des Gesetzes, auch wenn die Menschen bereits seit Jahren in Deutschland leben. Eine Klarstellung, dass auch Personen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität einen Anspruch auf Schutzimpfungen haben, ist somit dringend geboten. Dafür sprechen schon Gründe des allgemeinen Bevölkerungsschutzes. Der Bioethik-Ausschuss des Europarates hat in einer Empfehlung ausdrücklich auf die Notwendigkeit von Strategien hingewiesen, die sicherstellen, dass auch marginalisierte Personengruppen Zugang zu Schutzimpfungen haben. Dazu zählt der Ausschuss ausdrücklich auch Menschen ohne oder mit einem unsicherem Aufenthaltsstatus.
Durch die Corona-Pandemie merklich verschärft hat sich die Situation der Menschen ohne Aufenthaltsstatus auch bei anderen Fragen der Gesundheitsversorgung. Diese Menschen befinden sich ohnehin in einer schwierigen und verzweifelten Lage. Sie können oder wollen aus verschiedenen Gründen, die aber von Behörden und Gerichten nicht akzeptiert werden, nicht in ihre Herkunftsländer zurück. In Deutschland können sie ihre elementaren sozialen Rechte kaum wahrnehmen, denn sie müssen befürchten, bei der Ausländerbehörde gemeldet (und potenziell abgeschoben) zu werden, wenn sie sich an eine öffentliche Stelle wenden. Dies steht auch ihrem Zugang zur Gesundheitsversorgung entgegen: Geht eine Person ohne Aufenthaltsstatus beispielsweise ins Krankenhaus, ohne die hohen Behandlungskosten dort bezahlen zu können, wendet sich das Krankenhaus an das Sozialamt, um die Kostenübernahme durch die öffentliche Hand zu erreichen. Das Aufenthaltsgesetz verpflichtet jedoch in seinem § 87 das Sozialamt bei der Prüfung einer solchen Kostenübernahme dazu, die Ausländerbehörde zu informieren. Dies kann wiederum zur Abschiebung der Person führen. Deshalb gehen Menschen ohne Aufenthaltsstatus auch bei schweren Krankheiten oft nicht in ein Krankenhaus. Inzwischen sammelt ein breites Bündnis von über 80 Organisationen – darunter auch das Katholische Forum Leben in der Illegalität und der Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland – Unterschriften unter eine Petition, mit der erreicht werden soll, dass die Pflicht zur Datenübermittlung nach § 87 Aufenthaltsgesetz für den Bereich der Gesundheitsversorgung nicht gilt.
Folgen der Lockdowns
Während der verschiedenen Lockdowns haben viele Klienten des JRS ihren Arbeitsplatz verloren. Selbst wenn sie nur auf Kurzarbeit gesetzt wurden, war, da die Menschen zuvor schon nicht sehr viel verdient hatten, nun mit dem eingeschränkten Einkommen aus dem Kurzarbeitergeld der Lebensunterhalt für sie und ihre Familien stark gefährdet. Dies hatte nicht nur die erwartbaren sozialen Folgen wie Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Lebensmitteln oder bei der Bezahlung der Wohnungsmiete, sondern auch massive aufenthaltsrechtliche Konsequenzen: Das Angewiesensein auf öffentliche (Sozial-)Hilfe gefährdet häufig den Aufenthaltsstatus. Mit anderen Worten: Wer seinen Job verlor oder nur Kurzarbeitergeld bezog, konnte seine Aufenthaltserlaubnis verlieren und damit in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität landen, weil er nicht (mehr) eigenständig seinen Lebensunterhalt sichern konnte.
Die Folgen des eingeschränkten Schulbesuchs haben auch Migrantenkinder und ihre Familien massiv zu spüren bekommen. Deutschkurse mussten abgesagt werden, Tablets oder Laptops für die Teilnahme am virtuellen Unterricht waren für sie nicht immer erreichbar. Die Berliner Rechtsanwältin Jessica Hamed hat in einem Interview berichtet: „Ich habe einen Fall, da spricht der Junge sehr gut Deutsch, hat sich bis zur Pandemie wunderbar integriert. Nun ist er plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Seine Eltern können kein Deutsch. Das sogenannte Distance Learning ist auch für die privilegierten Schichten nicht ganz einfach. Doch wie sollen es die Kinder der Geflüchteten machen? Die haben keine große technische Ausstattung.“ Solche Probleme und die Einschränkungen beim Zusammenkommen von Gruppen haben in vielen Fällen die Integration massiv behindert oder gerade beim Spracherwerb zu Rückschritten geführt.
Chaos bei Ausländerbehörden
Die Corona-Pandemie hat zu zahlreichen Schließungen von Behörden für den Publikumsverkehr geführt. Diese Maßnahmen waren verständlich, dienten sie doch dem Schutz der dort Arbeitenden. Nur führten sie auch dazu, dass Anträge bei Ausländerbehörden entweder gar nicht oder nur unter großem Aufwand gestellt werden konnten. So waren etwa wegen der Schließungen und der personellen Überlastung beim Berliner Landesamt für Einwanderung (der hiesigen Ausländerbehörde) über lange Zeit Vorsprachen allenfalls mit vorher vergebenen Terminen möglich. Eine Terminbuchung konnte nur online erfolgen. Wer jedoch versuchte, auf der entsprechenden Seite der Online-Terminbuchung eine solche Buchung vorzunehmen, stieß entweder auf Fehlermeldungen („Wartungsseite“) oder musste feststellen, dass es für die nächsten Jahre (!) keinen freien Termin mehr gab. Alternativ konnte man zwar über das E-Mail-Kontaktformular des Landesamtes die Bitte um einen Termin an das zuständige Referat schicken, nur musste man längere Zeit warten, bis eine Antwort kam, und in dieser Wartezeit die Ungewissheit aushalten. Es gab auch keine automatische Bestätigung der Terminanfragen, so dass den Betroffenen nur empfohlen werden konnte, eine Kopie ihrer jeweiligen E-Mail als pdf-Datei zu speichern und sie dann auszudrucken. Nur damit konnte man im Konfliktfall beweisen, dass man sich um die rechtzeitige Verlängerung des Aufenthaltstitels bemüht hatte. Alles dies setzte allerdings voraus, dass die Personen über die entsprechende technische Ausstattung verfügten.
Asylsuchende mit einer Aufenthaltsgestattung, Personen mit einer Duldung oder gar mit einer Grenzübertrittsbescheinigung konnten sogar die Online-Terminbuchung des Landesamtes gar nicht nutzen, sondern mussten das Formular zur Online-Registrierung ausfüllen. In vielen Fällen erhielt man erst nach mehreren Wochen per E-Mail die Einladung zu einem bestimmten Termin. Auch hier galt, dass der Eingang der Anfrage nicht automatisch bestätigt wurde, sondern nur das Abspeichern und Ausdrucken der eigenen E-Mail empfohlen werden konnte.
Gerade in den Fällen, in denen es um die Verlängerung eines bestehenden Aufenthaltstitels ging, stellte sich ein dringendes Zeit- und Nachweisproblem: Viele Termine zur Vorsprache bei der Ausländerbehörde lagen so spät, dass die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels inzwischen abgelaufen war. Damit waren die Arbeitsstellen vieler Betroffener akut gefährdet, denn ohne gültigen Aufenthaltstitel mit Arbeitserlaubnis darf ein Arbeitgeber einen Ausländer nicht beschäftigen, sonst macht er sich selbst strafbar. Nun bestimmt allerdings § 81 Absatz 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes, dass bei rechtzeitiger Stellung eines Verlängerungsantrages der Aufenthaltstitel und eine Beschäftigungserlaubnis als fortbestehend gelten („Fiktionswirkung“), bis die Ausländerbehörde über den Antrag entschieden hat. Dem Ausländer muss eigentlich eine entsprechende Bescheinigung („Fiktionsbescheinigung“) ausgestellt werden. Nur: Ohne Vorsprachetermin erhielt man auch diese Bescheinigung nicht. Man konnte also nur den Hinweis auf die Fiktionswirkung des rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrages, der sich auf der Webseite des Landesamtes befand, ausdrucken und hoffen, den eigenen Arbeitgeber damit zu überzeugen, dass die Beschäftigung bei ihm weiterhin legal war. Da sich längst nicht alle Arbeitgeber im Ausländerrecht auskennen, war dies oftmals sehr schwierig.
Hinzu kamen die Personen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, die technischen Probleme zu lösen, um rechtzeitig vor Ablauf des Aufenthaltstitels Verlängerungsanträge zu stellen. Bei solchen verspäteten Anträgen kann eigentlich nach § 81 Absatz 4 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes die Ausländerbehörde „zur Vermeidung einer unbilligen Härte“ anordnen, dass der Aufenthaltstitel und die damit verbundene Beschäftigungserlaubnis weiter gelten. Nur: Ohne Vorsprachetermin gab es keine solche Entscheidung. Die betroffenen Personen konnten somit nur hoffen, sowohl Arbeitgeber wie auch Polizei davon überzeugen zu können, dass auch bei einem verspäteten Antrag generell die „Fiktionswirkung“ griff.
Dieses ganze Chaos bei der Ausländerbehörde hat die betroffenen Menschen enorm unter Druck gesetzt und auch die Mitarbeitenden in den Beratungsstellen oftmals rat- und hilflos gemacht.
Faktische Verweigerung des Rechtsschutzes
Hinzu kam die eingeschränkte Zugänglichkeit etwa der Verwaltungsgerichte. Im März 2020 ordnete die Präsidentin des Verwaltungsgerichts Berlin, Erna Viktoria Xalter, die Pandemiestufe 1 an ihrem Gericht an. Das bedeutete unter anderem, dass die Rechtsantragsstelle für den Publikumsverkehr geschlossen war. Was sich sehr harmlos und technisch liest, konnte besonders für Asylsuchende plötzlich schwerwiegende Folgen haben:
Gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), mit dem ein Asylantrag abgelehnt wird, kann die betroffene Person Klage beim Verwaltungsgericht einlegen. In bestimmten Fällen muss sie gleichzeitig einen Antrag stellen, das Gericht möge die drohende Abschiebung untersagen, bis über die Klage entschieden worden ist (Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung). Für das Einlegen der Klage, für das Stellen des Antrags auf aufschiebende Wirkung und für die Begründung dieser Rechtsmittel hat das Asylgesetz sehr enge Fristen gesetzt. So muss der Antrag auf aufschiebende Wirkung innerhalb einer Woche ab Zugang des Bundesamtsbescheides nicht nur gestellt, sondern auch begründet worden sein. Wichtig ist hier, dass Klage, Antrag und Begründungen nicht nur rechtzeitig abgeschickt, sondern vor Fristablauf tatsächlich beim Verwaltungsgericht eingegangen sein müssen!
In den Fällen, in denen die Asylsuchenden bereits anwaltlich vertreten sind, ist dieses Fristenproblem mehr oder weniger die Sache des Anwalts. Viele Asylsuchende haben aber, wenn sie den Ablehnungsbescheid des BAMF erhalten, (noch) keinen anwaltlichen Beistand. Also müssen sie erst einmal, was auch gesetzlich zulässig ist, selbstständig Klage einlegen und erforderlichenfalls Anträge stellen. Gerade dann, wenn es zeitlich knapp wurde, hatten vor der Corona-Pandemie die betroffenen Personen zur Rechtsantragstelle gehen und dort einfach den Ablehnungsbescheid vorzeigen können. Die dort Mitarbeitenden waren schon so routiniert, dass sie sofort den richtigen Textbaustein für das formal korrekte Rechtsmittel heraussuchten und die Asylsuchenden die passenden Schriftsätze nur noch unterschrieben und später formlos die Begründungen nachlieferten.
Mit dem Schließen der Rechtsantragstelle für den Publikumsverkehr war diese Möglichkeit auf einmal versperrt. Asylsuchende ohne anwaltlichen Beistand mussten sich deshalb eine Beratungsstelle suchen, die überhaupt noch zugänglich war, mit deren Hilfe die Schriftsätze für die Rechtsmittel aufsetzen und manchmal sogar noch per Telefax an das Gericht schicken, damit die Fristen eingehalten werden konnten. Keine Statistik verrät, wie viele Ablehnungsbescheide des BAMF wegen solcher technischen Probleme nicht angefochten werden konnten und damit Asylverfahren negativ beendet worden sind.
Auch eine teilweise Öffnung der Rechtsantragstelle, wie sie Präsidentin Xalter für das Berliner Verwaltungsgericht im Mai 2020 anordnete, half in vielen Fällen kaum weiter. Denn nun musste für den Besuch der Rechtsantragstelle vorher telefonisch ein Termin vereinbart werden. Wer aber nicht ausreichend Deutsch konnte, um ein Telefonat mit Gerichtsbediensteten zu führen, blieb außen vor. In mindestens einem hier bekannten Fall sind die Schutzsuchenden genau an dieser Hürde gescheitert; Sie konnten sich nicht am Telefon mit den Beamten verständigen; als sie in ihrer Not trotzdem ohne Termin vor der Tür des Gerichts erschienen, wies der Sicherheitsdienst sie ab, weil sie keine Terminvereinbarung vorweisen konnten. Das sind klare Fälle faktischer Rechtsschutzverweigerung, die eigentlich im Geltungsbereich des Grundgesetzes (Artikel 19 Absatz 4) nicht hätten auftreten dürfen. Aber als Beratungsstellen davon erfuhren, war es schon zu spät.
Corona ist kein Grund
für ein Abschiebungsverbot
In der Hochzeit der Corona-Pandemie konnte man ein paradoxes Glück haben: Grenzschließungen und das Streichen von Flugverbindungen machten Abschiebungen so gut wie unmöglich. Einige Monate lang waren viele Abschiebungsgefängnisse vollkommen leer (in Klammern für diejenigen, die mehr Abschiebungen und mehr Abschiebungshaft fordern: Merkwürdigerweise ist Deutschland hierdurch nicht zusammengebrochen.) Inzwischen hat sich das wieder geändert: Wieder aufgenommene Flugverbindungen machen nicht nur Urlaubs-, sondern auch Abschiebungsflüge möglich. Und davon wird massiv Gebrauch gemacht.
Besonders schlimme Beispiele sind Abschiebungen nach Afghanistan. Das Land geht in diesen Wochen nicht nur durch eine neue Welle von Krieg und Gewalt, sondern verzeichnet auch neue Höchststände von Corona-Infektionen und Todesopfern. Dem gegenüber stehen bei geschätzten 37 Millionen Einwohnern ganze 968.000 Impfdosen zur Verfügung. Diese Entwicklung hat auch die medizinische und wirtschaftliche Lage der afghanischen Bevölkerung noch einmal verschärft. Inzwischen hungern dort vier von zehn Menschen. Trotzdem werden seit Dezember 2020 wieder regelmäßig Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Hiergegen haben die bayerischen Bischöfe eindrücklich protestiert. In einer Erklärung der Freisinger Bischofskonferenz vom 10. März 2021 heißt es unter anderem: „In Zeiten der Pandemie sind Abschiebungen unter humanitären Gesichtspunkten unverantwortlich. (…) Die Situation in Afghanistan ist sinnbildlich für den Zustand in anderen Entwicklungs- und Krisenländern dieser Welt. Es ist unverantwortlich, wenn diese Staaten durch die Abschiebung von Flüchtlingen noch weiter belastet werden. Außerdem ist in Zeiten von Grenzschließungen und -kontrollen wegen der Verbreitung von Mutanten unnötiger Personenverkehr zu unterlassen. Auch die abgeschobenen Menschen werden einer unverantwortbaren Infektionsgefahr ausgesetzt, auch die deutschen Sicherheitskräfte, die die abzuschiebende Person begleiten, bzw. im Fall der Afghanistanabschiebungen auch das gesamte Personal des Flugzeugs. Die bayerischen Bischöfe fordern die politisch Verantwortlichen aus diesen Gründen auf, Abschiebungen bis auf Weiteres auszusetzen.“ Leider haben diese und andere kritische Stimmen bislang kaum Gehör gefunden.
In Deutschland – wie in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - haben die Auswirkungen der Corona-Pandemie eklatante Fehlentwicklungen im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten deutlich gemacht. In die Diskussion über die Lehren aus der Pandemie sollte deshalb das Thema dringend einbezogen werden. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, eine große Gruppe von Menschen auf diese Weise weiterhin auszugrenzen und schutzlos zu stellen.