Kreidler-Kos, Martina / Kuster, Niklaus: Bruder Feuer und Schwester Licht. Franz und Klara von Assisi. Zwei Lebensgeschichten im Dialog.
Ostfildern: Patmos 2021. 376 S. Gb. 29,–.
Man mag beim ersten Blick auf das vorliegende Buch an Luise Rinsers „Bruder Feuer“ denken, das die bekannte Autorin vor einem halben Jahrhundert geschrieben hat. Tatsächlich sind beide in einem Punkt verwandt: Sie erzählen Geschichten. Während jedoch Rinsers Buch ein Roman ist, unternehmen Martina Kreidler-Kos und Niklaus Kuster den Versuch, sich gewissenhaft an die historischen Quellen zu halten und zugleich die Menschen von heute mitzunehmen, ihre Fragen zu stellen, ihre Hoffnungen und Ängste zu teilen und ihnen die Porträts als Spiegel vorzuhalten. Ihr Buch verbindet beides: Geschichte und Gegenwart, historische Sorgfalt und Aktualität.
Im Vorwort betonen sie, dass es ihnen darum geht, „die beiden Lebensgeschichten in einer historisch verlässlich und spirituell ermutigenden Zusammenschau“ zusammenzuführen. Der Kunstgriff, mit dem ihnen dies gelingt: Sie lassen verlässliche Zeuginnen und Zeugen der Geschichte sprechen. Der Cousin Klaras und langjährige Gefährte von Franziskus Rufino steht im Dialog mit Schwester Pacifica. Sie war eine nahe Freundin der Mutter Klaras und hat diese oft auf ihren zahlreichen Pilgerreisen begleitet. Später schloss sie sich der Gemeinschaft in San Damiano an und hat Klara in ihrer langen Krankheit gepflegt. So kannte sie auch die innere Biografie Klaras. Ebenso war Bruder Rufino, den Franziskus einen Mystiker nannte, mit dessen spirituellem Weg vertraut. Kreidler-Kos und Kuster lassen Schwester Pacifica und Bruder Rufino ihre fiktiven Erinnerungen erzählen, wobei sich ihre Geschichten getreu an den ursprünglichen Quellen orientieren. Der narrative Erzählfaden lässt uns heute das Geschehen von damals miterleben.
Das Experiment einer Doppelbiografie der zwei Heiligen, die bei aller Verbundenheit in Herkunft, Charakter und Entwicklung doch sehr eigenständig und verschieden sind, haben die Autorin und der Autor bereits in früheren Veröffentlichungen mit Erfolg gewagt. Im Einklang mit den Ergebnissen der modernen Franziskus- und Klaraforschung haben sie deutlich gemacht, dass sich die beiden Lebensgeschichten nicht voneinander trennen lassen. Was die beiden Heiligen verbindet, ist keine romantische Liebesgeschichte, wie es beispielsweise in einigen Filmen dargestellt wurde. Sie ist auch weit mehr als ein gemeinsames Projekt neuer Ordensgründungen. Die Beziehung zwischen Klara und Franziskus wird hier als eine einzigartige geschwisterliche Freundschaft gezeichnet, deren gemeinsamer Bezugspunkt die unbedingte Nachfolge Jesu darstellt. Nicht zuletzt die behutsame und respektvolle Sprache, mit der dieser Weg gezeichnet wird, lässt mit Gewinn nach diesem Buch greifen. Es gibt keine abgehobenen und verklärenden Heiligengeschichten, sondern Menschenschicksale, denen wir uns nahe fühlen.
Warum lohnt es sich, nach den vielen Biografien über die beiden Heiligen auch diese zu lesen? Sie macht aufgrund des Erzählfadens Lust, selbst einzusteigen in die Geschichte vom Franz und Klara und im Mitgehen die eigene Spur zu entdecken. Das Buch wird sich nicht zuletzt als Vorlesebuch in Seminaren, Gottesdiensten und auf Assisifahrten eigenen. Klara und Franziskus geben ein lebendiges Beispiel, wie das Miteinander zwischen Frauen und Männern in Kirche und Gesellschaft gehen kann: herrschaftsfrei und in gegenseitigem Respekt. Der Anteil von Kartenmaterial, Quellenangaben, einem Personenlexikon, Glossar und wissenschaftlichen Anmerkungen macht fast ein Drittel des Buches aus. Wer also in die Tiefe gehen will, hat hier eine reiche Fundgrube.
Helmut Schlegel ofm
Croitoru, Joseph: Al-Aqsa oder Tempelberg. Der ewige Kampf um Jerusalems heilige Stätten. München: C.H. Beck 2021. 365 S. Gb. 26,95.
Seit Jahrtausenden ist der Jerusalemer Tempelberg Brennpunkt religiöser und politischer Konflikte. Für Juden ist er der Ort des früheren Tempels und der Klagemauer, für Muslime mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee das drittwichtigste Heiligtum weltweit. Croitorus Buch will diese Geschichte im Überblick nachzeichnen. Dabei behandelt der Autor die lange Periode bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts mit gut 30 Buchseiten nur kursorisch, ab dieser Zeit wird die Geschichte jedoch sehr detailliert nacherzählt.
In der späten osmanischen Zeit lebten die drei großen Religionen in Jerusalem noch in relativer Toleranz zusammen. Mit dem Zionismus kam es zu Träumen des rein jüdischen Tempelbergs und teilweise auch der Wiedererrichtung des Tempels. Andererseits betraten die meisten Juden das Tempelareal nicht, weil man nicht genau wusste, wo der frühere Tempel stand – ihn zu betreten, war ja streng verboten. Die Klagemauer bekam eine immer größere Bedeutung als Wallfahrtsort, an dem die Trauer des Judentums über Jahrtausende der Diaspora und Verfolgung und über den verlorenen Tempel zum Ausdruck kam; sie wurde zum nationalen Symbol und zum Sehnsuchtsort. In der engen Gasse vor der Klagemauer kam es immer wieder zu Konflikten zwischen betenden Juden und der dort wohnenden muslimischen Bevölkerung.
Mit dem britischen Mandat ab 1917 erhofften sich viele Juden, dass sie in Jerusalem eine nationale Heimstätte bekämen. Die Klagemauer wurde zum Nationalsymbol auch der säkularen Juden. Über den Wiederaufbau des Tempels diskutierte man aber kontrovers. Doch auch als islamischer Kultort bekam der Tempelberg immer mehr Bedeutung – ab 1920 wurden daher die Spannungen massiver. Die weitere Geschichte ist die einer stetigen Eskalation. Ideologien und religiöser Fanatismus wurden dominanter, aber auch innerhalb der rivalisierenden Gruppen gab es massive Spannungen. Seit Jahrzehnten und bis heute wird heftig gestritten, ob es Juden erlaubt werde, auf dem Tempelplatz zu beten – ein Streit, der für europäisches Denken schwer verständlich ist. Unter jordanischer und unter israelischer Herrschaft (ab 1948 bzw. 1967) änderten sich die Verhältnisse jeweils grundlegend. Gewalttätige Attentate und Spannungen wurden mehr. In zwei Intifadas (ab 1987 und ab 2000) brach die Gewalt besonders stark aus und weitete sich auf ganz Jerusalem und Palästina aus. Heute scheint der Konflikt so verhärtet zu sein, dass ein friedliches Zusammenleben der Religionen weiter denn je entfernt zu sein scheint. Haben religiöser Fundamentalismus und Machtanspruch über den Willen zu Toleranz und Frieden endgültig die Vorherrschaft gewonnen – in dieser so herrlichen und heiligen Stadt?
Das Buch Croitorus liest sich auf weiten Strecken spannend wie ein Krimi, auch wenn es keineswegs Fiktion ist, sondern Realität beschreibt und entsprechend traurig macht. Dabei bleibt der Autor wohltuend sachlich und politisch ausgewogen – bei dieser heiklen Thematik keine geringe Leistung. Doch der Vorteil ist auch ein Nachteil: Neben den tausenden spannenden Einzelheiten vermisst man etwas die Reflexion, in politischer, kunsthistorischer, religionsgeschichtlicher oder gar theologischer Hinsicht. Was bedeutet religiös diese extreme Fixierung auf heilige Orte? Was daran ist heilsam, was unheilvoll? Wie könnten die Religionen mit ihren Ansprüchen Wege finden, in Toleranz und Frieden gemeinsam an Orten, die allen heilig sind, den einen Gott anzubeten? Das scheint alles so ausweglos…
Stefan Kiechle SJ
Schmid Heer, Esther / Klein, Nikolaus / Oberholzer, Paul (Hgg.): Transfer, Begegnung, Skandalon? Neue Perspektiven auf die Jesuitenmissionen in Spanisch-Amerika. Basel/Stuttgart: Schwabe/Kohlhammer 2019. 434 S. Gb. 64,–.
Das 1943 uraufgeführte und auch über das Fernsehen verbreitete Schauspiel „Das Heilige Experiment“ und der über vierzig Jahre danach gedrehte Film „The Mission“ haben mit dazu beigetragen, das Interesse an den jesuitischen „Reduktionen“ in einem heute zu Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gehörenden Gebiet Südamerikas wachzuhalten – und ebenso die Polemik über Charakteristiken, Folgen und Bewertungen dieses rund eineinhalb Jahrhunderte andauernden innovativen Missionsprojekts. Die Erinnerung an sein abruptes Ende vor 250 Jahren im Zusammenhang mit der Vertreibung der Jesuiten zuerst aus Brasilien und dann aus dem spanischen Herrschaftsbereich war 2017 der Anlass zu einem Kongress in Fribourg. Dabei sollte es darum gehen, auf der Grundlage verschiedener kulturwissenschaftlicher Zugänge neue Perspektiven auf dieses Missionsprojekt zu entwerfen.
Dieser Zielsetzung entsprechend bieten die 13 überarbeiteten und drei neu hinzugefügten Texte kein systematisches Bild der Reduktionen, ihrer Entstehung und Entwicklung oder der damit verbundenen interkulturellen, interreligiösen oder missionarischen Problematik. Die Abteilung „Einführung und Kontext“ bringt jedoch viele der bis heute kontrovers diskutierten Informationen und Auffassungen über die Reduktionen mit ihrer – vor einem halben Jahrtausend kaum hinterfragbaren – Verflechtung von Konsolidierungsstrategien kolonialer Machtausübung und christlicher Mission der angeblich vom Teufel beherrschten Amerikaner zur Sprache.
Was für die einen vor allem Zerstörung amerikanischer Lebensformen durch eurozentrische Aufoktroyierung soziokultureller Modelle bedeutet, ist für andere aus christlicher Ethik geborener Schutzmechanismus vor Ausbeutung, Versklavung und völligem Identitätsverlust. Wo die einen die Negativität von Paternalismus, zwangsweiser Einführung europäischer Technologien, Familienstrukturen und Spiritualität heben die anderen die Positivität der indianischen Selbstverwaltung, des Gemeinbesitzes und der Abwesenheit von Hunger und Not sowie die systematische Förderung künstlerischer Betätigungen, insbesondere der Musik, hervor. Umstritten bleibt weiterhin, inwiefern oder inwieweit es damals zu einem echten Kulturaustausch gekommen ist.
„Wissen und Wissenstransfer“ ist der zweite Teil überschrieben, in dem es um die Motivation der Jesuitenmissionare, ihre Forscherleistungen sowie um Missionsberichte und den Rückblick deutschsprachiger ehemaliger Missionare geht. Unter der Überschrift „Rezeption und Weiterentwicklung“ finden sich sowohl Fakten zu den unmittelbaren Folgen der Vertreibung der Jesuiten als auch Beispiele innovativer Bewahrung sozialer, ritueller und künstlerischer Aktivitäten. Die ersten drei Texte des abschließenden Teils „Tradierung und Neubildung“ suchen anhand spezifischer lokaler und nationaler Prozesse Nachwirkungen der Reduktionen in den Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig gewordenen südamerikanischen Ländern und in der Gegenwart auf.
Reichlich unvermittelt schließt der Band mit einem Aufsatz des langjährigen Mitarbeiters der „Stimmen der Zeit“, Nikolaus Klein SJ, über die Konsolidierung der zentralamerikanischen Jesuitenprovinz in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die grauenvollen Auswirkungen des Kalten Krieges, die fortschreitende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, die unerbittliche Diskriminierung der indigenen Völker und die vatikanischen Grabenkämpfe gegen die Theologie der Befreiung bildeten den damaligen Rahmen einer spezifisch lateinamerikanischen Ausformung des Christentums. Könnte dieses Schlusskapitel nicht zu einer durch die Untersuchung der Reduktionen interkulturell sensibilisierten Analyse der prinzipiell unabgeschlossenen „Übersetzung“ (Michael Sievernich SJ in diesem Band) des Evangeliums im heutigen Lateinamerika überleiten?
Die jahrzehntelangen Diskussionen über die Möglichkeit indigener Universitäten, die kürzlich heiß debattierte Amazonas-Synode (vgl. StdZ 2/2020) und die für November dieses Jahres von Papst Franziskus einberufene, jedoch anscheinend vom Episkopat nicht besonders enthusiastisch mitgetragene Erste Kirchliche Versammlung Lateinamerikas und der Karibik wären weitere aktuelle Ansatzpunkte dafür.
Stefan Krotz
Blaschke, Olaf / Großbölting, Thomas (Hgg.): Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main: Campus 2020. 540 S. Kt. 39,95.
Bereits vor über zehn Jahren haben Karl-Joseph Hummel und Michael Kißener konstatiert, dass das Dritte Reich zu den am besten erforschten Kapiteln kirchlicher Zeitgeschichte gehört. Trotzdem scheint das Interesse am Verhältnis der Kirchen zum Nationalsozialismus ungebrochen, auch wenn viele Publikationen vor allem mit Anklagen oder Verteidigungen verbunden sind. Die beiden mit dem Centrum für Religion und Moderne der Universität Münster verbundenen Historiker Olaf Blaschke und Thomas Großbölting haben einen weiteren, aus einer Tagung im Dezember 2018 hervorgegangenen Sammelband vorgelegt, der sich mit der Frage beschäftigt, was die Deutschen von 1933 bis 1945 glaubten. Schließlich fanden die Verbrechen des Nationalsozialismus in einer Zeit statt, in der Deutschland fast vollständig christianisiert war.
Vor diesem Hintergrund ist die Grundannahme des Bandes, dass zwangsläufig nicht alle Christen im Widerstand zum nationalsozialistischen Regime gestanden haben können, sondern dass eine große Zahl von Christen dem Nationalsozialismus verbunden war. So gehörten 1939 zwei Drittel der Mitglieder der NSDAP gleichzeitig auch einer christlichen Konfession an. Zudem stellt der Nationalsozialismus selbst eine „Politische Religion“ mit einem eigenen Heilsanspruch dar. Deshalb will das Buch nicht hinreichend dargelegte Fakten zum kirchlichen Widerstand, zur Position der Kirchenspitzen oder der Resilienz kirchlicher Milieus wiederholen, sondern dem „Wechselspiel“ von Religion und Nationalsozialismus in der Breite der Gesellschaft nachgehen. Oder um es noch zugespitzter zu formulieren: Es geht um die Frage, ob und inwieweit christlicher Glaube nicht nur dem Nationalsozialismus nicht entgegenstand, sondern wo der christliche Glaube sogar eine Nähe zum Nationalsozialismus hergestellt hat. In gewisser Hinsicht führt das Buch also die Überlegungen Ernst-Wolfgang Böckenfördes aus seinem Artikel „Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933“ im „Hochland“ 1961 fort.
Um die Gleichzeitigkeit des Glaubens an Gott und die Kirche sowie an den Führer und die Volksgemeinschaft herauszustellen, arbeiten die Autoren vor allem mit dem Begriff der „hybriden Gläubigkeit“. Viele Autoren haben zu den Themen ihrer Beiträge bereits Monografien verfasst. Doch die Befürchtung, im Buch werde nur in Kurzform zusammengetragen, was bereits ausführlich publiziert ist, geht fehl, weil alle Beiträge auf die Ausgangsthese des Buches hin zugespitzt sind. So ergibt sich ein facettenreiches Bild des Verhältnisses von christlichem Glauben und NS-Ideologie. Dass das Verhalten der Christen im Dritten Reich nicht einseitig von Widerstand und Resilienz oder andererseits von Kollaboration geprägt war, sondern ein komplexes Bild ergibt, ist zwar keine neue Erkenntnis. Trotzdem gelingt es dem Band, neue Perspektiven auf die Wechselwirkungen von Christentum und Nationalsozialismus zu werfen, die der Ausdifferenzierung des Gesamtbildes dient. Besonders interessant ist, dass es dem Buch am Ende sogar gelingt, trotz seiner eindeutigen historischen Fokussierung dennoch einen Bogen zum grundlegenden Verhältnis von Religion und Politik zu schlagen, so dass – ohne Gleichsetzungen und unpassende Vergleiche – sogar die Unterstützung evangelikaler Amerikaner für Donald Trump zur Sprache kommt.
Matthias Belafi
Sandgruber, Roman: Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde. Wien: Molden 2021. 303 S. Gb. 29,–.
Es gibt sie immer noch: Die kleinen und großen spektakulären Funde auf den Dachböden dieser Welt. Schriftverkehr und Dokumente von Hitlers Vater Alois Hitler veranlassten den inzwischen emeritierten Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Linz, Roman Sandgruber, zu dem vorliegenden Buch. Vor den Augen des Lesers entwickelt sich das Leben Alois Hitlers im Oberösterreich des 19.Jhs.: sein beruflicher Aufstieg vom Schuster zum Zollamts-Oberofffizial im gehobenen Dienst, seine Fähigkeit als Autodidakt, sein Wunsch nach einem – letztlich gescheiterten – Gutsherrendasein, mehrere Ehen, seine Kinder. Sandgruber führt in die politische Situation Oberösterreichs ein, in der auch die katholische Kirche im Habsburgerreich eine bedeutende Rolle spielte, aber ebenso antiklerikale, deutschnationale und fremdenfeindliche Strömungen.
Der Vater Alois war kein überzeugter Christ, ebenso wenig wie der Sohn. Beide waren keine Kirchgänger, zum Leidwesen der Frau und Mutter Klara. Doch hielten beide an der Form fest: Die Kinder wurden getauft, die Ehen – die letzte sogar mit römischer Dispens – kirchlich geschlossen. Sohn Adolf erhielt 1904 die Firmung. Und für diesen seinerseits stand eine würdige kirchliche Beerdigung von Vater und Mutter nicht infrage. Diesem Aspekt in Hitlers Leben widmet der Autor besonders im Kapitel „Hitlers österreichische Religion“ viel Aufmerksamkeit. Dort weist Sandgruber u.a. nach, wie sehr die kirchliche Sprache Einzug in die Reden des Ideologen und Politikers Hitler fand.
Die Auswertung der neuen Quellen führt in die finanziellen Verhältnisse der Familie Hitler ein, die z.T. sehr detailliert dargelegt werden. Die Aussagen der unterschiedlichen Zeitzeugen aus dem österreichischen Lebensumfeld der Familie Hitler werden in ihrer Glaubwürdigkeit differenziert herangezogen, die Diskussion mit anderen Historikern zu den bekannten Themen wie Nationalismus und Antisemitismus bei Adolf Hitler aufgenommen. Im Kapitel „Der Schatten des Vaters“ arbeitet Sandgruber heraus, welche Einstellungen der Sohn vom Vater übernahm: „Überheblichkeit, Beratungsresistenz und öffentlich zur Schau gestellte Verachtung von wissenschaftlicher Kompetenz und Betonung eigener Besserwisserei“ (232).
Sandgruber formuliert zu Beginn seines Buches, es gehe ihm mit seinem Werk um ein „besseres Verständnis der Entwicklung Adolf Hitlers, der Lebensgeschichte seines Vaters und auch des sozialen und ideologischen Milieus, in dem er sich bewegt hat“ (9). Das ist dem Autor mit diesem Werk, das eine wertvolle Ergänzung zu Hitler-Biografien wie der zweibändigen von Ian Kershaw darstellt, gelungen. Und wenn Richard J. Evans in seinem mehrbändigen Werk über das Dritte Reich bemängelt, dass wir nur wenig über die Kindheit, Jugend und Erziehung Hitlers wissen, so erweist sich „Hitlers Vater“ hierfür als ein wichtiger Beitrag.
Gundolf Kraemer SJ
Tschubais, Igor: Russische Geschichte. Neukonzeption ohne Mythen und blinde Flecken. Düren: Shaker Media 2020. 204 S. Kt. 13,90.
Igor Tschubais sitzt zwischen allen Stühlen – einerseits dem Stuhl der „Putrioten“ (eine Formel aus der Kombination „Putin“ und „Patrioten“), für die die gegenwärtige Staatsmacht und „Patriotismus“ mehr oder weniger dasselbe sind, und andererseits dem Stuhl der westlich orientierten „liberalen“ Russen, die in „antirussischer“ (177) Intention Patriotismus und Vaterlandsliebe verwerfen. Tschubais sucht nach einem Mittelweg. Dazu dient ihm einerseits eine Rekonstruktion der russischen Geschichte vor dem Zivilisationsbruch durch die Bolschewiki, die mit einer bolschewikischen Mythenbildung über die angeblich dunkle vorbolschewikische Vergangenheit Russlands (111-179) einherging. Zum anderen schaut er auf das „Rote Rad“ (der Begriff bezieht sich auf die zehnbändige, unvollendete Romanserie von Alexander Solschenizyn, in der dieser versuchte, die jüngere Geschichte Russlands zu dokumentieren) und teilt die Geschichte der Sowjetunion nach 1917 in vier Phasen ein:
Viermal gibt die Nomenklatura nach Phasen des Terrors gegen die Bevölkerung dem Gegendruck aus der Gesellschaft nach: 1. Neue ökonomische Politik (NEP) von 1921-1929, 2. die Hinwendung zu patriotischen Symbolen 1941-1946, 3. Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag 1953 als Folge der bis heute verschwiegenen Aufstände im GULAG, sowie 4. die Phase der Perestroika (1985-2000). Tschubais legt Wert auf die Feststellungen, dass alle vier Phasen des „Nachgebens“ nicht aus einem inneren Reformwillen in der Nomenklatura hervorgingen, sondern auf den Widerstand der unterdrückten Bevölkerung reagierten.
„Die orthodoxe Kirche und vor allem ihre Hierarchen begingen einen historischen Verrat, indem sie den Postbolschewismus unterstützten und es unterließen, das Sowjetsystem öffentlich zu verurteilen“ (161). Diese Erkenntnis ist umso bitterer, als die religiös-orthodoxe Dimension für Tschubais zum Kernbestandteil der „russischen Idee“ gehört, die nach der „Sammlung der Länder“ von 1325 bis 1880 am Anfang des 20. Jahrhunderts gerade dabei war, aus der Phase des quantitativen Zuwachses in eine Phase des qualitativen Wandels hin zu einer russisch geprägten Modernität umzuschlagen. Hier knüpft der Autor auch mit seiner Vision an (181-192), auch in Abgrenzung vom westlichen System: „Der Hauptunterschied“ (zum Westen) „liegt darin, dass in der traditionellen russischen Kultur die Moral über der Freiheit steht …“.
Igor Tschubais, geb. 1947, ist Historiker, Soziologe, und leitete lange Jahre das Zentrum für Russlandstudien der Russischen Universität der Völkerfreundschaft in Moskau. Während der Zeit der Perestroika war er einer der führenden Köpfe der demokratischen Opposition. Seine These, das postsowjetische Russland habe keine eigene Geschichte, ist der gut begründete Versuch, den Anspruch der Nomenklatura um Putin auf einen (aggressiven) Patriotismus zu bestreiten. Seine für das Verständnis des heutigen Russlands wichtige Rekonstruktion der Russischen Geschichte liegt dankenswerterweise nun in einer guten Übersetzung von Dietrich Kegler vor.
Klaus Mertes SJ