Gruber, Franz / Knapp, Markus (Hgg.): Wissen und Glauben. Theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“.
Freiburg: Herder 2021. 256 S. Gb. 32,–.
Der vorliegende Band sammelt Reaktionen auf Habermas‘ Spätwerk, das auch in dieser Zeitschrift bereits eine Reaktion hervorrief (vgl. Nordhofen in StdZ 11/2020). Die Beiträge stammen ausschließlich aus dem Raum katholischer Theologie. Das mag verwundern, ist aber auch Zeichen dafür, dass Habermas schon seit langer Zeit vornehmlich dort rezipiert und diskutiert wird.
Spätestens seit seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 ist bekannt, dass Habermas mit der Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen nicht fertig ist. Er sorgt sich um die „entgleisende Säkularisierung“. Einerseits habe die Moderne den Transzendenzbezug gekappt, andererseits verdanke sie der Herkunft aus religiösen Quellen wesentliche Errungenschaften. Die völlige Trennung von Glauben und Wissen wäre für die Moderne ein Verlust, sofern sie damit auch das Verhältnis zu ihrem geschichtlichen Ursprung verlöre. Habermas, der sich bekanntlich selbst als „religiös unmusikalisch“ beschreibt, möchte nicht „taub“ (230) werden.
Umgekehrt lehnen die Herausgeber sowie die Autorinnen und Autoren zu Recht einen Fideismus ab, der sich vom philosophischen Erkenntnisanspruch verabschiedet. „Die Frage der Selbstverständigung des Menschen im Weltzusammenhang verbindet … die Philosophie mit der Religion.“ (17) Diesem Anspruch stellen sich die Beiträge: Hans Joachim Höhn etwa greift Habermas‘ These auf, dass sich insbesondere in der Liturgie nachmetaphysisches Denken und religiöses Bewusstsein berühren (105-123). Magnus Striet setzt sich kritisch, vermittelt über Kierkegaard, mit Habermas‘ Versuch auseinander, die Lutherische Gnadenlehre (die die augustinische Erbsündenlehre voraussetzt) mit Kants Autonomie-Konzeption in Einklang zu bringen (206-223). Matthias Lutz-Bachmann untersucht Kants Projekt, einen Hoffnungshorizont für die praktische Vernunft zu entwerfen. Im Zentrum dieses besonders gewichtigen Beitrages (145-205) steht Kants Begriffs des „ethischen Gemeinwesens“ als Gegenstand einer auf Vernunft basierten Hoffnung. Im Unterschied zu Habermas, der hier den Versuch Kants wittert, metaphysisch-theologische Überlieferungen in das nachmetaphysische Denken einzuschleusen, stellt Lutz-Bachmann Kants Hoffnungsprojekt in den weiteren Horizont seiner späten Moralphilosophie, das Projekt, „eine Perspektive auch von materialen Zielen sittlichen Handelns ethisch nachzuverfolgen, die zugleich universal in der Vernunft begründet sind“ (191).
Philosophie und Theologie haben einander auch in Zeiten nachmetaphysischen Denkens viel zu sagen. Das im Einzelnen verkosten zu dürfen ist der Gewinn aus der Lektüre des Bandes. Es lohnt sich deswegen, um dies im Einzelnen mit nachzuvollziehen, die Mühe der Lektüre der anspruchsvollen Beiträge.
Klaus Mertes SJ
Marion, Jean-Luc: Die Stringenz der Dinge. Gespräche mit Dan Arbib. Aus dem Frz. von Ulli Roth. Mit Alwin Letzkus.
Freiburg: Karl Alber 2020. 222 S. Gb. 29,–.
Das „Unvorhersehbare“, das durch keine vorab fixierten Möglichkeitsbedingungen eingegrenzt wurde, zieht sich durch das Werk des langjährigen Direktors des Zentrums für cartesianische Studien an der Sorbonne, der als Nachfolger Ricœurs in Chicago lehrte und 2008 Kardinal Jean-Marie Lustigers Nachfolger in der Academie Française wurde. Das Unvorhersehbare verbindet Marions philosophischen Ansatz, der aus dem Begriff der „Gegebenheit“ eine Neugründung der Phänomenologie unternimmt, mit seinem theologischen Interesse, in dem er sich den offenbarungstheologischen Ansätzen von Hans Urs von Balthasar oder auch Karl Barth verpflichtet weiß.
Dem Denken wie dem Leben nähert sich das Buch in Form eines Interviews. Dan Arbib, Student Marions und nun Philosophieprofessor an der Ecole Nationale Supérieure, ist in diesem Gespräch weitaus mehr als nur ein Stichwortgeber. Bei aller sprachlichen Kraft Marions mäandert das Interview keineswegs, sondern erörtert zentrale Anliegen: Den Kern des Buches bilden die Kap. 2-4, in denen die drei Lebensadern von Marions Werk nachgezeichnet werden: Zunächst die Descartes-Studien, in denen Marion zeigen will, „wie es einen cartesianischen Moment der Metaphysik gegeben hat“ (79). Sodann die Ausarbeitung einer eigenständigen Position innerhalb der phänomenologischen Tradition, in der Marion Husserls Begrenzung auf den Horizont des Objektes und Heideggers Begrenzung auf den Horizont des Seins zugunsten einer Philosophie der Gabe überschreitet. Schließlich seine durch theologische Themen und Gegenstände inspirierte Überlegungen, die mit Marions Engagement für die Zeitschriften „Résurrection“ und „Communio“ sowie mit seiner Lektüre der Kirchenväter verbunden sind: „Marion hat seinen Talmud, das sind die Kirchenväter“ (zit. E. Levinas, 60).
Das biografische Kap. 1 kartografiert das intellektuelle Milieu der französischen Heidegger-Rezeption um Marions Lehrer Jean Beaufret und Ferdinand Alquié. So erhält man Auskunft über die gesellschaftlichen Kontexte ab den 1960er-Jahren, deren spezifische Ausrichtung Marions lakonische Bemerkung deutlich macht: „Ich habe das Jahr 1968 damit verbracht, Sein und Zeit zu lesen und morgens Aristoteles durchzuarbeiten. Der Abend war politischer“ (24).
Marions Haltung einer traditionsorientierten und zugleich kulturoffenen katholischen Intellektualität wird im Schlusskapitel weiter profiliert. Scharf kritisiert er die laizistische Verdrängung der Religion in die Irrationalität, der gegenüber er eine Integration der Religion in das republikanische Ideal fordert (187) und sich selbst in der Tradition eines katholischen Republikanismus (31) sieht. Umgekehrt wünscht er zweifellos keinen republikanischen Katholizismus, sondern teilt Lustigers Skepsis gegenüber der universitären Theologie und kirchlichen Bewegungen mit politischem Engagement. Im 5. Kap. reflektiert Marion seinen Zugang zur Philosophiegeschichte und die Nähe von Philosophie und Ästhetik, spezifisch zur Malerei und Literatur: „In beiden Bereichen lässt man sehen“ (17).
Marion tritt, anders als es die aktuelle Kanonkritik will, für eine lebenslange intensive Auseinandersetzung mit den philosophischen Klassikern ein: „Wenn man […] keine Fähigkeit zum Bewundern hat, bleibt man verschlossen und empfängt nichts“ (29). Zugleich verfolgt er unbeirrt seinen eigenständigen Ansatz einer Phänomenologie der Gegebenheit und sucht in dieser Linie nicht zuletzt eine Alternative zum autonomen Subjekt. Höchst anregend treten dabei immer deutlicher die Konturen einer Subjektivität des Sich-Aussetzens, der Verfügbarkeit und der Empfänglichkeit zutage, in der sich Aktivität und Passivität verschränken.
Tobias Specker SJ
Byung-Chul Han: Palliativgesellschaft. Schmerz heute.
Berlin: Matthes & Seitz 2020. 87 S. Kt. 10,–.
Das neue Buch von Byung-Chul Han zu lesen ist ein Genuss. Immer wieder stößt man auf Aphorismen, an denen man gerne stecken bleibt, sei es um ihnen zuzustimmen, sei es, um emphatisch zu widersprechen. „Der Schmerz ist der Riss, durch den das ganz Andere Einzug hält“ (13). „Der Schmerz der Nähe der Ferne ist der digitalen Ordnung fremd“ (64) – da am Computer nur das jederzeit Verfügbare abstandslos konsumiert wird; Unverfügbarkeit wird nur noch dann erlebt, wenn die Internetverbindung fehlt.
Proust, Nietzsche oder Schubert werden von dem in Berlin lebenden Kulturphilosophen als Gewährsleute zitiert: Erst gegen den Schmerz sei Kunst möglich. Mit Hegel ist für Han der Schmerz der Motor der dialektischen Bildung des Geistes, im Widerstand gegen den Schmerz werde Verwandlung möglich. Durch den gesellschaftlichen Zwang zu positivem Denken und Selbstoptimierung, meint Han, seien Glück und Freiheit perfide ausgehebelt und der Schmerz entpolitisiert worden. Zugleich gehe mit dem Schmerz auch Wahrheit verloren. „Alles was wahr ist, ist schmerzlich.“ Die „Palliativgesellschaft“, in der das Leben dem behaglichen Überleben weicht, sei eine „Gesellschaft ohne Wahrheit, eine Hölle des Gleichen“ (43), denn ohne Schmerz sei keine Wertschätzung möglich; eine solche Welt bringe das Unvergleichbare zum Verschwinden.
Doch der Hymnus auf das Ungefällige kommt allzu gefällig daher. Das zeigt sich, wo Han die Skepsis gegenüber der Corona-Politik in Rundumschläge fasst: „Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt ‚Homeoffice‘. Nur die Ideologie der Gesundheit und die paradoxe Freiheit der Selbstausbeutung unterscheiden es vom Arbeitslager des despotischen Regimes“ (24). So viel Richtiges, Nachdenkenswertes in diesem Büchlein. Aber das Wörtchen „nur“ in dem obigen Zitat ist empörend im Blick auf reale Arbeitslager und realen Schmerz. Am Ende, raunt Han, werde durch die Pandemiepolitik „global ein biopolitisches Überwachungsregime“ durchgesetzt (79). Das zeigt leider, dass dieser so überaus anregende Denker immer wieder die Kritik meidet; da vermag er dann nur zu pauschalisieren statt zu unterscheiden. Da hat sich jemand zu sehr vom Pathos bei Ernst Jünger, Martin Heidegger oder Carl Schmitt berauschen lassen. Schade.
Der Pfeil, der in der Vision der Hl. Teresa von Avila in einem mystisch-erotischen Schmerz das Herz durchbohrt, wird von Han zu Recht als ein zentrales christliches Narrativ herausgestellt. Das Christentum macht den Schmerz sagbar – und kann damit verhindern, dass er das Leben blockiert. Wenn der Schmerz keinen Sinn mehr haben darf, sei das Leben nur noch biologischer Prozess, sinnentleert. Die akuten Schmerzen seien in der „Palliativgesellschaft“ den chronischen gewichen. Hier setzt Han mit der Kritik des neoliberalen Kapitalismus an: „Der Knecht nimmt dem Herrn die Peitsche aus der Hand und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, ja frei zu sein. Das Leistungssubjekt führt Krieg mit sich selbst“ (40).
Viel zu selten ist bei dem Autor der Schmerz konkret. Der Covid-Virus-Test am Flughafen empört ihn. Der Schmerz, den Menschen einander in Krieg, Erniedrigung und Gewalt zufügen, kommt nicht vor. Es ist ihm erst ganz am Ende eine Reflexion wert, was die Fähigkeit des Menschen bedeutet, vom eigenen Schmerz abzusehen und sich vom Schmerz des Anderen berufen zu lassen. Da bezieht Byung-Chul Han Emmanuel Levinas in seine Überlegungen ein. Das tut diesem Büchlein eindeutig gut.
Martin Löwenstein SJ
Sahm, Stephan: An der Seite des Lebens. Ethische Herausforderungen in Palliativmedizin und -pflege (Franziskanische Akzente 29).
Würzburg: Echter 2021. 112 S. Gb. 9,90.
Klärungen zur Palliativmedizin sind dringlich, auch da sachgerechtes Handeln am Lebensende, besonders das Problem der Hilfe bei Selbsttötung, fachspezifisch wie gesellschaftlich neue Aufmerksamkeit finden; dies nicht zuletzt wegen der in Deutschland derzeit offenen Rechtsregelung geschäftsmäßiger Hilfe beim Suizid, ebenso wegen der Kontroverse über Akzeptanz von Suizidbeihilfe in kirchlich getragenen Einrichtungen. Stephan Sahm, Arzt und ausgewiesener Bioethiker, nimmt diesen vielgestaltigen Diskurs auf. Er bereichert ihn um Einsichten aus anderen Ländern und weitet den Blick auf grundsätzliche Aspekte, die zugleich das Erfordernis erneuter Vergewisserung verdeutlichen. Diese betrifft etwa Einstellungen zum (selbstbestimmten) Sterben, Veränderungen der (Selbst-)Wahrnehmung medizinischer Professionen, Möglichkeiten und Grenzen differenzierter medizinischer Behandlung, besonders auch Klärungen zu Sterbebegleitung, aktiver Sterbehilfe und Suizidassistenz, aber ebenso die Bestimmung von Zielen und Grenzen der Human-Medizin sowie verdeckte Motive bestimmter medizin-ethischer Positionierungen.
Inhaltliche Auswahl und Akzentuierung spiegeln die Überzeugung des Verfassers, wonach moralisch relevante Urteilsbildung die Kenntnis von Sachverhalten, Argumenten und Gründen voraussetzt: So geht es um die Art und präzise Begriffe von Handlungen am Lebensende, um Grenzen der Indikation und Begrenzungen der Therapie oder Änderung ihres Ziels, sodann um Anliegen und Praxis der Palliativmedizin und „palliativer Kultur“. Teilweise kontrastierend hierzu werden aktive Sterbehilfe auf Verlangen und Suizidhilfe sowie Umgang mit suizidalen Sterbewünschen aufgenommen. Es schließen sich Darlegungen zu konkreten palliativmedizinischen Handlungsbereichen an (palliative Sedierung, Ernährungspflicht und -verzicht), sowie zu Aspekten der Selbstbestimmung am Lebensende. Abschließend finden sich Hinweise zu rechtlichen Regelungen der Suizidassistenz, vor allem aber grundlegende Erwägungen zu motivationalen Quellen von Ethik und sittlichem Handeln, eigens auch zu (christlich gegründeter) Barmherzigkeit und Solidarität.
Ethische Herausforderungen und breite Erfahrung aus ärztlicher Praxis verknüpfend, plädiert der Autor nachdrücklich für umfassende „Sterbebegleitung statt Sterbehilfe“, orientiert an der Würde und Achtung des Lebens und am Axiom prinzipieller Präferenz seiner Existenz. Hierzu trägt er empirisch unterlegte wie ethisch und anthropologisch reflektierte Argumente bei und setzt sich kritisch mit anderen Positionen auseinander.
Sofern in diesen Buch mit gewichtigen Gründen die ethischen Herausforderungen am Lebensende als lebens-wichtig für alle „sterblichen Menschen“ verdeutlicht werden, wirkt es nur konsequent, dass es sich an einen breiten Leserkreis und besonders an all jene wendet, „die Menschen am Lebensende begleiten“. Auch wenn ausdrücklich kein Lehrbuch angezielt ist, gelingt es doch, gewissermaßen beiläufig unverzichtbare Kernelemente sachgerechter Entscheidungsfindung und damit verantwortlichen Handelns überhaupt instruktiv zu verdeutlichen.
Alois J. Buch