Rutilio GrandeMärtyrer der Landpastoral in El Salvador

Am 22. Januar werden Rutilio Grande SJ und seine Begleiter Manuel Solorzano und Nelson Lemus zusammen mit dem Franziskaner Cosme Spessotto OFM in San Salvador seliggesprochen. Grande starb 1977 im Kugelhagel einer Organisation der Großgrundbesitzer von Aguilares, da er sich politisch für die Armen und Landarbeiter ein-gesetzt hatte. Rutilio Grandes Biograf Rodolfo Cardenal SJ zeichnet das Wirken des Märtyrers nach und betont die Bedeutung seines Einsatzes auch für das spätere Wirken Óscar Romeros im Kontext der entstehenden Befreiungstheologie und der „Option für die Armen“. Aus dem Spanischen übersetzt von Martin Maier SJ.

Ich möchte mit einer persönlichen Anekdote beginnen. Als ich im römischen Archiv der Gesellschaft Jesu im Oktober 2015 eine Dokumentation zu Rutilio Grande zusammenstellte, lud mich der Erzbischof von San Salvador, José Luis Escobar Alas, ein, zusammen mit einer Delegation aus El Salvador Papst Franziskus für die Seligsprechung von Erzbischof Óscar Romero zu danken. Während der Audienz saß ich in der ersten Reihe und hatte so die Gelegenheit, den Papst zu grüßen. Als ich vor ihm stand, stellte ich mich als Autor von zwei Biografien über Rutilio Grande vor – die eine kurz, die andere lang – und als Vorsitzender der Kommission der Periti seines Heiligsprechungsverfahrens. Er sagte, dass er die erste kenne. Dann blickte er mich an und fragte, ob es schon ein Wunder gäbe. Ich antwortete mit nein. Dann sagte er mit einem breiten Lächeln, dass es schon ein Wunder gäbe: „Das große Wunder von Rutilio Grande ist Monsignore Romero.“

Mons. Romero kann nicht ohne Rutilio Grande verstanden werden. Rutilios Dienst als Priester nahm ein gewaltsames Ende im März 1977, kurz nachdem Mons. Romero seinen Dienst als Erzbischof im Februar 1977 begonnen hatte. Außer dem Martyrium verbinden sie auf überraschende Weite verschiedene biografische Ähnlichkeiten: Beide stammen aus armen Familien aus dem ländlichen Gebiet El Salvadors. Beide wurden in kleinen Dörfern geboren. Mons. Romero kam im Osten des Landes 1917 auf die Welt, während Rutilio in einem kleinen Dorf im Zentrum des Landes mit Namen El Paisnal 1928 in einer zerrütteten Familie geboren wurde. Beide traten sehr jung in das kleine Seminar ein: Rutilio in das von San Salvador und Mons. Romero in das der Diözese von San Miguel. Im Unterschied zu Mons. Romero ging Rutilio nach dem Abschluss des kleinen Seminars seinen Weg nicht im Diözesanklerus weiter, sondern er trat 1945 in die Gesellschaft Jesu ein.

Mons. Romero und Rutilio Grande machten intensive Erfahrungen menschlicher Schwäche, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Rutilio erlitt zwei schwere Nervenzusammenbrüche, die wahrscheinlich mit einer in seiner Kindheit erlittenen traumatischen Erfahrung zusammenhingen. Die Folgen dieser Zusammenbrüche verschlimmerten sich mit dem Zuckerleiden in seinen letzten Lebensjahren. Nach dem ersten und schlimmeren Zusammenbruch war er seit 1950 gesundheitlich geschwächt und deswegen in seiner Fähigkeit zum Studium und zum Apostolat eingeschränkt. Eine Folge war auch sein Perfektionismus und sein Bemühen, mit allen gut zu stehen. Dieses Bestreben hatte zur Folge, dass er seine Meinung leicht änderte, einen Genauigkeitsfimmel hatte, übertriebenen Wert auf das Äußere legte und Angst davor hatte, sich lächerlich zu machen. Diese Neigungen führten zu Unsicherheit und Ängstlichkeit. In Krisenzeiten ging es um alles oder nichts. In diesen Phasen isolierte sich Rutilio von seiner Umgebung, blieb schweigsam, wurde gleichgültig, ernst und müde. Oft ging er durch Dunkelheit und Nichtwissen; er litt darunter, und dies führte ihn zu einer intensiven Bitte: die Annahme seiner selbst, so wie er war, „mit seinen Grenzen und allem“1. Wiederholt stellte er seine Berufung zum Priestertum infrage, das er doch so sehr liebte. Nach seinem eigenen Bekenntnis legte er sich in den Krisenzeiten in die Hände Gottes.

Sowohl Mons. Romero als auch Rutilio studierten im Ausland, aber an unterschiedlichen Orten. Mons. Romero in Rom und Rutilio in Venezuela, Ecuador, Spanien, Frankreich und Belgien. Trotz der Reisen, der Studien und ihres Standes als Kleriker waren sie sich ihrer einfachen Wurzeln bewusst und stolz darauf. Rutilio hatte immer den Wunsch, in das Dorf zurückzukehren, von dem aus er ins Seminar eingetreten war. Als er endlich schon als Priester nach El Paisnal zurückkehren konnte, musste er die alten Frauen, die ihn mit Respekt und Ehrfurcht behandelten, überzeugen, dass er derselbe wie immer geblieben sei. Auch Mons. Romero entfernte sich nie von seinen einfachen Wurzeln. Als Pfarrer der Kathedrale von San Miguel zeigte er ungewöhnliches Mitleid mit den Armen, den Alkoholikern und den Kranken, die in der Umgebung der Kirche umherstreunten. Später stellte er sich als Bischof in den Dienst dieser von der Armut und der Unterdrückung der Militärdiktatur geschlagenen Menschen.

Priesterausbildung im Geist
des Zweiten Vatikanums

Seit 1951 war Rutilio in der Ausbildung des salvadorianischen Klerus im landesweiten Seminar tätig. Die Mehrheit der Seminaristen stammten so wie er aus einfachen Verhältnissen. Seine Oberen schickten ihn ins Seminar, weil sie in ihm einen fleißigen und verantwortungsvollen Jesuiten fanden, der ein gutes Urteil und große pädagogische Fähigkeiten hatte. Bis 1971 war er der „Pater Präfekt des Seminars“, eine an sich verhasste Aufgabe, weil er für die Disziplin verantwortlich war. Aber er verstand es, Strenge mit Verständnis zu verbinden. Er wollte keine unterwürfigen, sondern verantwortliche und reife Seminaristen. Er wies sie streng zurecht, aber er schützte sie auch vor der Willkür der Bischöfe und des Rektors. Später suchten viele Priester bei ihm Rat. So entstand eine enge, starke und vertrauensvolle Verbindung mit dem Diözesanklerus. Am Ende seines Lebens kamen ihm Zweifel, ob er nicht doch zum Diözesanklerus berufen war. Rutilio war auch Professor für Katechese und Pastoraltheologie. Aber am meisten gefiel ihm der Kurs der Bürgerkunde, der es ihm erlaubte, den Seminaristen die bürgerlichen Rechte des salvadorianischen Volks zu erklären.

Rutilios Anliegen war es, Priester auszubilden, die im Dienst des Volkes standen, und keine klerikalen Häuptlinge. Deswegen kämpfte er für eine Öffnung des Seminars gegenüber der salvadorianischen Wirklichkeit. Die Seminaristen mussten das Seminar verlassen, und die Wirklichkeit musste Eingang in seine Hörsäle und Gänge finden. In den Ferien organisierte er Volksmissionen mit den älteren Seminaristen. Sie sollten dabei nicht nur predigen, sondern das Volk entdecken, dem sie entstammten und in dessen Dienst sie gerufen waren. Rutilio selbst widmete sich mit ihrer Hilfe pastoral an den Wochenenden El Paisnal, deren Einwohnern er nach seinen eigenen Worten „den Rosenkranz wegnahm und durch die Lektüre von Bibelstellen mit Kommentaren ersetzte“2.

Ebenso versuchte er im Seminar den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und dessen lateinamerikanische Übertragung in der Bischofsversammlung von Medellín 1968 einzuführen. Er war einer der Priester, die sich am meisten dafür einsetzten, dass die salvadorianische Kirche beide Texte des Lehramts aufnahm. Die Rezeption führte zu einer schweren kirchlichen Krise, die viele verschreckte. Die Mehrheit der Bischöfe akzeptierten weder das Konzil noch Medellín, da sie beides für radikal und extrem hielten. Rutilio hingegen interpretierte die Krise als eine Chance, „da es höchste Zeit war, aufzuwachen gegenüber der schmerzlichen Wirklichkeit“ der Ausbeutung, Unterdrückung und Säkularisierung. Die Stunde war gekommen, um „die Klagemauer aufzubrechen“ und „sich anzuschicken, das Drama des Glaubens als eine Geschichte der Befreiung zu leben“. Für den Klerus war es keine Schande, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, denn „für die Bösen ist die Krise die Angst der Sünde“ und „für die Guten ist die Krise die befreiende Angst des Kreuzes“3.

Die Treue zum Lehramt des Konzils und der lateinamerikanischen Bischöfe brachte für Rutilio hohe Kosten mit sich. Sie verhinderte seine geplante Studien- und Lebensreform im Seminar und auch seine Ernennung zum Rektor, die von der Gesellschaft Jesu im Jahr 1970 vorgeschlagen wurde. Da er das Vertrauen der Bischöfe nicht mehr genoss, entschied Rutilio daraufhin, das Seminar zu verlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem traditionellen Jesuitenkolleg und einer intensiven pastoralen Erfahrung in Ecuador im Herbst 1972 landete er in
der Pfarrei von Aguilares, zu deren Gebiet auch sein Geburtsort gehörte. Dort widmete er seine letzten vier Lebensjahre der Verkündigung des Evangeliums und der Gerechtigkeit des Reiches Gottes unter den Bauern.

Strukturelle Ungerechtigkeit und Gewalt

Rutilio und Mons. Romero verkündeten das Reich Gottes und setzten wirksame Zeichen seiner Gegenwart in einer Realität, die geprägt war von wirtschaftlicher Ausbeutung, sozialer Unterdrückung und staatlicher Repression. Deswegen prangerten sie die Ungerechtigkeit an, die das salvadorianische Volk unterdrückte, und verkündeten ihm seine Befreiung. Rutilio tat dies von einer Landpfarrei aus, Mons. Romero vom Stuhl des Bischofs. Beiden war die Gabe der prophetischen Predigt eigen. Die Sprache von Rutilio war volkstümlicher als die von Mons. Romero. Er verwendete Ausdrücke aus der Welt der Bauern und des einfachen Volks und war ein Meister der bildhaften Sprache. Mit dem Bild der bei Feuerwerken verwendeten Rakete, die in die Wolken steigt, mit viel Lärm explodiert und dann wieder zu Boden fällt, erklärte er die Notwendigkeit, das Evangelium nachhaltig zu leben. Kurz zusammengefasst lautete seine Botschaft: „Gott liegt nicht in den Wolken in einer Hängematte, Gott handelt und will, dass ihr das Reich hier auf der Erde aufbaut.“4 Die Sprache von Mons. Romero war dagegen stärker ausgearbeitet, aber deswegen nicht weniger volkstümlich. Beide sind beispielhafte Kommunikatoren.

Beide riefen die Verantwortlichen für Ungerechtigkeit und Gewalt zur Bekehrung auf. Niemals sprachen sie sich für Gewalt als Lösung aus, sondern versuchten, sie ganz im Gegenteil zu vermeiden. Sie kämpften gegen die repressive Gewalt, die schnell tötet, um die Forderung nach Gerechtigkeit zum Verstummen zu bringen, und gegen die strukturelle Gewalt, die nach und nach durch Arbeitslosigkeit, Hunger und Krankheit tötet. Rutilio prangerte die Existenz „von habgierigen Menschen an, die Gott nicht fürchten ... die am Morgen aufstehen und sich bekreuzigen im Namen des Kaffees, im Namen des Kaffees, im Namen des Kaffees. Im Namen des Zuckerrohrs, im Namen des Zuckerrohrs, und im Namen des Zuckerrohrs, ich habe es schon oft gesagt, aber man kann es nicht oft genug sagen.“

Das sind die Kaine, Missgeburten im Plan Gottes, die behaupten „ich habe die Hälfte El Salvadors mit meinem Geld gekauft, und deshalb habe ich recht... Es ist ein gekauftes Recht... Es ist eine Leugnung Gottes! ... Es gibt kein Recht, das gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichtet ist! Die materielle Welt ist für alle da und unbegrenzt.“5

Die Stile waren unterschiedlich, doch die Worte von Rutilio und Mons. Romero waren scharf und treffend. Die Armen nahmen sie offen und fröhlich auf, da sie ihnen Hoffnung gaben. Doch die Mächtigen beschimpften sie als Kommunisten und ermordeten sie schlussendlich, um ihre Stimmen zum Schweigen zu bringen. Beide wurden sie auf Betreiben der Oligarchie ermordet. Die von der Armee gesteuerten Todesschwadronen führten die Morde aus. Die Mörder hatten der Wahrheit ihrer Worte und der Kraft ihrer Glaubwürdigkeit nichts entgegenzusetzen.

Kirche von unten

Rutilio und Mons. Romero arbeiteten im Geist des Zweiten Vatikanums, der Bischofsversammlung von Medellín und der Enzyklika Evangelii nuntiandi von Papst Paul VI. am Aufbau einer Kirche, die der Definition des Konzils entsprechend wirklich Volk Gottes war. Der erste Schritt war, das Volk zusammenzuführen, denn ohne Volk gibt es kein Volk Gottes. Die salvadorianische Bevölkerung war kein Volk. Die Unterdrückung hatte sie unterjocht und der Egoismus hielt sie gespalten und zerstreut. Das führte dazu, dass sich keiner der beiden von den geschichtlichen Kämpfen für Gerechtigkeit und Freiheit fernhielt. Die Kirche musste von unten aufgebaut werden. Deswegen bestand die Arbeit beider darin, das Volk zusammenzuführen, es zur Bekehrung aufzurufen, es Gott zuzuwenden, und ihm den Weg zu zeigen, zum Volk Gottes zu werden.      

In Aguilares begannen Rutilio und sein missionarisches Team, eine Kirche aufzubauen, die aus lebendigen Gemeinden zusammengesetzt war. Der Ausgangspunkt seiner Arbeit im Team war die pfarreiliche Wirklichkeit, mit der sie in einem fortwährenden Dialog standen. Dadurch ließen sie sich infrage stellen, unter Druck setzen und zur Bekehrung aufrufen. Rutilio selbst verspürte den Ruf, „mich täglich zum Volk zu bekehren und ihm meine wirksame Liebe in Taten und nicht nur in Worten zu zeigen, wenn ich wirklich sein will, was ich vorgebe: Diener von allen.“6 Der Pastoralplan für die Pfarrei bestand in drei Etappen: die Missionen, um das Fundament der Gemeinde zu legen, die Förderung und Ausbildung von Laien zu pastoralen Leitern, die Inkarnation der Werte des Evangeliums in die Wirklichkeit durch die Vermittlungen. Rutilio machte sich keine Illusionen über die Wirksamkeit seiner Arbeit. Bis zum Ende seines Lebens war er sich bewusst, dass die Mehrheit der Einwohner der Pfarrei weiterhin den magischen Ritualen anhingen, die entfernt von der geschichtlichen Wirklichkeit waren.

Die erste Aufgabe des Missionsteams bestand in der Evangelisierung der Volksfrömmigkeit. Die Missionare nahmen sich vor, die magische Sakramentenpastoral durch die dynamische Kraft des Wortes Gottes zu ersetzen und das Evangelium als Befreiung der Menschen und des Kosmos zu verkünden. Das Evangelium musste auf die Erde heruntergeholt werden, um eine Gemeinschaft nach dem Plan Gottes ohne Unterdrücker und Unterdrückte zu schaffen. Deshalb schloss die Verkündigung auch die prophetische Anklage ein. Ganz in der Linie von Jesus klagte Rutilio die Unterdrücker an und machte die Unterdrückten ihrer Würde und ihrer Rechte bewusst. Die einen rief er zur Bekehrung auf, und den anderen gab er die Sprache zurück, die ihnen so lange verweigert worden war. Auf diese Weise entdeckten die Bauern, dass sie etwas zu sagen und auch etwas Wichtiges zu tun hatte. Rutilio lud sie ein, ihre christliche Verantwortung in der Veränderung der Gesellschaft wahrzunehmen. Im Verlauf dieses Prozesses der persönlichen und gemeinschaftlichen Veränderung würden neue Männer und Frauen entstehen.

Auf diese Weise gründeten Rutilio und sein Team dynamische, prophetische und autonome christliche Gemeinschaften, aus denen die pastoralen Führer hervorgingen. Innerhalb kurzer Zeit bestimmten diese und vor allem die Frauen die Dynamik der Aktivitäten in der Pfarrei. Die Pfarrei von Aguilares setzte den Akzent auf die Verkündigung des Evangeliums und die Bekehrung und nicht mehr auf die Spendung der Sakramente, die bisher in der Pfarrei vorgeherrscht hatte. Rutilio träumte von einer Pfarrei, wo der Priester sich auf seine mit der Weihe verbundenen Dienste konzentrierte und die Laien die übrigen pfarreilichen Aufgaben übernahmen.

Glaube und Politik

Die prophetische Dimension der Verkündigung warf die Frage der Politik auf. Rutilio wurde mit ihr in seiner Landpfarrei von Aguilares konfrontiert, und Mons. Romero in seiner Erzdiözese und angesichts seines Einflusses im ganzen Land. Rutilio wurde mit der Beziehung zwischen Glaube und Politik konfrontiert, als die Bauern die Wirksamkeit politischer Organisationen entdeckten, um ihre Arbeitsrechte und ihre sozialen und politischen Rechte einzufordern, und als die besten Führungsleute der Gemeinden aus ihrem christlichen Engagement nicht nur Mitglieder von politischen Organisationen, sondern ihre Führer wurden. Die Verwandlung der pastoralen in politische Führer beunruhigte ihn außerordentlich. Er hatte auch ein politisches Engagement vorgesehen, doch erst mittelfristig in der dritten Etappe der Pfarreiplanung. Die Krise überraschte ihn unvorbereitet. Die Entdeckung von Gott als Vater und die allgemeine Geschwisterlichkeit führten sie zu einer Verurteilung der Ungleichheit und zur Forderung von Gleichheit und im konkreten von gerechten Arbeitsbedingungen und Löhnen. Die schwierigen Verhältnisse in der Pfarrei führten dazu, dass die politische Krise fast gleichzeitig mit der christlichen Gemeinschaft entstand.

Rutilio bemühte sich, den Unterschied zwischen der Pfarrei und der Organisation der Bauern zu bewahren, ohne dabei eine mögliche Zusammenarbeit auszuschließen. Aber die Organisation beabsichtigte, die Pfarreiarbeit den politischen Strategien unterzuordnen. Gegenüber dieser Absicht vertrat Rutilio, dass „wir uns mit politischen Gruppierungen keinerlei Art verbinden können“. Die unterschiedliche Sichtweise führte zu einer Konfrontation zwischen ihm und den Führern der Gemeinden und der Organisation, unter denen sich die besten und am meisten geschätzten Leute der Pfarrei fanden. Ein anderer Grund von Spannungen war die Vorsicht und die Mäßigung, die Rutilio mehrmals von einer aufgrund ihrer ersten Erfolge begeisterten Organisation verlangte, da er ein Blutbad befürchtete. Dass dies nicht unbegründet war, zeigte sich wenige Wochen nach seiner Ermordung, als die Armee die Pfarrei besetzte. Trotz der internen Spannungen und der Kennzeichnung als Aufrührer durch das Militärregime verteidigte Rutilio stets die Bauern, denn „wir können nicht gleichgültig gegenüber der Politik des Gemeinwohls der großen Bevölkerungsmehrheit bleiben ... davon dürfen wir uns niemals fernhalten.“7 Deshalb wurde er von außen als Anführer einer sozialen Bewegung wahrgenommen, die die jahrzehntelange oligarchische Ordnung umzustürzen drohte.

Wenige Monate nachdem er die Pfarrei übernommen hatte, machte Rutilio die Erfahrung eines schmerzlichen inneren Risses zwischen seinen pastoralen Plänen und der harten Wirklichkeit. In seinen eigenen Worten war der springende Punkt die Gestalt des Priesters, „von dem einige verlangten, dass er sich in einer Art ungeschichtlichen Abstraktion aus den Fragen des Gemeinwohls heraushalte; andere wollten ihn als Aufrührer ansehen. Weder das eine noch das andere trifft zu. Der Priester steht in der Gemeinde sowohl für die ewigen als auch für die geschichtlichen Werte ein.“8

Die Zwiespälte und die Verwicklungen in der Pfarreiarbeit sowie die wachsenden Angriffe warfen für ihn die Frage auf, ob er weitermachen solle. 1976 bot er verschiedene Male seinen Rücktritt an, der aber nicht angenommen wurde. Jeder neue Vorfall stellte ihn vor das unlösbare Dilemma seines Priesterseins. Der Pfarrer musste die christliche Option verteidigen, und diese schloss die Organisation der Bauern für die Gerechtigkeit ein, auch wenn dies im politischen Sinn interpretiert wurde. Seine wiederholten Erklärungen gegenüber der militärischen Gewalt bewirkten wenig.

Trotz der Kritik und der Anzeigen hieß Mons. Romero die Verkündigung und die Pastoral von Rutilio ausdrücklich gut. Aus der Sicht des Erzbischofs war seine Verkündigung dadurch gekennzeichnet, „dass er auf Gott schaute, und von Gott aus auf den Nächsten als Bruder und Schwester“. So lud er dazu ein, „das Leben nach dem Herzen Gottes auszurichten“, und dies musste sich „in ein konkretes Engagement übersetzen und vor allem zur Liebe, zur geschwisterlichen Liebe motivieren“, da ein Christ nicht von dem Elend absehen kann, von dem er umgeben ist.9 Er kann das nicht tun, weil das Wort Gottes sich in die Wirklichkeit inkarnieren muss, um sie von innen zu erlösen. Aber in der Inkarnation in die menschliche Geschichte gewinnt das Wort Gottes eine unvermeidlich soziale Dimension. Dementsprechend schließt die Erlösung die politische Befreiung ein, geht aber über sie hinaus, weil sie das Kommen des Reiches Gottes erwartet, das im verändernden Handeln schon gegenwärtig ist.

Die Option für die Armen und für ihre Befreiung von allen Arten von Unterdrückung, die Rutilio und Mons. Romero trafen, weckte die Wut der Oligarchie. Die oligarchische Ordnung erwartete, dass der Priester half, das Volk still, passiv und in sein Schicksal ergeben zu halten, da sein Leiden ja im anderen Leben großzügig belohnt würde. In diesem Sinn, so Rutilio, sollte er „einen stummen Christus ohne Mund verkünden und ihn durch die Straßen führen. Einen Christus mit einem Maulkorb. Ein Christus, der nach unserem Belieben und unseren schäbigen Interessen geformt ist.“10 Weder er noch Mons. Romero ließen sich diese traditionelle Rolle aufdrängen, weil das Evangelium die Unterdrückung nicht hinnimmt. Beide vermischten sie Glaube und Politik nicht, aber beide waren sich bewusst, dass die Verkündigung des Reichs Gottes in so ungerechten Verhältnissen wie in El Salvador politische Folgen hatte. Davor hatten sie keine Angst. Im Gegenteil, sie blieben dem salvadorianischen Volk und Jesus von Nazareth bis zur Hingabe ihres Lebens treu.

Wenn Rutilio und Mons. Romero für etwas zur Verantwortung gezogen werden können, dann für ihre Verkündigung, dass die Schöpfung dem Willen Gottes entsprechend für alle bestimmt ist. Niemand hat das Recht, an sich zu reißen, was allen gehört. Anhäufen ist dem Willen Gottes entgegengesetzt und deswegen Sünde. Und zwar nicht nur eine persönliche, sondern auch eine soziale Sünde, weil der Egoismus der einzelnen negative und tödliche Folgen für all jene hat, die vom Genuss der Güter der Schöpfung ausgeschlossen sind.

In seiner Kommentierung des Magnificat in einer seiner großen Predigten war für Rutilio der Wille Gottes klar: „die herzlosen und gottlosen Reichen, die den Maisbrei nur für sich und nicht für alle wollen, die den Riesentopf nur für sich und nicht mit den Brüdern und Schwestern in dieser geschwisterlichen Eucharistie teilen wollen ... das sind die Reichen, die Gott mit leeren Händen davongehen lässt, weil sie grausame Kaine sind“11. Deshalb ermutigten sowohl er als Mons. Romero das Volk, das Wort zu ergreifen, um ihre Rechte an den Gütern der Schöpfung einzufordern, und sie streckten die Hand aus, um sie aufzurichten und sie zeigten ihm den Weg der wahren Gerechtigkeit und Freiheit.

Christsein wird gefährlich

Der Konformismus, wie ihn die traditionelle Kirche predigte, ist unvereinbar mit dem Ruf, die Sünde der Welt hinwegzunehmen und das Reich Gottes aufzubauen. Jeder Christ ist eingeladen, eine solidarische und geschwisterliche Menschheit aufzubauen, die die Schöpfung achtet und wo es keinen Unterschied zwischen „mein“ und „dein“ gibt. Alles gehört uns, wir gehören Christus und Christus gehört Gott. Rutilio brachte das in einer seiner Predigten in das schöne Bild eines „gemeinsamen Tischs mit einer langen Tischdecke für alle, so wie diese Eucharistie. Jeder hat einen Sitzplatz. Und für alle reicht der Tisch, die Tischdecke und das Essen.“12

Auf eine paradoxe Weise machte dieser Aufruf das Christsein sehr gefährlich. „Es ist gefährlich, bei uns heute Christ zu sein. Christsein ist praktisch illegal...!“, rief Rutilio in seiner letzten Predigt aus, „denn die Welt, die uns umgibt, ist im Tiefsten auf einer fest gefügten Unordnung gegründet, vor der schon die bloße Verkündigung des Evangeliums subversiv ist“. Dennoch schloss er: „Als Christen müssen wir bereit sein, das Leben hinzugeben im Dienst für eine gerechte Ordnung für die anderen und für die Werte des Evangeliums.“13

Rutilio und Mons. Romero pflegten eine enge Freundschaft, die aber nicht frei war von schmerzlichen Unstimmigkeiten. Wie es scheint, entstand die Freundschaft als beide durch eine schwierige Zeit gingen. Mons. Romero kam in das Priesterseminar von San Salvador, nachdem er vom Klerus seiner Diözese abgelehnt worden war. Im Seminar begegnete er Rutilio, dem es auch nicht gut ging. Die Verantwortung lastete auf ihm und gesundheitlich war er angeschlagen. Irgendwie fanden sich die beiden und wurden zu Freunden. Rutilio übernahm die Organisation der Bischofsweihe von Mons. Romero und diente als Zeremonienmeister. Daran erinnerten sich beide gerne. Hingegen war Mons. Romero mit Rutilio nicht einer Meinung in der Ausbildung der Seminaristen und in seiner Vorstellung von der Kirche. Deswegen unterstützte er auch seine Kandidatur als Rektor nicht. Das entfernte sie voneinander, aber nicht für lange Zeit, weil Rutilio auf ihn zuging, um die Kommunikation wieder herzustellen. Sie begegneten sich wieder, als Mons. Romero als Erzbischof nach San Salvador zurückkehrte.

Das „Wunder“ von Rutilio

Kurze Zeit nach der Ermordung von Rutilio hieß es im Volk und der Kirche El Salvadors nachdrücklich bis hin zu einer lokalen Tradition, dass sich Mons. Romero aufgrund der Ermordung von Rutilio bekehrt habe. Bekehrung hieß dabei nicht, ein Leben der Sünde in der Hinwendung zu Gott aufzugeben, sondern eine Hinwendung zum unterdrückten Volk, dessen Sache er mit außerordentlicher Kraft und Klarheit zu verteidigen begann. Andere, wenn auch wenige Stimmen sagten, Mons. Romero sei ein Wunder von Rutilio, doch diese Interpretation wurde damals nicht geteilt. Papst Franziskus hat sie aufgegriffen, als er sagte, dass Mons. Romero „das große Wunder“ von Rutilio sei.

Das Wunder von Rutilio wurde nach seinem Martyrium ganz offensichtlich. Mons. Romero übernahm die Erzdiözese von San Salvador am 22. Februar 1977, kaum drei Wochen vor der Ermordung von Rutilio in einer bedrückten Stimmung des enttäuschten und aufgebrachten Klerus, der seine Ernennung als einen Versuch interpretierte, zur traditionellen Pastoral zurückzukehren. Einige reagierten sogar feindselig. Daraufhin machte Rutilio seinen Einfluss unter dem Klerus geltend und bat darum, dem neuen Erzbischof eine Chance zu geben.

Ende März hatte der Klerus seine Vorbehalte überwunden und sich um Mons. Romero gesammelt. Die vor drei Wochen fast noch undenkbare kirchliche Geschlossenheit war Wirklichkeit geworden. Im Requiem für Rutilio in der Kathedrale und in zwei anderen Messen – eine in der Kathedrale am Sonntag, dem 20. März, und die andere in Aguilares am 19. Juni – dankte Mons. Romero „hier öffentlich vor der Erzdiözese für die Einheit, die heute alle diese geliebten Priester um das Evangelium zusammenschmiedet“14.

Darüber hinaus verpflichteten sich die Kirche von San Salvador und ihr Hirte unter dem Eindruck des Martyriums von Rutilio, seine Mission weiterzuführen und sein Gedächtnis lebendig zu halten, denn „er schenkt unserem Volk Hoffnung“15. Mons. Romero brachte es so zum Ausdruck: „Aguilares hat eine ganz besondere Bedeutung, seit Pater Grande zusammen mit seinen beiden Begleitern von den Kugeln niedergestreckt wurden ... es ist zweifellos ein Zeichen der besonderen Liebe des Herrn“16. Von diesem Zeitpunkt an folgte die Erzdiözese von San Salvador Mons. Romero, ihrem Hirten. So wurde in einer unerwarteten und überraschenden Weise Wirklichkeit, was wenige Wochen zuvor noch undenkbar gewesen war.

Jetzt zeigte sich der Einfluss Rutilios, der den Weg bereitet hatte, den Mons. Romero während seiner drei Jahre als Erzbischof gegangen war. Tatsächlich hatte Rutilio mehrere Generationen von Priestern ausgebildet, hatte die lehramtlichen Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, von Medellín und der Enzyklika Evangelii Nuntiandi verbreitet und verteidigt und ihre Lehren in die Praxis umgesetzt. Eine Woche nach seinem Martyrium bekräftigt Mons. Romero seinen Dienst: „Ihr könnt sicher sein, meine Brüder und Schwestern, dass die dem Evangelium verpflichtete Linie der Erzdiözese authentisch ist, und alle, die mit den geliebten Priestern, Ordensfrauen und Laien zusammenarbeiten, sind auf der sicheren Seite solange sie in Gemeinschaft mit dem Bischof sind.“17 An seinem ersten Jahrtag nannte er Rutilio „ein Beispiel, dem wir folgen müssen“18.

Rutilio lebte die Treue zu Jesus und zum Volk Gottes in bewundernswerter Stimmigkeit. So sagte Mons. Romero: „Deshalb finden wir Rutilio auf dem Höhepunkt seiner menschlichen Entwicklung wieder in El Paisnal ... nachdem er auf Universitäten und mit Büchern studiert hat, kehrt er wieder mit der Liebe, die in seinem menschlichen Herzen gewachsen ist. Seine Intelligenz, seine Berufung haben ihn zu der Einsicht geführt, dass die wahre Größe nicht darin besteht, in einem anderen Land reich zu werden, sondern zu seinem Volk zurückzukehren und die Seinen zu lieben um ihnen zu mehr Menschsein zu verhelfen. Darin besteht die wahre Größe.“19

Für Mons. Romero kehrte er in sein Dorf von El Paisnal zurück, um dort mitzuerleben, „wo Christus in seinem Fleisch leidet, ... wo Christus mit seinem Kreuz auf den Schultern gegenwärtig ist, nicht in der Kreuzwegmeditation in einer Kapelle, sondern lebendig im Volk; es ist Christus mit seinem Kreuz auf dem Weg zum Kalvarienberg. Dieser Christus ist in diesem Ordensmann und Jesuiten, der Jesus nachfolgte, Fleisch geworden.“20 Hier fanden ihn seine Mörder. Sie brachten ihn ums Leben zusammen mit Manuel Solorzano, einem alten Mann, seinem unzertrennlichen Begleiter, und Nelson Rutilio Lemus, einem Jugendlichen, die das salvadorianische Volk vergegenwärtigten. Trotz der Lebensgefahr weigerte sich Rutilio, die Pfarrei zu verlassen, weil er sein Volk nicht verlassen wollte. Seine letzten Worte waren: „Gottes Wille soll geschehen!“21

Rutilio Grande war ein Priester und ein Jesuit von unvermuteter menschlicher und religiöser Tiefe. In seiner Schwäche fand er seine Stärke. Die meiste Zeit seines Lebens verlief in der Stille. Er war kein herausragender Student, und er war unter den Jesuiten keine Führungsgestalt. Zeitweilig wurde er sogar von einigen seiner Oberen und Mitbrüder geringgeschätzt. Die näheren Umgang mit ihm hatten, fanden in ihm einen nahbaren, dienstbereiten und gütigen Menschen. Die Seminaristen und der Klerus entdeckten in ihm einen Ausbilder, einen Ratgeber und einen verständnisvollen und liebenswürdigen Gefährten, der aber auch streng und ernst sein konnte. Für die Campesinos, die Bauern, war er ein nahbarer, selbstloser und zärtlicher Priester. Kurz zusammengefasst lebte Rutilio seine Berufung als Jesuit und Priester „im Dienst am Glauben, zu dem die Förderung der Gerechtigkeit notwendig dazugehört, denn sie zielt auf die Versöhnung der Menschen untereinander, die ihrerseits von der Versöhnung der Menschen mit Gott gefordert ist“22. Deshalb bekannte Mons. Romero: „Wir wissen, dass in ihm der Geist des Herrn lebendig ist.“23

In seinem Märtyrertod spiegelt sich für Mons. Romero sein Leben: „Ein Priester mit seinen Bauern, der unterwegs ist zu seinem Volk um sich mit ihm eins zu machen und um mit ihnen keine revolutionären Eingebungen zu leben, sondern die Eingebung der Liebe.“24

Anzeige: Traum vom neuen Morgen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Tomáš Halík

Die Stimmen der Zeit im Abo

Mut zur Tiefe und klare Standpunkte zeichnen die „Stimmen der Zeit“ aus. Es gilt die Kraft der Argumente.

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen