Bergen-Belsen

Am 21. November 1961 weihte der Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen in Bergen die Sühnekirche „vom Kostbaren Blut“ ein. Sie wurde auf Wunsch der katholischen Bevölkerung vor Ort errichtet „zum „Gedächtnis der Toten aus allen Nationen und Konfessionen des ehemaligen Konzentrationslagers BERGEN BELSEN“. Bundespräsident Heinrich Lübke stiftete eine Statue „Christus in der Gefangenschaft“ des Bildhauers Joseph Krautwald. Ihr Anblick prägt den rückwärtigen Raum hinter dem Altar. Papst Johannes XXIII. schenkte der Gemeinde einen Kelch, der bis heute in Ehren gehalten wird. Gläubige aus der ganzen Diözese Hildesheim wallfahrten regelmäßig zur Kirche.

Der gebührend weite Abstand der Kirche in der Stadt Belsen vom einige Kilometer weiter entfernt liegenden Konzentrationslager Bergen-Belsen ließ den Eindruck einer Vereinnahmung des KZ erst gar nicht aufkommen. So entwickelten sich in aller Stille unsichtbare Bande des Gedenkens und des Dialoges zwischen dem Kirchort und Bergen-Belsen. Ein spirituelles Interesse von Besucherinnen und Besuchern des Konzentrationslagers, insbesondere von Angehörigen der Ermordeten und Überlebenden, hielt sich über die Jahre hinweg. Sie wünschten sich auch eine Möglichkeit zur Meditation auf dem Gelände selbst nach dem Gang durch das Gräberfeld. Am 16. April 2000 wurde ein „Haus der Stille“ eingeweiht, ein konfessionell nicht festgelegtes Gebäude aus Chromnickelstahl, Glas und Granit, mit einem nach oben offenem Ausblick. Es steht am Rande der Anlage, leicht verdeckt von den Zweigen der Bäume, so dass der Blick auf das flache Gelände mit den leichten Erhebungen der Massengräber, dem jüdischen Gedenkstein, dem polnischen Holzkreuz sowie auf die Inschriftenwand mit dem Obelisken nicht verstellt wird.

Im November 2011 jährte sich zum 50. Mal die Kirchweih der Sühnekirche. Der Festschrift ist zu entnehmen, wie sich Gemeindeleben, ökumenische Kontakte und Gedenken in der Nähe von Bergen-Belsen in den letzten Jahrzehnten gestalteten. Doch es zeichnen sich auch Entwicklungen ab, die angesichts der gesamtkirchlichen Lage nicht überraschen: Die Gemeinden werden schwächer, sie altern, gehen zahlenmäßig zurück. Gewachsene Kirchorte werden in Seelsorgeeinheiten zusammengefasst. Für eine „Sühnekirche“ in der Nähe von Bergen-Belsen gibt es in der zunehmend säkularisierten Öffentlichkeit vor Ort immer weniger geistliches Verständnis, da Begriff und Vorgang von „Sühne“ selbst kaum noch verstanden werden. Das Wort wartet auf neue Übersetzung.

So entsteht ein Dilemma. Es steht beispielhaft für die Fragilität der Zukunft des kirchlichen Gedenkens der Shoa in Deutschland. Orte wie die Sühnekirche von Bergen können allein schon um der Opfer willen nicht einfach aufgegeben werden. Auch international würde ein solcher Rückzug in Israel, Polen, Frankreich oder in den Niederlanden (ein Gedenkstein für Anne Frank liegt in Bergen-Belsen) nicht verstanden werden. Andererseits haben die Gemeinden vor Ort nicht mehr die Kraft, den Ort zu prägen oder wie im Falle von Bergen langfristig ein geistliches Band zu dem „Haus der Stille“ und zu dem Gelände mit den Massengräbern zu halten. Die Erfahrungen aus Dachau, aus der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum in Berlin und aus anderen vergleichbaren Orten zeigen, dass eine solche Kirche einer Gemeinschaft bedarf, die das nahe gelegene Lager als einen Ort begreift, der „ruft“: Ein „Ander-Ort“ (Sr. Mirjam Fuchs), eine „Heterotopie“, ein Ort, der „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet ist, sozusagen Gegenplatzierung oder Widerlager“. Dort sind „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet“ (Michel Foucault).

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer lud kürzlich eine Gruppe von Personen ein, die auf die eine oder andere Weise mit Bergen, Bergen-Belsen und dem Thema das Gedenkens befasst sind. Gemeinsam besuchten wir das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers; „Endstation der Endlösung“ nannte es unsere Begleiterin. Das flache Gelände, ohne Baracken, mit seinen still unter den leicht erhobenen Hügeln liegenden Massengräbern wirkt ganz anders als Auschwitz und ist doch damit tief verbunden. Die Worte, die ich dort hörte, lauten: Tod und Totengedenken. In Kombination mit der Sühnekirche in Bergen stellt sich da eine Frage nicht nur an die Gemeinde in Bergen, sondern an die ganze Kirche in Deutschland. Sicherlich wird es auch um Geld und Investitionen in Personal gehen. Doch im Kern geht um mehr. Der Ort ruft – in eine Existenzform, die sich aus dem vollen Leben heraus bewusst auch dem Tod stellt.

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