Achleitner, Wilhelm / Halbmayr, Alois / Schmidinger, Heinrich (Hgg.): Zur Freiheit befreit. Gottfried Bachl und seine Gottesgeschichten (Salzburger Theologische Studien 68).
Innsbruck: Tyrolia 2022. 226 S. Kt. 24,–.
Vor zwei Jahren ist Gottfried Bachl gestorben. Damit verstummte die Stimme eines Theologen und Poeten, der wie kaum ein anderer Weite und Freiheit verkörperte und der diese Weite und Freiheit sowohl in theologischen Skizzen als auch in poetischen Texten, Gebeten und Psalmen unvergleichlich mit anderen zu teilen wusste. „Wer mit Gottfried Bachl zu tun hat, macht die Erfahrung, dass er Menschen zum aufrechten Gang voreinander und vor Gott anstiftet“ (11).
Wer das Buch zur Hand nimmt, wird Gottfried Bachl neu oder vertieft kennenlernen als einen, der mit Gott derart unterwegs war, dass er immer neue Entdeckungen mit diesem Gott machte, der sich immer neuen Fragen stellte und sich nicht zufriedengab mit vorschnellen Antworten. Gottes Weite, Größe und zugleich Nähe zusammenzudenken und zu -glauben mit dem suchenden, fragenden, leidenden Menschen – vielleicht ist es dies, was Gottfried Bachl zutiefst ausmachte.
Wer Gottfried Bachl bisher vor allem von seinen Veröffentlichungen her kannte, findet hier neue Zugänge zur Person und zum Theologen. Gegliedert in die großen Themen Christologie, Eschatologie, Eucharistie, Mariologie, Mauthausen, Poetik, Eros und Liebe sowie Priestertum, finden sich hier erhellende Zusammenfassungen und so manche Neuentdeckung. Im vorliegenden Band findet sich kein Durchgang durch alle Traktate der katholischen Dogmatik, doch kommen diejenigen zur Sprache, die Gottfried Bachl vielleicht tiefer bewegt und umgetrieben haben. Auch die großen, bewegenden Themen menschlichen Lebens zeigen ihn als einen Theologen, der wahrnahm, was Menschen bewegt und umtreibt, dessen Gottesrede auf den Erfahrungen der kleinen Leute fußte (9). Diese „Glaubensrede ist keine Gefühlssache, sondern Gedankenarbeit“ (10).
Dass weder Gottfried Bachl als Theologe selbst noch sein Zugang zur Theologie gefällig oder gar populistisch waren und sind, zeigt sich mit am deutlichsten in seiner Christologie. Exemplarisch dafür steht der Buchtitel ‚Der schwierige Jesus‘. Wer hätte es bisher gewagt, vom hässlichen, vom winzigen, vom nackten Jesus zu sprechen und diese Züge am Urheber und Vollender des Glaubens nicht nur hervorzuheben, sondern als Weg in eine größere Freiheit und innigere Jesusbeziehung zu begreifen?
Von Beginn an erkannte der Priester Gottfried Bachl, dass seine Mentalität nicht zu der dominierenden klerikalen Art passte (16). Bis zum Lebensende ging er seinen eigenen Weg. Wer zu dieser Gedenkschrift greift, wird einen Menschen und Priester kennenlernen, der sich nicht einengen ließ durch Kleinkariertheit und Borniertheit, der sich niemals die Freiheit des Geistes streitig machen ließ. Davon sprechen alle Beiträge seiner Schüler*innen, Assistent*innen und theologischen Weggefährt*innen. Wer dieses Buch liest, wird selbst herausgefordert, Position zu beziehen und sich auf den Gott einzulassen, der sich immer neu und überraschend als freimachend zeigt. „Dieses Leben in Freiheit wird für die Menschen zur unverzichtbaren Aufgabe“ (10) – und zur Antwort des Glaubens. Eine ausgesprochen anregende Lektüre, die auf neue Denk- und Glaubenswege schickt.
Annette Traber
Schilling, Heinz: Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute.
Freiburg: Herder 2022. 472 S. Gb. 28,–.
Mit der Perspektive des Allgemeinhistorikers, für den die Kirchengeschichte in eine Betrachtung der Frühen Neuzeit hineingehört, schreibt der emeritierte Professor an der Humboldt-Universität Berlin Heinz Schilling sein Buch für eine interessierte Öffentlichkeit. Schilling hebt die weltgestaltende Kraft des Christentums hervor, vor allem in seiner westlichen Ausprägung, die Verfehlungen ebenso wie positiv gestaltende Einflüsse, etwa auf die spätere Formulierung der Menschenrechte, die Bildung, die sozialen Auswirkungen der Orden, die durch immer neue Gründungen mit der Zeit gingen. Den Geist der Erneuerung im 16. Jhd. sieht er nicht nur bei den Reformatoren, sondern auch bei der Devotio moderna in den Niederlanden, in Spanien bei Erzbischof de Cisneros und in Italien bei Katharina von Siena. Neben der Reformation waren auch die Renaissance und der Humanismus die gestaltenden Kräfte eines Übergangs in die Neuzeit. Die Konfessionalisierung im Anschluss an die Reformation führte nicht zu einer Schwächung der Religion. Sie war eine der wesentlichen Elemente zur Herausbildung nationalstaatlicher Identität. Die Emanzipation von der Kirche durch die Reformation war zwar ein wichtiger Schritt zur stärker kommunalen Selbstbestimmung, aber kein Abschied vom Einfluss des Christentums in seiner konfessionellen Vielfalt. Zudem trug auch der Katholizismus zur bürgerlichen Modernität bei, z.B. durch die Marianischen Kongregationen, die Exerzitien der Jesuiten, die Barockarchitektur. So sehr das Christentum bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges die Welt geprägt hat, so sehr muss es sich heute den säkularen Strömungen stellen, ohne in ihnen aufzugehen: eine Gratwanderung, von der der Autor meint, dass sie nicht aufgegeben werden darf.
Schilling legt eine ebenso lehr- wie detailreiche Darstellung vor, der man sprachlich gut folgen kann, ihr wegen des inhaltlichen Reichtums aber auch mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen muss. Hervorzuheben ist das durchgehende Bemühen des Autors, das Klischee vom fortschrittlichen Protestantismus und dem rückständigen Katholizismus für die Frühe Neuzeit anhand vieler Beispiele zu widerlegen und allen christlichen Strömungen ihren Beitrag zur Gestaltung des modernen Europas zuzuerkennen.
Gundolf Kraemer SJ
Flasch, Kurt: Katholische Wegbereiter des Nationalsozialismus. Michael Schmaus, Joseph Lortz, Josef Pieper.
Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2021. 192 S. Kt. 24,80.
Der aus Mainz stammende Kurt Flasch (*1930), vielfach geehrter Bochumer Philosoph der Spätantike und des Mittelalters, Autor bedeutender Werkbiografien u.a. über Augustinus, Nicolaus Cusanus und Meister Eckhart, ist ein streitbarer Geist in der intellektuellen Auseinandersetzung. 2013 erschien sein Abschied „Warum ich kein Christ bin“, dem 2015 eine „Biographie des Teufels und seiner Engel“ folgte. Nun hat er sich historisch unter dem Aspekt des Geschehens der Jahre 1933/34 mit drei sogenannten „katholischen Wegbereitern“ des Nationalsozialismus befasst, die er auch persönlich „aus nächster Nähe“ (18) noch kannte und die nach dem Krieg trotz ihrer anfänglichen „völkischen“ Nazi-Sympathie bedeutende Positionen hatten: den kürzlich mit einer großen Arbeit („Reformationsgeschichte katholisch“. Freiburg 2019) gewürdigten Kirchen- und Reformationshistoriker Joseph Lortz (1887-1975), den Dogmatiker und Mediävisten Michael Schmaus (1897-1993), der 1951/51 Rektor der Universität München war, und der bekannte katholische Philosoph und Thomas-Vermittler Josef Pieper (1904-1997). Alle drei haben in der vom Münsteraner Verlag Aschendorff auf Anregung von Hitlers Vizekanzler Franz von Papen (52-63) herausgebrachten Reihe „Reich und Kirche“ ihre Reden und Texte publiziert und hatten im vom katholischen Zentrum geprägten Münster, in dem auch Karl Barth, Erich Przywara SJ und Peter Wust akademisch wirkten, eigene Lehraufträge. Die NS-freundliche Reihe wollte „dem Aufbau des dritten Reiches aus den geeinten Kräften des nationalsozialistischen Staates und des katholischen Christentums dienen“ (12) und trug mit zur Aufhebung des Zentrums bei.
Zu Beginn als Motto und im Schlusssatz verbindet Flasch seine Arbeit in trauriger Ironie mit dem „Teufel“: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie bei’m Kragen hätte“ (Faust I, 2182); „Vielleicht war der Teufel am Werk“ (167). Es geht um eine böse „teuflische“ Geschichte, wie man im Nachhinein weiß, die aber den noch jungen drei Gelehrten, die idealistisch und voll falscher Hoffnungen dem damaligen Zeitgeist folgten, wie den meisten Deutschen in ihrer Konsequenz nicht bewusst war. Schmaus verurteilt in einer „großen Rede“ (67) vom 11. Juli 1933 in antimodernistisch-kirchlicher Tradition wie der Nationalsozialismus nach rechts den „Liberalismus“ und nach links den „Bolschewismus“ stärkt. Er möchte auch zur „Urkraft“ (69) des Volkes finden und „an die Stelle des mechanistischen Weltbildes die organische Weltanschauung“ (73) setzen. Kirche und Nationalsozialismus seien auch einig in der Betonung des autoritären Führungsprinzips. Ähnlich illusorisch ging der 1933 in die NSDAP eingetretene Joseph Lortz mit seiner Schrift „Katholischer Zugang zum Nationalsozialismus“ vor, wenn er das Zueinander als gegenseitige „Erfüllung“ (94) ansah. Er wurde an der ostpreußischen theologischen Hochschule Braunsberg durch die 1934 von Bischof Maximilian Kaller für ein Jahr vom Priesterdienst suspendierten Kollegen, dem Kirchenrechtler Hans Barion (1899-1973) und dem Rektor Karl Eschweiler (1886-1936), mit dem Nazi-Virus infiziert. Eschweiler war eng mit dem „Rechtsdenker“ (im doppelten Wortsinn!) Carl Schmitt (1888-1985) verbunden und somit nicht nur Mitläufer und Sympathisant, sondern ein aktiver Befürworter des Nationalsozialismus. Thomas Marschler (Augsburg) hat den von „Haß gegen Jesuiten“ (38) geprägten Theologen erhellend portraitiert (Regensburg 2011).
Josef Pieper war in Münster Schüler des (von Flasch negativ gekennzeichneten) Soziologen Johann Plenge (1874-1963), zu dem er später auf Distanz ging. 1934 veröffentlicht Pieper, der einer „Entproletarisierung“ und einer „berufsständischen Ordnung“ das Wort redete, in „Reich und Kirche“ den sozialrechtlichen Aufsatz „Das Arbeitsrecht des Neuen Reiches und die Enzyklika Quadragesimo anno“, 1935 veröffentlichte er den Text „Totale Bildung“, die er im Nationalsozialismus damals gewährleistet sah (beide jetzt im „Ergänzungsband 1“ seiner Werkausgabe). Flasch sieht richtig: „Pieper redet so kopflastig wie Schmaus“ (126), aber er scheint nicht frei von Animositäten zu sein, wenn er Pieper mit einem abgedruckten persönlichen Brief seines Habilitationsvaters Gerhard Krüger aus dem Jahr 1946 mangelnde Wissenschaftlichkeit vorhält. Das ist spitze Gemeinheit wie der Satz: „In der wirklichen Mittelalter-Forschung kam der Vielreisende auch nicht vor“ (146). Zurecht nicht ohne Stolz erwähnt Flasch seinen Onkel mütterlicherseits, den mit Heinrich Brüning wirkenden hessischen Zentrumspolitiker Dr. Fritz Bockius, der im März 1945 in Mauthausen umgebracht wurde (148). Das werden die naiven katholischen Anpasser 1933/34 nicht geahnt haben. Schmaus hat sich dann in die Wissenschaft zurückgezogen, Pieper distanzierte sich nach dem „Röhmputsch“ (1934) zunehmend vom Nationalsozialismus, Lortz ist noch vor Kriegsende der Parteiaustritt gelungen. Flasch hat einen kundigen, bestens dokumentierten und spannend zu lesenden Text über zeitgeschichtliche Verführungen vorgelegt. Seine historische und geistesgeschichtliche Analyse ist begründet und überzeugt. Sie ergänzt den 1961 erschienenen bekannten Aufsatz „Der deutsche Katholizismus im Jahr 1933“ von Ernst-Wolfgang Böckenförde und andere Forschungen.
Stefan Hartmann
Nachama, Andreas : 12 Jahre – 3 Monate – 8 Tage. Andreas Nachama über die Zeit des Nationalsozialismus. Hg. von Andrea Riedle.
Berlin: Hentrich & Hentrich 2021. 380 S. Kt. 26,–.
Nachama, von 1994 bis 2019 Direktor der Stiftung „Topographie des Terrors“ in Berlin, hat eine material- und umfangreiche Chronologie des Naziterrors zusammengetragen. Jedem der 13 dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte wird ein Kapitel gewidmet.
Hervorzuheben sind die äußerst lesenswerten Quellen, die Nachama in die Texte einfügt und auf die sich die Sachdarstellungen häufig beziehen. Es handelt sich neben instruktiven Landkarten und Statistiktabellen vor allem um zahlreiche Faksimiles der Nazi-Hetzzeitung „Völkischer Beobachter“. Das „Kampfblatt der national-sozialistischen Bewegung Großdeutschlands“ lässt neben Führerkult, Nazipropaganda und, vor allem während des Krieges, die größenwahnsinnige Überschätzung der eigenen militärischen Möglichkeiten und zwischen den Zeilen die katastrophalen Fehlentscheidungen des „Führers“ erkennen.
Kurz darstellt wird die Vorgeschichte des endgültigen Untergangs der Demokratie. Die Weimarer Republik, „Demokratie ohne Demokraten“, war durch zahlreiche Krisen gekennzeichnet. Auf die Hyperinflation nach dem verlorenen Weltkrieg 1918 und nur kurzen Jahren der wirtschaftlichem Erholung ließ die Weltwirtschaftskrise die Links- und vor allem die Rechtsextremisten immer stärker werden.
Der Terror, beginnend mit der Machtübertragung an die NSDAP durch konservative und nationalliberale Eliten 1933, erfasste sukzessive immer weitere Opferkreise, zunächst politische Gegner, dann die „rassisch“ verfolgten jüdischen Menschen oder Sinti und Roma. Dass die Nazis bis weit in den von ihnen entfesselten verbrecherischen Krieg hinein von einer Mehrheit unterstützt wurde, ist in den unglaublichen Nazi-Erfolgen der Anfangsjahre begründet. Der Arbeitslosigkeit wurde mit einer Dienstpflicht (Reichsarbeitsdienst), vor allem aber mit einer schuldenfinanzierten Aufrüstung begegnet. Das Konkordat mit dem Vatikan sicherte Hitler 1933 die Duldung der katholischen Kirche. In der evangelischen Kirche unterstützte die große Mehrheit der „Deutschen Christen“ die Nazis. Die Rückgliederung des Saargebietes 1935, der Propagandaerfolg der Olympischen Spiele 1936, der „Anschluss“ Österreichs, das Münchener Abkommen, die widerstandslose Besetzung der Tschechoslowakei, die Blitzsiege in den ersten Kriegsjahren ließen Hitlers Größenwahn berechtigt erscheinen.
Nachamas Zeitreise durch die Jahre von 1933 bis 1945 ergibt bei aller instruktiver Detailgenauigkeit ein Gesamtbild von Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten und damit Deutschlands: die fast widerstandslose Etablierung der totalen Diktatur, die sofort nach 1933 beginnende Spirale des Terrors gegen politische Gegner, jüdische Menschen, Sinti und Roma, die bürokratisch geplante und industriell durchgeführte Schoa, der mit Millionen Opfern verlaufende Krieg und die bedingungslose Kapitulation. Diese Chronologie ist ein Aufruf zum Einsatz für die Demokratie.
Friedhelm Wolski-Prenger
Kemper, Dirk: Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Josef Haas – Biografie einer Legende.
Freiburg: Herder 2021. 313 S. Gb. 20,–.
Dirk Kemper, Ordinarius an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) und Gründungsdirektor des „Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen“ an der RGGU in Moskau hat ein Buch geschrieben, das lange fällig war. Wissbegierige, die mehr über Friedrich Josef Haas, den in Russland verehrten „Heiligen Doktor von Moskau“ wissen wollen, dürfen sich nun freuen. In den Stimmen der Zeit (4/2021) haben wir bereits auf Haas hingewiesen, aus der Perspektive von Dostojewski, der ihm in seinem Roman „Idiot“ ein kleines literarisches Denkmal gesetzt hat. Im „Jahr der Barmherzigkeit“ 2015/2016 erhob Papst Franziskus Haas zum „Heiligen der Barmherzigkeit“. Sein Seligsprechungsprozess hat in den letzten Monaten Fahrt aufgenommen.
Je mehr die Anerkennung dieses „außergewöhnlichen Lebens“ nun auch außerhalb von Russland Raum gewinnt, umso dringlicher wird es, die gelegentlich zu hagiografisch motivierten Schematisierungen (vgl. 204) und Überhöhungen neigende Erstbiografie von Anatoli F. Koni genauer unter die Lupe zu nehmen. Koni „will nämlich nicht als Historiker Lebenszeugnisse dokumentieren, sondern seinen persönlichen Haas präsentieren oder konstruieren, und zwar als eine Lichtgestalt aus der Zeit der Gefängnisschutzbewegung, der er selbst aktiv angehörte“ (217). Kemper entwertet zwar Koni nicht als Quelle, wirft aber immer wieder einen kritischen Blick auf dessen Text und zieht vor allem weiteres substantielles Quellenmaterial hinzu. So entsteht ein Bild von Haas, das nicht bloß Koni ergänzt, sondern Haas in seinen Zusammenhängen neu zeigt – auf eindrucksvolle Weise.
Haas‘ Lebensweg über Münstereifel, Köln, Jena, Göttingen und schließlich Russland (Kaukasus) und Moskau erscheint einerseits nicht mehr so außergewöhnlich. Aber das ist ein Gewinn, kein Verlust. Denn andererseits kommt Kemper im Schlussteil zu einem Fazit (243-280), das die Aufmerksamkeit nachvollziehbar macht, welche Haas in der russischen Bevölkerung fand. Haas tritt als Repräsentant einer vielschichtigen Bewegung hervor, zu der viele seiner früheren Mitstudenten gehörten, seine westeuropäischen Kollegen in Russland und auch die russischen Unterstützer, die vom humanistischen Pathos der Aufklärung beeinflusst waren (248: „Haas war trotz seines ausgeprägten Katholizismus auch ein Kind der geistigen Atmosphäre der französischen Revolution“); die medizinische Praxis und Forschung mit sozialen und auch geistlichen Anliegen verbanden, und die ihre Praxis nicht zuletzt auf medizinphilosophischen – heute würden man vielleicht eher sagen: auf anthropologischen Prämissen aufbauten. Das Motto „Beeilt euch, Gutes zu tun“, welches mit Haas meist in Verbindung gebracht wird, trifft dabei „nicht den Kern seines religiösen Empfindens und Antriebs“ (259). Diesem widmet Kemper das letzte Kapitel. Haas‘ berühmt-berüchtigte „Unbeirrbarkeit“ ist mehr als bloß die Dickköpfigkeit eines angeblich schwierigen Charakters. Vielmehr gründet sie, katholisch geprägt, in einer „raison du coeur“, die zutiefst darum weiß, vor wem einst Rechenschaft abzulegen sein wird für das ganze Leben, das man gelebt hat.
Wer die abschließende Würdigung der Person Haas – und damit auch der Leistung von Kemper – ihrerseits würdigen will, muss also unbedingt vorher das weite Panorama in den Blick nehmen, das in den vorausgehenden Kapiteln ausgebreitet wird: den Einfluss der Französischen Revolution auf das westrheinische Gebiet, aus dem Haas stammt (15-62); die unterschiedlichen medizinphilosophischen Richtungen von Jena bis Göttingen, von Schelling bis de La Mettrie (63-113), die sich gerade in Corona-Zeiten hochaktuell lesen; Russland als Arbeitsmarkt für westeuropäische Mediziner, die Wirren der napoleonischen Kriege und Themen der medizinischen Forschungsarbeit (117-172); schließlich die europäische Gefängnisschutzbewegung (173-206) sowie die komplexen Zusammenhänge von Strafe, Verbannung und Kolonialisierung Sibiriens (207-232). Leseempfehlung: Hoch.
Klaus Mertes SJ