Es war eine gute Entscheidung, im Jahr 2016 die Unabhängige Kommission einzurichten. Betroffene hatten sich lange dafür eingesetzt. Aufarbeitung kann nicht den Organisationen alleine überlassen sein, in deren Rahmen die Taten stattgefunden haben. Diese Organisationen müssen auch selbst tätig sein, weil es sonst kein Lernen und damit auch keine wirksame Prävention geben kann. Aber es gibt eine gesellschaftliche und damit staatliche Mitverantwortung. Mitverantwortung für Fehleinschätzungen, für Nicht-Hinsehen und Nicht-Hinhören, für Personalengpässe, und ganz generell: Mitverantwortung stellvertretend für uns alle. Denn sexualisierte Gewalt ist ein Thema der ganzen Gesellschaft, nicht nur, wo Kinder und Jugendliche betroffen sind.
Staatsanwaltschaften und Gerichte leisten dabei ihren Teil. Er ist wertvoll und er ist begrenzt – begrenzt durch Anzeigeverhalten, durch Recht und Gesetz, sicher auch durch fehlende Kapazitäten. Nicht zuletzt ist er nicht völlig frei davon, wie sich eine Gesellschaft insgesamt einem Thema stellt oder eben auch nicht. Also braucht es eine Einrichtung, die genau das zum Auftrag hat, was auf der Homepage der Aufarbeitungskommission zu lesen ist: „Die Kommission soll Ausmaß, Art, Ursachen und Folgen von sexuellem Missbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR untersuchen, z.B. in Institutionen, in der Familie und im sozialen Umfeld, durch Fremdtäter oder -täterinnen und im organisierten/rituellen Kontext. Sie soll Strukturen und Bedingungen benennen, die in der Vergangenheit Missbrauch ermöglicht und Aufarbeitung verhindert haben.“ Kurz: Sie soll aufarbeiten.
Und nun will ich den größtmöglichen Respekt zollen vor der geleisteten Arbeit, die ja in mancher Hinsicht Pionierarbeit war, für Tagungen wie diese, die sich relevanten Fragen widmen und gleichzeitig das Thema wieder ein Stück aus der Tabuzone hinausführen, für jede einzelne Geschichte, zu der Betroffene ermutigt wurden, zu berichten, für grundlegende Arbeiten dazu, wie Aufarbeitung gelingen kann. Ich beanspruche nicht einmal, die ganze Arbeit zu sehen, die bewältigt wurde.
Aber ich bin hierhergekommen, um zu sagen, es reicht nicht, es geht nicht einfach so weiter wie bisher. Zumal, nach meinem Eindruck, die Kommission auch gewissen Auflösungserscheinungen unterliegt. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit, mehr Tempo und sichtbare Konsequenzen. Konsequenzen nicht nur in Form von Anstrengungen nach vorne, künftige Taten zu verhindern – dies natürlich auch und eigentlich auch evaluiert, denn wer kann uns eigentlich sagen, dass die Präventionsarbeit, die in den letzten Jahren ausgebaut wurde, wirkt, oder was daran verbessert werden könnte – nein, mir geht es um Konsequenzen für das, was geschehen ist.
Die – insbesondere katholische – Kirche steht im Zentrum des öffentlichen Interesses. Das ist nachvollziehbar, bei allem, was geschehen ist, und es ist auch ungerecht, wenn man doch weiß, dass andere gesellschaftliche Bereiche ebenso betroffen sind – Sport, Ehrenamt, Heime, Bildungseinrichtungen – und dass die meisten Taten einfach im familiären Umfeld geschehen. Der einzig gangbare Weg, den man daraus ableiten kann, ist, sich der Thematik endlich mit allem Nachdruck und umfassend zu stellen. Noch kann es gelingen, ein gutes Beispiel der Aufarbeitung zu schaffen, an dem sich andere gesellschaftliche Bereiche orientieren können. Das schließt auch Fehler mit ein, die von anderen dann nicht mehr wiederholt werden müssen. Denn entlastend ist zu sagen, dass Aufarbeitung auch nicht einfach so gelingen kann. Es geht um großes Leid und das schafft man nicht einfach so aus der Welt.
Wir müssen jetzt dringend die nächsten Schritte gehen. Dringend, weil im Zuge auch der Arbeit der Kommission Betroffene erst nach und nach den Mut gefasst haben, ihre Geschichte zu erzählen. Oftmals liegen die Geschehnisse lange zurück. Uns rennt die Zeit davon. Die gute Nachricht: Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ist eine gute Basis für einen Neustart, auf die in der letzten Wahlperiode auch hingearbeitet wurde. Selten hatte Kinderschutz einen solchen Stellenwert wie in diesem Dokument. Und an der Umsetzung wird bereits intensiv gearbeitet. Ich nenne als Beispiel das Center for Save Sport.
Ich skizziere meine Gedanken zur weiteren Aufarbeitung in zehn kurzen Punkten.
1. Unsere Tagung wirft gleich die ganz entscheidende Frage auf, für die ich noch keine abschließende Antwort gefunden habe, nämlich die nach den Akten. Wenn Staatsanwaltschaften die verjährten Fälle nicht mehr anrühren, braucht Aufarbeitung dann nicht ein Recht auf Akteneinsicht? Ich kann mir, offen gestanden, nicht vorstellen, dass weitere Ordner mit der Aufschrift „Brüder im Nebel“ existieren. Aber ich habe mir eben auch schon diesen einen Ordner nicht vorstellen können.
2. Offensichtlich misslingende Aufarbeitungsprozesse untergraben die Arbeit dieser Kommission und zerstören Vertrauen, dass wir als Gesellschaft angemessen auch mit solch schwierigen Fragen umgehen können. Im Rahmen der Aufarbeitung innerhalb der Kirchen folgt ein Gutachten dem nächsten, keines ist mit dem anderen wirklich vergleichbar, keiner weiß, wie es weitergeht und was er zu den Veröffentlichungen eigentlich noch sagen soll. Das kann man so nicht länger laufen lassen. Die Aufarbeitungskommission muss in die Lage versetzt werden, einen verbindlichen Rahmen für Aufarbeitungsprozesse vorzugeben – unter anderem räumlich: für ganz Deutschland; zeitlich: mit einem klaren Enddatum – und diesen begleitend zu evaluieren. Dafür muss die Aufarbeitungskommission gestärkt werden.
3. Dafür braucht die Kommission, ebenso wie die Unabhängige Beauftragte, eine gesetzliche Grundlage, die Auftrag, Ziele und Kompetenzen beschreibt. Organisationen, in deren Rahmen sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen aufgetreten ist, müssen gegenüber der Kommission rechenschaftspflichtig werden.
4. Ohne den früheren Unabhängigen Beauftragten gäbe es keine Kommission, doch die Konstruktion als Unabhängige Kommission des Unabhängigen Beauftragten ist leider schwach. Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Es betrifft unterschiedliche Bereiche, es fordert unterschiedliche Bereiche. Das Thema gehört entweder ins Kanzleramt oder ans Parlament gekoppelt.
5. Die Unabhängige Kommission wird, ebenso wie die Unabhängige Beauftragte, bislang nicht ausreichend im politischen Raum wahrgenommen. Sie muss künftig regelmäßig einen Bericht an den Deutschen Bundestag verfassen, der einer Debatte und Arbeit in den Ausschüssen bzw. der Kinderkommission zugeführt wird. Wir müssen politische Zuständigkeit für Aufarbeitung schaffen und dürfen das Thema nicht länger nur an Institutionen delegieren.
6. Die Kommission soll sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland seit 1949 untersuchen. Das kann nicht ehrenamtlich gelingen. Gleichzeitig ist die Expertise aus unterschiedlichen Perspektiven wertvoll, die kaum für Hauptamtlichkeit zur Verfügung stehen. Die Lösung liegt darin, die bisherige Kommission als Steuerungsgremium für die Aufarbeitungsprozesse zu sämtlichen Formen und Bereichen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu verstetigen und ihr die direkten Personalmittel oder besser Budgets zur Verfügung zu stellen, um, wahrscheinlich konsekutiv, Bereich nach Bereich, die Aufarbeitungsarbeit zu leisten. Es muss gelingen, dafür die besten Fachleute zu gewinnen.
7. Die Arbeit der Kommission ist derzeit bis 2023 befristet. Sie sollte entfristet werden. Sie muss solange bestehen, bis sie ihre Aufgabe erfüllt hat.
8. Als Basis für diese Arbeit braucht es endlich eine Dunkelfeldstudie und in der Folge regelmäßige repräsentative Erhebungen, um das Ausmaß des vergangenen Unrechts, die Wirksamkeit von Gegenstrategien und neue Entwicklungen ermessen zu können.
9. Auch die Aufarbeitung von Einzelfällen braucht einen verbindlichen Rahmen, soweit er von den Betroffenen gewünscht ist. Die Bearbeitung darf sich nicht ins Unendliche ziehen. Niemand sollte mit seinem Anliegen auf die Organisation verwiesen bleiben, in deren Rahmen die Taten geschehen sind. Mindestens braucht es eine unabhängige Clearingstelle, die angerufen werden kann, wenn sich die Dinge verhaken.
10. Schließlich: Verantwortung muss man da lassen, wo sie liegt. Betroffene sind zu beteiligen, aber sie haben keine Verantwortung für das, was geschehen ist. Also sollten sie auch keine Verantwortung für die Aufarbeitung übertragen bekommen, schon gar nicht unter der Regie der Organisationen, in deren Rahmen die Taten stattgefunden haben. Ich halte das für eine Fehlkonstruktion. Die Probleme, die in diesem Zusammenhang bereits aufgetreten sind, können niemanden verwundern. Es liegt nicht nur an menschlichen Fehlern, das System stimmt nicht.
Ich freue mich, wenn Menschen an meinen Vorschlägen weiterdenken, nur nicht mehr allzu lang. Wir befinden uns inmitten einer krisenhaften Situation, die sich aus sehr unterschiedlichen Entwicklungen zusammensetzt, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Krieges, der Klimawandel mit seiner Herausforderung eines großen Umbaus unserer Art zu leben und zu wirtschaften, die fortdauernde Pandemie.
Daneben verändern sich die Gewichte in der Welt. Das betrifft Bevölkerungen, Wirtschaftskraft, aber auch die Systeme: Am Ende des Jahrhunderts könnte Afrika Asien als bevölkerungsreichsten Kontinent abgelöst haben, China ist seit ein paar Jahren (nach Kaufkraft) die größte Volkswirtschaft der Welt, Demokratien sind seit Jahren auf dem Rückzug.
Wir müssen unsere Gesellschaften stark machen, resilient, in diesen und weiteren Herausforderungen. Das heißt auch, dass wir die Wunden heilen müssen, die offengeblieben sind. Die Resilienz ist umso höher, je stärker der gesellschaftliche Zusammenhalt ist. Und der gesellschaftliche Zusammenhalt erfordert zunächst den sicheren Stand der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft. Ohnmacht, das Gefühl, ausgeliefert zu sein, niemanden zu haben, der einem zur Seite steht, das ist nicht nur individuell ein Schicksal, das uns nicht kaltlassen darf. Es ist auch Gift für den Zusammenhalt.
Das Gegengift heißt Vertrauen. Zusammenhalt braucht Vertrauen in die Mitmenschen, dass ich ihnen nicht egal bin, dass mein Schicksal, mein Leben zählt, so wie das aller anderen Mitglieder der Gesellschaft auch. Das ist die Aufgabe. Und es braucht Vertrauen in die Entwicklung der Welt. Vielleicht trotz allem. Dazu helfen positive Zukunftsbilder. Zukunftsbilder, die uns motivieren, gemeinsam an dem zu arbeiten, was diesen Zukunftsbildern heute noch entgegensteht.
Ich stelle mir vor, nicht dass es uns gelingt, sexualisierte Gewalt aus unserem Dasein zu verbannen; nicht, jedem und jeder einzelnen gerecht zu werden, dem oder der Schlimmes widerfahren ist; Resilienz erfordert realistische Szenarien. Ich stelle mir vor, dass wir es schaffen, als Gesellschaft unseren Frieden mit der Vergangenheit zu machen. Frieden, der möglich wird, weil wir uns maximal angestrengt haben, das Vergangene zu sehen, zu ermessen, zu verstehen, was dazu beigetragen hat. Dass wir dem auch als Gesellschaft Ausdruck verleihen, indem wir anerkennen, was geschehen ist, kollektives Gedenken ermöglichen. Und dass wir auf dieser Basis die Kraft finden, maximal zu tun, was es braucht, um künftige Taten zu verhindern.