Lyrik im KriegZwischen Traumabewältigung und Propaganda

Was macht der Krieg mit Dichtern und was machen Dichter mit dem Krieg? Philipp Adolphs, Redakteur dieser Zeitschrift, zeigt in einem Schnelldurchlauf durch die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik, dass Kriege die Art zu schreiben wesentlich beeinflussten. Gleichzeitig beeinflusst die Lyrik ihre Leser: zum Guten aber auch zum Schlechten. Ebenso wenig wie die Waffen endlich verstummen, verstummen die Dichterinnen und Dichter, die sich heute nach Frieden sehnen, wie aktuelle Lyrik aus der Ukraine beweist.

"Gegen Leute mit Maschinengewehren helfen keine Metaphern. Wenn dein Auto, mit dem du und deine Kinder dem Krieg zu entfliehen versuchen, von einem Panzer überrollt wird, hilft keine Dichtung. Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht rausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze.“ Mit diesen Worten eröffnete die ukrainische Literaturwissenschaftlerin und Dichterin Halyna Kruk am 17. Juni 2022 das 23. Poesiefestival in Berlin.1 Krieg betrifft Lyrikerinnen und Autoren, seit es Dichtung gibt. Krieg erschüttert nicht bloß Königreiche und Nationen als abstrakte Gebilde, sondern in erster Linie alle Menschen, die sich in dessen Schrecken wiederfinden, mit ihrer persönlichen Leidens-, Flucht-, Überlebens- oder Sterbensgeschichte. Die literarische Verarbeitung historischer Kriegsberichte oder zeitgenössischer Konflikte reicht von Klageliedern oder Heldenepen bis hin zu politischer Satire oder Kriegspropaganda, autobiografischer Traumabewältigung oder Nationalmythen. Im Laufe der abendländischen Geschichte wandelte sich mit dem Blick auf den Krieg auch die Lyrik und damit wiederum die Rolle der Dichterinnen ebenso wie die der Leser.

Die Autoren des Alten Testaments betrachten Krieg einerseits historisch. Sie schildern, welche Nachbarvölker zur Verteidigung der Israeliten oder zur Vergrößerung des eigenen Reiches bekämpft werden mussten. Ethisch interessant wird es, wo um die Legitimität eines Kriegs gerungen wird und wo es um die Frage der Gerechtigkeit geht. Die Erzählungen um David gegen Goliath und die Philister (1 Sam 27) oder um Judit (Jdt 17), die die babylonischen Besatzer mit deren eigenen Waffen schlägt, markieren einen Trend zur Rechtfertigung von Verteidigungskriegen, während Eroberungs- und Vergeltungskriege seltener Erwähnung finden. Im Fokus steht die grundsätzliche Sehnsucht nach Frieden: „Treue, Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“ (Ps 85).

Im Neuen Testament überrascht seit der Antike und bis heute das Gebot der Feindesliebe. Die Debatte um die Möglichkeit eines bellum iustum (gerechten Krieges) wird derzeit wieder heiß geführt. Für die literarische Bearbeitung des Kriegs markiert das Evangelium über den Sohn Gottes jedenfalls einen markanten Wendepunkt. Krieg als solcher wird erstmals, zumindest in dieser Deutlichkeit, zur Metapher ausgestaltet. Das Reich Gottes auf Erden muss erstritten werden, nicht jedoch mit einem bewaffneten Aufstand gegen die römischen Besatzer, sondern im Herzen. Die großen Schlachten am Tag des Jüngsten Gerichts stellen die äußere wie innere Weltordnung angesichts der unfassbaren Gnade und Barmherzigkeit Gottes auf den Kopf.2

Mittelalter

Aus dem Mittelalter sind heute vor allem die Abenteuer der Ritter von Artus Tafelrunde bekannt. Zusammengefasst: Schwäbische und französische Dichter retextualisierten die Erzählungen keltischer Vorgänger und angelsächsischer Kollegen: pädagogische Coming-of-Age-Geschichten für feine junge Herren, die sich auch kämpferischen Prüfungen stellen müssen, um zu sich selbst und zu göttlichen Tugenden zu finden.3 Das Genre geht auf die Irrfahrten und Heldenepen der hellenistischen Antike zurück4 und bewährt sich bis heute z.B. im Filmgenre der Roadmovies. Krieg ist in der mittelalterlichen Dichtung zunächst ein recht alltäglicher Schauplatz für Bewährungsproben. Die abenteuerlustigen Recken können hier Ruhm erstreiten, Frauen beschützen, Drachen erschlagen usw. Im Nibelungenlied besingt der kühne Wolfhart noch den ruhmreichen Heldentod. Siegfried besiegt die Könige von Sachsen und Dänemark im Zweikampf und rettet das Wormser Reich, womit die Dichtung neben der pädagogischen noch eine historisch-politische Dimension gewinnt.

Schon bei den mittelhochdeutschen Autoren der Artus-Sagas (Ende 12. Jhd.) ging es aber nicht bloß um das Erschlagen möglichst vieler Ungeheuer und Feinde. Auch die inneren Drachen wie Jähzorn, Übermut, Trägheit und Völlerei waren zu überwinden. Parzival muss erst seinen Verwandten Ither töten, bevor er Besinnung und Zurückhaltung üben will. Hartmanns von Aue Erec verliget sich im Schlafzimmer mit seiner Frau und vergisst darüber seine herrschaftlichen Pflichten, bis er aus dem Bett gezogen wird. Rund einhundert Jahre später erhält die blinde Jagd nach Ruhm bei Rudolf von Ems eine fast schon satirische selbstkritische Komponente: „wil er sich selben rüemen vil, / sô jagt er ûf des ruomes zil / den ruom hinz an ein ende / mit solher missewende / daz mit des ruomes missetât / des guoten ruom an im zergât.“5

Zu Beginn der Frühen Neuzeit begegnen deutsche Dichter wie Sebastian Brant in seinem Narrenschiff (1449) den Wirren der Zeit – Pest, Glaubensschisma in Avignon, Krieg mit den Osmanen uvm. – mit Galgenhumor, nach dem Vorbild der italienischen Renaissance (Boccacios Decamerone, Dantes Göttliche Komödie). Die Versdichtung ergänzt mittelalterliche Wertevorstellungen um erste humanistische und bürgerliche Motive. Kürzere novellenhafte Genres finden mithilfe des Buchdrucks allmählich schnellere Verbreitung.

Dreißigjähriger Krieg

Den bis dato größten Tritt erfährt die Dichtung, die sich am Krieg abarbeitet, angesichts der nie zuvor in diesem Ausmaß erlebten Verheerung Europas durch den Dreißigjährigen Krieg. An Lobeshymnen ist von 1618-1648 nicht mehr zu denken. Nicht einmal für Galgenhumor ist hier noch Platz: Die Dichter wollen eine angemessene Sprache finden und beschreiten aus Mangel an Ausdrucksformen neue Wege sowohl inhaltlich wie formal. Martin Opitz, der früh aus Heidelberg vor dem Krieg nach Jütland floh, verfasste die erste deutsche Regelpoetik (Buch von der deutschen Poeterey, 1624), nach aristotelischem und lateinischem Vorbild, aber auch unter Berücksichtigung von Zeitgenossen wie Shakespeare. Antike Genres wie das Trauergedicht erfahren vor dem Hintergrund des Kriegs eine Renaissance. Bemerkenswert ist, dass Opitz die ersten Verse seiner Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Kriegs (Das erste Buch, 1633) in der Überzeugung verfasst, der erste überhaupt zu sein, der in deutscher Sprache nicht nur die Herren besingt, sondern sich vor allem dem „neuen Feld“ der Leiden und Schrecken des Kriegs zuwendet:

Deß schweren Krieges Last, den Teutschland jetzt empfindet,
Und daß Gott nicht umbsonst so hefftig angezündet
Den Eyffer seiner Macht, auch wo in solcher Pein
Trost herzuholen ist, sol mein Gedichte seyn. […]
Du Geist von Gott gesand, ja selber wahrer Gott.
Gib meiner Zungen doch mit deiner Glut zu brennen,
Regiere meine Faust, laß meine Jugend rennen
Durch diese wüste Bahn, durch dieses neue Feld,
Darauff noch keiner hat für mir den Fuß gestellt.
Das ander‘ ist bekant; […]
[…] Wer hat noch nie gehört,
Wie das Poeten-Volck die grossen Herren ehrt […]6

Auch Andreas Gryphius sieht den letzten Ausweg in seinen Barocksonetten in der Besinnung auf Gott (z.B. Es ist alles eitel, 1637, mit Verweis auf Koh 1), verliert zwischenzeitlich aber doch die Hoffnung:

„Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret. […]
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen“

(Thränen des Vaterlandes / Anno 1636, Fassung 1663).

Verfechter beider sich bekriegender Konfessionen verfassen derweil weniger fromme Verse. In spöttischen Pamphleten und Schmähgedichten, zumeist unter Holzschnitten auf schnell und massenhaft gedruckten Flugblättern, unterstellen sie der Feindesseite besonders schreckliche Kriegsverbrechen und Gräueltaten: Fake News und politische Propaganda erleben ihre erste Hochblüte in Europa.7 „Beide Kriegsparteien verhöhnten in Flugschriften und Flugblättern ihre Gegner. Die beliebtesten Ziele protestantischer Polemik waren die Spanier, die Jesuiten und Graf Tilly nach der Zerstörung Magdeburgs, während sich katholische Autoren am liebsten an Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz und der evangelischen Geistlichkeit schadlos hielten. […] ‚Der Tylli hat ein Garn gesponnen / es wird ihn bald zureissen / und wenn wir seine Soldaten bekommen / der Teuffel soll sie bescheissen.‘“8

Seriösere Lyrik beschreitet derweil neue Wege. Friedrich von Logau (alias Salomon von Golaw) beispielsweise legt mit Des Krieges Buchstaben um 1650 eine moderne Versform vor, in der jede Zeile mit einem Buchstaben des Wortes „Krieg“ beginnt. Der kreative Aufbruch hin zu neuen Perspektiven und Formen im Angesicht des Krieges erfährt in den folgenden Jahrhunderten bis 1945 immer wieder auch bedauernswerte Rückschritte, insbesondere seit dem Erstarken nationalistischer Ideen in Preußen, Österreich-Ungarn oder Frankreich in den Wirren zwischen bürgerlich-liberalen Revolutionen und monarchistischen Restaurationsbemühungen.

Die „deutsche Seele“

War etwa in Gryphius‘ Sonetten noch eine klare Trennung zwischen schrecklichem Krieg und tröstendem Gott zu beobachten, dient Gott preußischen Bewunderern ihres militanten Kaisers als parteiischer Schirmherr der eigenen Kriegsbestrebungen. Ziemlich perfide legitimiert der noch junge Johann Wilhelm Ludwig Gleim in seinen Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier seine Siege als Gottes Werk:

[…] Scheut eine Kriegesmuse, die den Held
So tief in seine Schlacht begleitete,
Mit ihm auf Leichen unerschrocken ging,
Wie Engel Gottes in Gewittern gehen […]
Scheut eine solche Muse Blut zu sehn?
Stimm an, verewige den großen Tag,
An welchem Vater Friederich sein Volk
Errettete, durch göttlichen Gesang! […]
Bewundernd Gottes Thaten, Friedrichs Mut,
Wenn er sein Vaterland zu retten geht,
Und lerne Gott und Friederich vertraun.9

Zwar wurden am Übergang vom Barock zur deutschen (National-)Romantik und zum Vormärz auch Werke gedichtet, die sich beispielhaft um Völkerverständigung und Frieden verdient gemacht haben. Lessings Nathan der Weise (1779) etwa oder Goethes West-östlicher Divan (1819), inspiriert von der Weisheit des Persers Hafis, werden deshalb bis heute gelesen. In der breiten Masse aber genoss alles dezidiert als „deutsch“ Empfundene zunehmende Beliebtheit, insbesondere in kämpferischer Abgrenzung zum Feindbild des nach der Revolution erstarkten Frankreich – aber auch aus der Sehnsucht heraus, einen eigenen, vielleicht gar demokratischen Nationalstaat zu gründen. Die Brüder Grimm gaben ihre Kinder- und Hausmärchen (1812) heraus, später die Deutsche Mythologie (1835) und das Deutsche Wörterbuch (seit 1854), womit sie die sprachliche Vielfalt in den deutsch geprägten Landen weiter bündelten. Hunderte Denkmäler mit germanisch-mythologischem und kriegerischem Anstrich werden in diesem Jahrhundert errichtet.

Für die Lyrik stellt die Zeit nach dem restaurativen Wiener Kongress 1815 und den ebenso reaktionären Karlsbader Beschlüssen 1819, mit denen eine strenge anti-liberale Zensur („Preßgesetz“; „Universitätsgesetz“) eingeführt wurde, eine große Herausforderung dar. Während Heinrich Heine etwa zwischen Bewunderung für Napoleon Bonaparte, der 1811 in Düsseldorf einmarschierte, und böser Ironie für die Eliten in „Deutschland“ schwankt, ist sich der junge Dramatiker Georg Büchner sicher: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ (Hessischer Landbote, 1824). Die Revolution von 1848 erlebt Büchner nicht mehr – nach ihrem Scheitern wandern viele enttäuschte und verfolgte Intellektuelle aus, viele in die USA.

„Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“ – diese zwei Verse aus Emanuel Geibels Gedicht Deutschlands Beruf (1861) seien ähnlich zu verstehen wie die erste Strophe des Lieds der Deutschen (1841), das August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Stil der „Rheinlieder“ verfasste („Deutschland, Deutschland …“): Mit dem deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, sei das geeinte deutsche Staatswesen gemeint, von dem eine Friedenswirkung auf das europäische Staatengefüge ausgehen solle.10 Unstrittig ist in dem Gedicht jedoch der Wunsch nach einem starken monarchischen Führer (Wilhelm I.) zu erkennen, der „… mit den Waffen / Endlich Rast und Frieden schaffen“ möge. Ebenso manifestieren sich in dem Gedicht wieder katholiken- und franzosenfeindliche Motive, nach preußisch-protestantischer Manier: „Dann nicht mehr zum Weltgesetze / Wird die Laun’ am Seinestrom [Napoleon III.] / Dann vergeblich seine Netze / Wirft der Fischer [Pius IX.] aus in Rom“.

Den damaligen Wunsch nach einem irgendwie vereinigten Deutschland kann man heute unterschiedlich bewerten. Erschreckend ist jedoch, dass Dichter immer häufiger antisemitische und frankophobe Parolen verbreiten. Besonders berühmt für seinen Hass auf die Franzosen macht sich der Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860), späterer Alterspräsident in der Frankfurter Paulskirche. Seine Hetzerei ging sogar so weit, dass er der Universität Greifswald, an der er lehrte, verwiesen und als Demagoge geahndet wurde. Das hinderte ihn nicht daran, zahlreiche Burschenschaften zu gründen – unter anderem die christlichen Wingolf-Burschenschaften – und weiter antisemitische und völkisch-nationalistische Schriften zu verbreiten.

Der Nationalismus erfährt insbesondere nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 einen vorläufigen Höhepunkt. Weiterhin halten antisemitische und rassistische Motive Einzug in die Literatur und in das Liedgut, auch in den deutschen Kolonien etwa im heutigen Namibia. Der Großteil dieser Schriften geriet zu Recht in Vergessenheit. Es gibt andererseits erfrischende Ausnahmen von der Kriegstümelei in der Lyrik der Kaiserzeit, etwa Theodor Fontane, der selbst als Kriegsberichterstatter in Frankreich war. In Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 schwärmt er von der korrekten Bürokratie und Fairness der Franzosen. Weitere deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker orientieren sich – ironischerweise – am kulturellen Vorbild Frankreich, insbesondere am häufig religiös-okkultistisch aufgeladenen Symbolismus. Diese kurze Blütezeit am Fin de Siècle stellt vorläufig eine der letzten literarischen Epochen dar, die von eher gesetzten Formen und klassischen Motiven geprägt ist.

Eine für die Literatur noch größere Erschütterung als der Dreißigjährige Krieg stellt vielleicht der Erste Weltkrieg dar. Die Lyrik – wo sie sich nicht nationalistischer Propaganda anbiedert – bricht aus ihren Formen. Besonders anschaulich lässt sich dieser Wandel bei den Dichtern des Übergangs vom Symbolismus hin zum Expressionismus nachlesen, bei Rainer Maria Rilke beispielsweise oder bei dem österreichischen Apotheker/Sanitäter Georg Trakl, der sich nach erschütternden Gefechten in der heutigen Ukraine das Leben nahm. Im Expressionismus, nach Auffassung einiger Literaturhistoriker die erste eigene deutsche Innovation auf literarischem wie künstlerischem Feld, kehrten Dichter ihr innerstes Seelenleben nach außen. Dafür musste abermals eine neue Sprache gefunden werden: keine Strophen mehr, kein durchgehendes Metrum mehr und eine verkehrte Syntax wie bereits in Georg Trakls Grodek (1914):

Doch Stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

Die Nachkriegszeit der Weimarer Republik wirkt aus heutiger Sicht vielleicht schizophren: Die einen feiern, als gäbe es kein Morgen mehr, beispielsweise im sogenannten Sündenbabel Berlin. Mit dem Wirtschaftswunder gibt es ein berauschendes Goldenes Jahrzehnt, in dem der Hedonismus kultiviert wird wie lange nicht mehr. Viele spannende Genres wie der bloß auf den ersten Blick alberne Dadaismus entstehen. Andere Publizisten verarbeiten noch die Schrecken des Ersten Weltkriegs, verwerfen oder besinnen sich auf die christliche Spiritualität, gehen im chaotischen Aufbruchsdiktat der Zeit11 in der Masse schließlich eher unter. Zahlreiche neue Formate und Zeitschriften12 werden gegründet, die Antworten auf die großen Fragen der Menschheit und Gesellschaft suchen: teilweise in der Literatur weit vor dem Ersten Weltkrieg. Der revolutionäre Georg Büchner (1813-1837) wird mit Alban Bergs 1925 in Berlin uraufgeführten Oper Wozzeck weithin beliebt. Hölderlins deutschtumskritischer Hyperion (1797-1799) steht wieder in vielen Regalen und wird fleißig zitiert. Zentral für die Literatur werden große politische Fragen: Frauenrechte, Arbeiterrechte und kommunistische Ideen einerseits, andererseits die rasant erstarkende faschistische Bewegung, die recht leicht sowohl an konservativen Strömungen wie auch an der Jugendbewegung und ihren zum Teil deutsch-romantisierten Wanderliedern Anschluss findet. Nach politischen Morden von Links- und Rechtsextremen an politischen Gegnerinnen (z.B. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 oder Walther Rathenau 1922) verschärfte sich die Zensur vor allem zum Nachteil sozialistisch orientierter Schriftsteller (z.B. Johannes R. Becher) zunehmend, während rechts zu verortende Autoren weitgehend unbehelligt publizieren konnten.

Lyrik nach Auschwitz

In der allgemeinen Stimmung der großen Weltwirtschaftskrise ab 1929, die in Deutschland durch die hohe Last der Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg verstärkt wurde, fassten die Faschisten weiter Fuß, bis zur Machtübergabe an die NSDAP 1933. Das rechtsextreme Unrechtsregime der Nationalsozialisten reizte auf perfide Weise die Mittel der Rhetorik, der Kriegspropaganda und der antisemitischen Hetze aus, riss dafür Verse beliebter Dichtungen seit dem Nibelungenlied aus ihrem Kontext und machte Kritikerinnen mundtot oder deportierte sie in die mörderische Maschinerie der Konzentrationslager. Das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ unter Joseph Goebbels kontrollierte jeden Bereich des öffentlichen kulturellen Lebens, der Presse und der Künste. NS-freundliche Lyrik, die es freilich gegeben hat und bis heute gibt,13 soll an dieser Stelle keine Erwähnung finden. Kritischen Lyrikern blieben allein die Optionen, früh zu fliehen, in die innere Emigration zu gehen und zu verstummen oder im Untergrund zu agieren.

Während heute die Exilliteratur beispielsweise von Rose Ausländer, Bertolt Brecht oder Anna Seghers14 angesichts von aktuellen Flucht- und Vertreibungsgeschichten längst ihre traurige Brisanz auch in Deutschland wiedergefunden hat, werden auch poetische Berichte und Verarbeitungen von direktem Kriegsgeschehen spätestens seit dem Krieg in Syrien wieder aktuell, soll heißen: in Deutschland gelesen.15 Die überlebenden Dichter des Zweiten Weltkriegs, die als Soldaten etwa in den Schützengräben gekämpft hatten, brachen – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Dreißigjährigen Krieg – die bestehenden sprachlichen Formen weiter auf: zerfetzte Verse wie zerfetzte Leiber, traumatisiertes Stammeln, vereinzelte Laute, die wie Maschinengewehre klingen sollten, anschaulich bei Ernst Jandl:16

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Deutsche Literatur stand nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Verdacht, mitverantwortlich für die ungeheure und nie dagewesene Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Massenvernichtung und des Holocaust zu sein. Zur Bedeutung der konkreten Funktionalität und Ausgestaltung einer Sprache auf die Psyche und das Denken ihrer Sprecher gibt es inzwischen unzählige interessante Studien,17 die damals noch nicht bekannt gewesen sind. Die Theorie (in diesem Kontext): Wer jahrzehntelang Lieder und Gedichte über engelsgleiche blonde Frauen einerseits und andererseits verschlagene und durchtriebene Dunkelhaarige liest, verändert unterbewusst sein Menschenbild. Paul Celan thematisiert das 1948 in einem Zweizeiler am Ende seiner Todesfuge: „dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith“. Goethes Idealbild einer Frau (aus Faust) wird dem Idealbild der hebräischen Frau aus dem Hohelied 7,1-14 gegenübergestellt.

Der jüdische Philosoph Theodor W. Adorno schrieb 1949 von diesem Gedankengang unabhängig sein berühmt gewordenes Diktum: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist Barbarei“, das übrigens im weiteren Kontext zu lesen lohnt: „Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“18

Eine andere Kritik: Lyrik ist schön. Selbst wenn sie wie bei den morbiden Gedichten des Pathologen Gottfried Benn das Hässliche ästhetisiert, bleibt sie doch ästhetisch. Für derlei schöne Dinge, die vor den unsäglichen Grausamkeiten der Shoa bestenfalls als naiv gelesen werden können, gibt es keinen Platz mehr: Angemessene Worte für jene Schrecken zu finden sei ohnehin unmöglich, und die Schrecken in Verse zu packen entspreche dem Versuch, das Geschehene zu verschönigen oder gar derart zu erfassen, als ob man es erklären könne.

Insbesondere der in Czernowitz (ehem. Großrumänien, heute Ukraine) geborene Dichter Paul Celan (geb. Antschel), der beide Eltern im Konzentrationslager verloren hatte, zeigt in seinen pikanterweise stets auf Deutsch verfassten Gedichten, dass es noch einen Ausweg für die Lyrik nach Auschwitz geben kann: dorthin, wo der biografische Bezug gegeben ist, ein persönliches Betroffensein. Durch diese Poetologie gewinnt die Person des Autors unweigerlich selbst an Bedeutung für dessen Deutung. Celan beansprucht nicht, die absolute Kontrolle über sein Werk und dessen rechte Interpretation innezuhaben, im Gegenteil, aber er weiß um die Wirkung der Authentizität biografischer Daten in seinen Texten: „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache. Aber ich denke […] daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen“, sagte er in der vielbeachteten Meridian-Rede anlässlich seiner Ehrung mit dem Georg-Büchner-Preis 1960.19

Kalter Krieg

Während die Literatur der Bundesrepublik in den Wirtschaftswunderjahren der 1950er-Jahre in eine Art neues Biedermeier verfällt und sich – in der Masse – mit zahnloser Unterhaltung begnügt, als flüchte sie vor weltpolitischen Ereignissen, sucht die junge DDR ihre sozialistische Identität. Schriftsteller wie Bertolt Brecht erhoffen sich dort gute Bedingungen, kehren aus ihrem Exil zurück und helfen zunächst beim Aufbau. Mit zunehmender Drangsalierung und Zensur greifen auch in der DDR wieder die Mechanismen der Dichtung im Krieg: Schriftstellerinnen fliehen, wenn sie es schaffen, aus dem Land oder werden mit Berufsverbot, Überwachung und Verhaftung bedroht. Einige arbeiten im Untergrund, andere gehen in die innere Emigration. Eine Besonderheit stellen Autoren dar, die es vermochten, an der Zensur vorbeizuschreiben, indem sie eine neue Sprache fanden. Die Metaphorik beispielsweise in Stefan Heyms Der König David Bericht (1972) oder in Christa Wolfs Kassandra (1983) trug die autoritarismus-kritische Botschaft am Staatsapparat vorbei in die Wohnzimmer derer, die sie herauszulesen vermochten.

In die Wohnzimmer kamen mit der voranschreitenden Globalisierung und der Verbreitung der Fernseher auch ferne Kriege: „Von Saigon nach Hanoi so weit / wie von Berlin nach Kiew“ (Erich Fried: 42 Schulkinder); „Vietnam ist Deutschland“ (Gleichheit Brüderlichkeit).20 Bilder aus dem von den USA überfallenen Vietnam gingen um die Welt. In den USA und auch in der Bundesrepublik entwickelte sich eine Friedensbewegung, die den Krieg und die Aufrüstung mit Atomwaffen verabscheuten. Neben zahlreichen Liedern der 68er-Bewegung entstanden auch die zumeist zynischen Gedichte von Erich Fried, der in Wien einst Widerstand gegen die Nazis leistete, als Kind jüdischer Eltern aber nach London fliehen musste, nachdem sein Vater ermordet worden war. Einleuchtend:

Es kann nicht sein / daß die Amerikaner
ohne Notwendigkeit / vietnamesische Kinder verbrennen

Es kann nicht sein / daß die Amerikaner
Marschall Ky unterstützen / wenn er wirklich ein Schurke ist […]

Er sagt wirklich / sein Vorbild ist Adolf Hitler
also kann es gar nicht so schlecht sein / wenn man Hitler zum Vorbild nimmt

Doch auch Hitler hat Kinder verbrannt / und nicht in Vietnam sondern näher
Warum also regt man sich auf / wenn die Amerikaner das tun

Weniger stilistische Mittel als vielmehr ein telegrafisch anmutender Duktus – nüchtern wie ein journalistischer Bericht, aber inhaltlich subjektiv und verbittert – bestimmt viele von Frieds Vietnam-Texten. Der Inhalt an sich – die Kriegsverbrechen – sind schrecklich genug und bedürfen keiner formalen dichterischen Spielerei. Jedoch dokumentiert das lyrische Ich nicht bloß, sondern bringt sich einschließlich ethischer Reflexionen und einschließlich der persönlichen Verbitterung ins Spiel. Im Gegensatz zum Expressionismus will der Autor politisch aktiv sein und die Gesellschaft beeinflussen: Es leidet nicht nur der einzelne Dichter, sondern alle sollen die Ungerechtigkeit sehen, mitleiden und handeln.

„Schwerter zu Pflugscharen“ – das geflügelte Wort aus dem Alten Testament (Mi 1,1-4) wurde zum Leitspruch der Friedensbewegung. Doch mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 endete der Kalte Krieg nicht. Die atomare Abrüstung ist nie erfolgt, Spionage-Aktivitäten erfahren eine neue Blütezeit, Stellvertreterkriege werden geführt und (außen-)politische Morde, häufig durch Russland sogar in Deutschland oder in Großbritannien, sind keine sonderlich kuriose Seltenheit.

Putin, der seit Februar einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, beruft sich für seine Ansprüche auf ukrainisches Land auch auf russische Literaten, tut aber den meisten von ihnen damit Unrecht.21 In den besetzten Gebieten soll kein Ukrainisch gesprochen oder gelesen werden, denn Sprache schafft Identität. Gleichsam werden im Westen russischsprachige Künstlerinnen verworfen: Das ist in der Ukraine allzu verständlich, jedoch ist nicht jedes russische Werk qua lingua totalitaristisch und imperialistisch – so wie nicht jedes deutsche Werk qua lingua nationalistisch und rassistisch ist (s.o.).

Goethe schrieb über die Belagerung von Mainz 1793: „Wie aber der Mensch überhaupt ist, besonders aber im Kriege, daß er sich das Unvermeidliche gefallen läßt und die Intervalle zwischen Gefahr, Not und Verdruß mit Vergnügen und Lustbarkeit auszufüllen sucht.“22 Das erinnert an Bilder aus den ukrainischen Städten, in denen bloß wenige Kilometer von der Front entfernt, das Leben in den Cafés und auf der Straße weitergeht, bis es vom Raketenalarm und Einschlägen unterbrochen oder gar vernichtet wird. In den am heftigsten bombardierten Städten sollten U-Bahn-Schächte Luftschutz bieten, manchmal über Monate. Die Menschen dort organisierten Lesungen, Comedy und Konzerte. Dabei geht es nicht um „Vergnügen und Lustbarkeit“, sondern ums Überleben: „Nach einem halben Jahr Krieg vergisst man, dass es in dieser Welt noch so etwas wie ein normales Leben gibt – dieses Konzert hat mich daran erinnert“, sagt ein ukrainischer Soldat nach einem Konzert an der Front.23 Die Kunst wird zum Trotz, steigert die Resilienz und den Zusammenhalt. Dabei hilft auch das Internet. In Sozialen Medien werden die Texte und Lieder schnell verbreitet, und sie zeigen: Der Kampf, aber eben auch das Leben, gehen weiter. Unter dem Hashtag #Antikriegslyrik sammelte der Trabanten-Verlag Gedichte für eine Anthologie24 von allen, die dazu etwas online stellten. Das soll Solidarität auch aus Deutschland vermitteln.

Kann Dichtung helfen?

„Gegen Leute mit Maschinengewehren … hilft keine Dichtung“, sagte Halyna Kruk in ihrer Anfangs zitierten Rede. Kann Dichtung helfen? Zwar braucht die Lyrik keinen verwertbaren Nutzen – etwa indem sie Trost spendet oder zum Aufstehen motiviert. Lyrik darf auch sonst als Kunst gelten oder geschrieben werden. Lyriker sehen sich jedoch oft in der Verantwortung, angesichts unsäglichen Leids nicht nur Worte zu finden, sondern auch die geeignetste Form. Ein unkritischer Lobeshymnus auf welchen Staatsmann auch immer erschiene heute eindeutig aus der Zeit gefallen. Aber die authentischen Reflexionen, die nach Antworten suchen, selbst wenn sie keine finden, erhalten eine Stimme. Das Leid wird sichtbar, mahnt heute zu Mitgefühl und wird morgen zum Mahnmal. Der konkrete oder implizite Handlungsappell eines Gedichtes an die Leser setzt – unabhängig von der ursprünglichen Intention der Dichterin – nicht auf die aristotelische Katharsis im Sinne einer kurzweiligen Sühne oder eines Abreagierens, sondern auf nachhaltige Veränderung, auf Verständnis und Anteilnahme. Geschriebenes will ja gelesen werden.

Die ukrainische Dichterin Halyna Kruk führte ihre Rede in Berlin fort: „Die Geschehnisse sind ein starker Stoff, darüber könnte ein europäischer Autor ein Buch für die Ewigkeit schreiben, das noch und noch gelesen wird. Aber jemand, der das selbst erlebt hat, wird dieses Buch nicht schreiben. Denn keiner hat die Kraft, all das durchzustehen und anschließend anderen diesen Schmerz zu erklären.“25 Und dann liest sie doch, auf der „Weltweiten Lesung ukrainischer Literatur“ am 7. September 2022, im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin:

[…] der Krieg verkürzt den Abstand
von Mensch zu Mensch, zwischen Geburt zu Tod,
zwischen dem, was wir nicht wollten,
und dem, wozu wir fähig sind […]
der Krieg tötet mit den Händen der Gleichgültigen
und selbst mit den Händen der untätig Mitfühlenden26

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