Nicht nur das Böse kehrt wieder zurück, wie Stefan Kiechle im Editorial unseres Mai-Heftes anmerkte, sondern auch die Rede von der „dunklen Seite Gottes“. Anlass dafür gibt es genug, wie die Artikel- und Buchproduktion in den jüngsten Wendezeiten deutlich macht. Wo ist Gott gerade jetzt? Hat Gott eine dunkle Seite? Und was könnte damit gemeint sein?
Zunächst ist mit der dunklen Seite Gottes wohl einfach die unserem Erkennen dunkel bleibende Seite Gottes gemeint. Dass sie zu Gott gehört, drückte das kirchliche Lehramt klassisch so aus: „Zwischen dem Schöpfer und Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre“ (IV. Laterankonzil, 1215). Das heißt: Die dunkle Seite Gottes ist größer als die helle Seite Gottes. „Wenn du Gott verstanden hast, ist es nicht Gott“ (Augustinus). Damit ist keine Einladung zur Denkfaulheit ausgesprochen, wohl aber zu Respekt, ja Ehrfurcht vor dem „Gegenstand“. Leichtfertiges Reden über Gott ist in jeder Hinsicht unangemessen: theologisch, pastoral, spirituell.
Die Rede von der dunklen Seite Gottes hat ihren Ort auch in therapeutischen, pastoralpsychologischen und in historisch-kritischen Zusammenhängen. Da geht es dann mehr um Gottesbilder als um Gott, um dunkle, „dämonische Gottesbilder“ (Karl Frielingsdorf), die Menschen krank machen, und im Fall der Fälle auch um einen kritischen Blick auf die Gottesbilder der biblischen Tradition und der kirchlichen Verkündigung. Jedenfalls: „Gott“ wird so als „Gottesbild“ Gegenstand kritischer, aufklärender Diskurse. Die Psychologie nimmt die Bilder unter die Lupe und bewertet ihre heilenden oder unheilvollen Wirkungen auf die menschliche Psyche. Literaturwissenschaftler verfassen eine „Biographie“ Gottes (Jack Miles) und fördern faszinierende Erkenntnisse über die Entwicklung von Gottesbildern im Buch der Bücher zutage. Die Fachexegese stellt Gottesbilder, die aus guten Gründen als problematisch empfunden werden, in den historischen Zusammenhang – das ist nebenbei gesagt auch eine der besten Immunisierungen gegen fundamentalistische Bibellektüre und den Missbrauch von biblischen Texten für die Legitimation von Gewalt.
Schließlich gibt es auch in der mystischen Tradition wichtige Bezüge zur Metapher der Dunkelheit: Die „dunkle Nacht der Seele“ (Johannes vom Kreuz) meint in der karmelitischen Mystik nicht die „dunkle Seite Gottes“ selbst. Es geht ihr um den prozesshaften Charakter des Dialogs zwischen der menschlichen Seele und Gott. Die „dunkle Nacht der Seele“ gehört zum Prozess der Transformación en Dios: Gott entzieht sich der Seele, um sie dadurch noch näher an sich zu ziehen. Auch die ignatianische Mystik kennt diese Erfahrung, dass Gott sich entzieht, um die Seele noch näher an sich zu ziehen. Die Schwierigkeit dieser Vorstellung besteht darin, dass der Sinn des Entzugs nur im Rückblick erkannt werden kann. In der Phase des Entzugs selbst ist auch der Sinn des Entzugs verborgen. Die „dunkle Nacht der Seele“ ist wirklich dunkel.
Soweit, so gut. Es gibt allerdings eine Grenze in der Rede von der dunklen Seite Gottes. Sie betrifft die Ethik. Hier gilt: „Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm“ (1 Joh 5). Es gibt zwar Dunkles, das in der individuellen oder auch kollektiven Psyche als „böse“ abgespalten ist und reintegriert werden kann. In der gegenwärtigen Reformagenda werden solche tief lagernden Abspaltungen in Form von abwertenden Frauenbildern, homophoben Lehrinhalten oder unterschiedsloser Ablehnung des Zeitgeistes kritisch angesprochen. Aber Sünde ist mehr als nur abgespaltener Schatten, und Gericht ist kein Restbestand eines dunklen Gottesbildes. Existentiell von Gott, oder besser, zu Gott sprechen, auf ihn hören, sich ihm in Leben und Sterben anvertrauen, das ist nur möglich, wenn wirklich stimmt, dass „Gott die Liebe ist“ (1 Joh 4,16). Die ist Gott aber nur, wenn in ihm keine Finsternis der Sünde ist.
„Gott ist die Liebe“, das heißt eben: Gott ist Kommunikation, personal, mehr als nur zählerisch eine Person. Genauer: Gott ist gelingende Kommunikation zwischen Ich und Du, vereint um einen Tisch zu einem Wir. Die ganze Schöpfung ist eingeladen, hinzuzutreten. Einheit der personalen Liebe ist der schöpferische Urgrund allen Seins. Diese „verborgene Gottheit“ (Thomas von Aquin) ist immun gegen das Dunkel des Bösen. In der Menschwerdung des Sohnes setzt sie sich den ansteckenden Potentialen der Gewalt aus – und widersteht der Infizierung durch missbrauchende Nähe, „in allem uns gleich außer der Sünde“ (vgl. Hebr 4,15). Dieses Widerstehen ist keine einfache Sache, wenn man wirklich in die Gewaltverhältnisse hinabsteigt. Würde der Sohn der „listig“ (Gen 3,1) agierenden Logik der Gewalt auch nur einen kleinen Finger reichen, wäre die ganze Gottheit infiziert. Sie wäre dann nicht mehr „die Liebe“. Genau diese Liebe aber, in der keine Finsternis ist, ist das Fundament des christlichen Glaubens und die Hoffnung des ganzen Universums.