Gerhaher, Christian: Lyrisches Tagebuch. Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm.
München: C.H.Beck 2022. 334 S. Gb. 25,–.
Erdverbunden auf den Mond schauen – das ist die Ausgangssituation von Liebesbotschaften in der Lyrik ab 1780. Da ist der Ausdruck komplementären Fühlens, wenig Kumulatives, keine Mitteilung aktueller Befindlichkeiten wie etwa in vielen Kurznachrichten: „ich bin da und dort, ich mache dies und das, *Kosename*, *Emoji*“. Ein Mann und eine Frau, große Strecken voneinander entfernt, schauen zur selben Zeit auf den Mond, auf die Sterne: Die Sonne scheidet aus, sie blendet und generiert optische Täuschungen, Nebensonnen; und sie spüren die Ferne und die verbindende Sehnsucht zugleich. Das Schauen und Schreiben und Hoffen wird zu einem komplementären Ganzen – zwischen den Liebenden der Äther, die bewegte Luft, die Klänge der Gestirne, Schallwellen, Lieder…
Beethoven schafft einen ersten Liederzyklus an die ferne Geliebte, danach Schubert, Schoeck, Wolf und vor allem Schumann. Christian Gerhaher hat mit seinem Klavierbegleiter und Freund Gerold Huber kurz vor Erscheinen des „Lyrischen Tagebuchs“ alle Lieder von Robert Schumann veröffentlicht: auch da das Komplementäre stark betonend. Es geht weder im Buch noch in den Liederaufnahmen um die Selbstdarstellung eines Solisten. Gerhaher lädt Kolleginnen ein, mit ihm und Gerold Huber über ein lyrisches Ich zu reflektieren, komplementär zu gestalten, in die kreative Beziehung von Robert und Clara einzutauchen. Die war voller Spannung und beseelt von der Erweiterung des Klangspektrums. Kein Wunder, dass sie das Klavier aus der reinen Liedbegleitung entlassen und auch auf dieser Ebene ein komplementäres Fühlen angestoßen wird.
Der Hörer und der Leser erahnt, dass klingende Lyrik den Rahmen des Musikalischen sprengt. Christian Gerhaher macht das anhand von Notenbeispielen deutlich – da ist er der Hochschullehrer mit Hingabe und Akribie. Stellen, an denen das Buch nicht ganz leicht zu lesen ist. Man sollte sich die Zeit nehmen, die Lieder(-zyklen) nachzuhören. Mahlerlieder, besser mit Klavier oder mit Orchesterbegleitung? Lieder sind eine vokale Form von Kammermusik, damit ist klar, warum Gerhaher etwa die Lieder von Othmar Schoeck und Wolfgang Riehm mit Kammerorchester schätzt, warum Haydns und Beethovens Schottische Lieder mit Klaviertrio seinem Klangideal nahekommen.
Das Kapitel über Schuberts Winterreise zeigt auch, wie eine vordergründige Deutung – als Ansammlung von Todeschiffren – tiefgründig in die Irre führen kann und warum ein Auswandern aus traditionellen Welten – basiert auf einer einheitlichen Textvorlage – zur Abstraktion in ein weltdeutendes System mit Kompilation vordergründig uneindeutiger Texte durch den Komponisten Schumann und anderer führen muss. Keine Minidramen, sondern Steinstelen, Gebirge und Klüfte wie in den „Szenen aus Goethes Faust“, kein Zyklus in der Natur, das Pulsieren des Unendlichen, des Ewigen.
Ein Sänger, ein Pianist, der sich fragt: Wie füge ich mich kreativ in den Sinn der Werke ein? Das macht Gerhaher klar: Das ist tägliche Arbeit nach Bedeutungssuche, Orientierung an erfahrenen Kolleginnen und Kollegen (Edith Mathis, Hermann Prey, Ruth Ziesak, Heinz Holliger), Arbeit an sinnvoller Anordnung der Stücke eines Liederabends, Gespräche mit Fachleuten, Literaturrecherche… Gerhahers immenses Wissen, sein Lampenfieber, seine Fähigkeit zur Selbstkritik, seine Bodenständigkeit, sein vehementes Eintreten gegen umstrittene Auftrittsverbote in Zeiten der Pandemie. Keine Kunst um der Kunst willen, sondern eine Begleitung durch Lieder, mit der der Leser und die Hörerin sich lange sinnend aufhalten können.
Hermann Reigber
Hilbert, Matthias: Gottfinder. Dichterbekehrungen durch die Jahrhunderte. Vierzehn Dichterporträts.
Neuenkirchen: Steinmann 2021. 141 S. Kt. 16,80.
Der vorliegende Band sammelt Porträts von vierzehn namhaften und – jedenfalls im deutschen Sprachraum – weniger namhaften christlichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern von der Spätantike über Autoren des französischen renouveau catholique bis hin zu Nobelpreisträgerinnen und schriftstellernden Politikern. Wie schon in dem vorhergehenden Band „Gottsucher“ (Neuenkirchen 2020) werden Lebensläufe unter dem Aspekt der Bekehrung zum christlichen Glauben in kurzen und informativen Porträts dargestellt. Augustinus, Paul Claudel, T.S. Eliot, Manfred Hausmann, Johann Heinrich Jung-Stilling, Willy Kramp, François Mauriac, Dorothy Sayers, Reinhold Schneider, Rudolf Alexander Schröder, Sigrid Undset, Georges Bernanos.
Besondere Erwähnung verdient angesichts der aktuellen Debatten um „kulturelle Aneignung“ das Porträt von Karl Mays Hinwendung zum Christentum. Das verdeutlicht auch den Wert der ganzen Sammlung: Wenn die portraitierten Autoren plötzlich einmal wieder im Fokus der Öffentlichkeit stehen, erfahren wir bei Hilbert Dinge, die andernorts nicht oder nur nebenbei thematisiert werden. Der Fokus auf die religiöse Entwicklung steuert zudem etwas Wesentliches zum Gesamtbild bei, was in anderen Darstellungen aus dem säkularen Raum eher übersehen wird oder z.T. als Schwärmerei abgetan wird. Dabei laufen die religiösen Entwicklungen mal gradlinig, mal turbulent. Sie lassen sich nicht konfessionell einengen, oder umgekehrt: Wenn Bekehrungserlebnisse zu konfessionalistischen Verengungen führen, mindert das doch nicht den Wert der geistlichen Erfahrung selbst und ihrer literarischen Verarbeitung in Romanen, Gedichten und Essays.
Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz geworden, zu sagen, dass die Chance des Christentums darin liegt, dass es sich auf Erfahrungen beziehen kann, die nicht einfach nur in der Vergangenheit versinken, sondern die sich auch heute ereignen. Der Auferstandene lebt. In diesem Sinne stehen die hier vorgestellten Biografien für ein lebendige Christentum, das bei allem Respekt vor der Tradition zugleich inspiriert ist von einer inneren Erfahrung, die dem Glauben einen persönlichen Geschmack verleiht.
Klaus Mertes SJ
Nayhauss, Hans-Christoph Graf von: Wege mit Kafka – Wege der Literaturwissenschaft. Bio-bibliographische und literaturwissenschaftliche Annäherungen an ausgewählte Werke Franz Kafkas.
Hamburg: Kovač 2020. 256 S. Kt. 39,80.
Wie die neuern Forschungen von Georg Langenhorst oder Karl-Josef Kuschel erwiesen haben, ist die Beschäftigung mit der schönen Literatur eine stete Herausforderung für den Theologen. War in den 1950er-Jahren das Interesse einer christlichen Interpretation der Werke Kafkas recht groß gewesen, so ist es inzwischen eher einem dialogischen Verhältnis zu Kafka gewichen. Man hatte früher viel stärker die kabbalistische Tradition wahrgenommen, in welcher Kafka stand. Das angezeigte Werk des Karlsruher Germanisten H.-Ch. Graf v. Nayhauss macht wieder auf diese kabbalistischen Einflüsse auf das Werk Kafkas aufmerksam. Er stützt sich dabei auf die Forschungen von Karl Erich Grötzinger, der mit seinem Buch „Kafka und die Kabbala“ von 1992 in bahnbrechender Weise Kafkas Übernahme kabbalistischer Theologie bei gleichzeitiger Distanzierung zu den magischen Praktiken der schamanenähnlichen Chassidim aufgezeigt hatte. V. Nayhauss‘ Werk bietet zunächst eine persönliche Stellungnahme zur Begegnung des Autors mit Kafka im Studium, später als Deutschlehrer in der Schule und schließlich als Universitätsprofessor in seinen Seminaren. Die internationalen Kafka-Konferenzen werden geschildert. Im Weiteren streift der Autor die Rezeptionsgeschichte Kafkas und die neuere Diskussion. Anschließend (27-134) bringt er eine lesenswerte Überblicksvorlesung zu Kafkas Schaffen. In den folgenden Aufsätzen, die zwischen 1974 und 2014 schon einmal publiziert worden sind, werden interkulturelle Neuansätze verfolgt. Leider berücksichtigt der Autor die Romane Kafkas nicht. Gleichwohl bringt er einen interessanten Interpretationsansatz zur Geltung. Die chassidischen und kabbalistischen Hintergründe werden herausgearbeitet und an der „Kleinen Fabel“ sowie in Kafkas „Der Geier“ exemplifiziert.
Die These, dass Kafka von der Kabbala Jizchak Lurjas aus dem 16. Jahrhundert direkt beeindruckt worden sei, ist allerdings gewagt. Auch dass Kafka dessen Lehre von der Seelenwanderung als Strafe aufgenommen (238) und den Tod des in einem Tier verkörperten Menschen als Erlösung betrachtet habe (184-188, 240), ist zu weit hergeholt. Schließlich vermisst man die andere Seite Kafkas, seinen Humor, seine Liebe zur Komik und zum Grotesken. Diese Seite Kafkas wird allgemein zu wenig gesehen. Kafka ist auch für die christlichen Theologen meist der Autor einer existenziellen Verzweiflung. Die Theologie sollte aber einerseits am kabbalistischen Gedanken des Gerichts und der Erlösung anknüpfen, andererseits an dem grotesken Humor Kafkas, wie er sich etwa in den Gerichtsszenen des Prozess-Romans zeigt.
Es gibt wohl kein Ende der Kafka-Interpretationen, wie Kafka schon selbst voraussah. Was ist die richtige Interpretation? Die Analysen von H.-Ch. Graf v. Nayhauss regen dazu an, sich als Theologe wieder mit Kafka zu beschäftigen. Kafka selbst gibt in der Auslegung der Türhüter-Parabel (Vor dem Gesetz, 1915) einen Hinweis zur dialektischen Interpretation: „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“
Ralph P. Crimmann
Hürlimann, Thomas: Roter Diamant. Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2022. 320 S. Gb. 24,–.
Hegel soll die Rolltreppe erfunden, Nietzsche seinen Regenschirm vergessen, eine Festgesellschaft ihren Nationaldichter Gottfried Keller übersehen haben: Thomas Hürlimanns Prosa-Erzählungen und Essays sind reich an komödiantischen Elementen. Erst recht sind seine Romane der Groteske verpflichtet. Und das mit ernsthaften Gründen: Denn der literarische Verhängnisforscher bedarf einer höheren Heiterkeit, um existentielle und familiäre Krisen, soziale und politische Abgründe zu überwinden. Das gilt ganz besonders im neuen Roman Der Rote Diamant. In der Tageskritik sogleich mit Lob bedacht, gehört dieser Roman zum Besten, was wir bislang von Thomas Hürlimann haben. Es ist eine tragikomische Internatsgeschichte, ein abenteuerlicher Klosterroman auf den Spuren von Borges und Eco, eine entdeckungsfreudige Detektiv-Story – und ebenso eine herrliche Groteske aus einem Schweizer Stiftsinternat. Das ist autobiografisch grundiert, aber mit poetischer Imagination ausgeschmückt. Hürlimann war von 1963 bis 1968 tatsächlich Internatsschüler in der Stiftsschule Einsiedeln.
Es beginnt mit der Fahrt zum Kloster, das hier „Maria zum Schnee“ heißt. Auf dem winterlichen Weg bergauf schlittert der Wagen mit Mutter und Sohn in den Graben, „das Heck ragte schräg empor, wie bei der untergehenden Titanic“. Der Schiffsuntergang ist eines der Leitmotive des Romans, auch die Klosterbibliothek, „Bücherarche“ genannt, wird am Ende auf Grund gesunken sein. Nach oben indes geht die Abenteuerlust der Jungen. Sie entdecken Geheimtreppen hinter Säulentüren, besuchen Uhren- und Wetterbruder in deren Türmen und besetzen eine Bauhütte im Dachstock der Kathedrale. Alles mit einem Ziel: den legendären Roten Diamanten zu finden.
Dieser Edelstein ist der eigentliche Held des Romans. Es gibt ihn wirklich, und der Autor hat daraus wahrlich eine Groteske gemacht: Von Brust und Hals von Königinnen, Schwert und Krone von Kaisern und Päpsten ist der Diamant aus dem Kronschatz der Habsburger nach dem Zerfall des Reiches 1918 in die Kostümkoffer eines Operettenensembles und in die Hände eines windigen Theateragenten gewandert, bis er in die Madonnenkrone in der Klosterkapelle gerät. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Pointe wird erst am Schluss enthüllt, wenn der Diamant – mitsamt der Schüler – das Kloster verlassen hat.
Die Himmelskönigin in der Barockkapelle des Klosters hat ein weltliches Pendant, die ehemalige Kaiserin Zita, die selbst im hohen Alter einmal im Jahr in der Klosterkirche die Seelenmesse für ihren Mann lesen lässt. Auch Mimi, die Mutter des Ich-Erzählers, ist eine säkularisierte Madonnenfigur. Und es wäre kein Hürlimann-Roman, kämen dem Heranwachsenden unterdessen nicht allerlei erotische Figuren in die Quere.
Thomas Hürlimann erzählt die Suche nach dem Diamanten, die zugleich Bildungsreise und Identitätssuche ist, unternehmungslustig und mit jenem esprit de l’escalier, über den er 1997 einen funkelnden Essay geschrieben hat. Treppauf und treppab, in Ersatzparadiese und Keller-Reduits führen die locker gegliederten Kapitel des Buches. Diese Erzählweise ins Vertikale richtet unsere metaphysischen Antennen neu aus, die epischen Scheinwerfer gehen nach oben, auch in den Nicknamen der Patres und Schüler, die „die drei Sinnigen“, „Drache“, „Drossel“, „Viper“, „Nase“, „Kluger“ heißen. Ein durchaus theologisch instrumentierter Roman also, der Hürlimanns „Heimweh nach den verlorenen Ober- und Unterwelten“ entsprungen ist.
Michael Braun