Frau Kanumba [Namen geändert] ist Betroffene von Menschenhandel. Bislang hat sie nicht gewagt, jemandem von ihren Erlebnissen zu erzählen. Doch die Erfahrungen lasten schwer auf ihr. Herr Abena hat eine schwierige Fluchtgeschichte hinter sich. Sein Glaube ist ihm eine wichtige Kraftquelle und hat ihn immer wieder weitergehen lassen. Er sucht einen Ort, wo er über sein Leben und seinen Glauben ins Gespräch kommen kann. Herr Rahimi ist bereits einige Zeit in der Aufnahmeeinrichtung, und es scheint sich bislang nichts getan zu haben. Er hat an entsprechenden Stellen nachgefragt, doch er hat nichts verstanden und wurde schnell abgewiesen. Herr Rahimi ist deshalb frustriert und fühlt sich herabgesetzt. Frau Nour trauert um ihre Schwester, die in ihrem Heimatland ermordet wurde. Frau Keita ist mit dem Asylsystem überfordert und hat Angst vor der Anhörung.
Alle diese Personen leben in einer Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Die Seelsorge ist für sie ein wichtiger Bezugspunkt geworden. Diese große Bedeutung der seelsorglichen Unterstützung für Menschen auf der Flucht hat die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz veranlasst, im Januar 2022 ein Handlungskonzept zur Seelsorge in Aufnahmeeinrichtungen zu veröffentlichen.1 Damit reagiert sie auf ein Zeichen der Zeit und unterstreicht die wichtige Rolle dieses Handlungsfeldes, das in Deutschland noch kaum entwickelt ist. Doch warum erscheint dieser Auftrag so bedeutsam? Welche Dimensionen umfasst er? Und vor welche Herausforderungen ist eine solche Seelsorge gestellt?
Im Handlungskonzept der Bischofskonferenz geht es um Seelsorge in Erstaufnahmeeinrichtungen, Ankunftszentren, AnkER (Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückkehr-Einrichtungen) und funktionsgleichen Einrichtungen. Je nach Bundesland sind diese unterschiedlich organisiert und tragen unterschiedliche Namen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es sich um größere Einrichtungen handelt, in denen Geflüchtete nach ihrer Ankunft untergebracht sind, bis sie entweder in die Kommunen verteilt oder aber abgeschoben werden. Die Geflüchteten durchlaufen vor Ort die ersten Schritte des Asylverfahrens. Mehrere Behörden arbeiten vor Ort zusammen. In diesen Einrichtungen können Geflüchtete in der Regel bis zu 18 Monate lang untergebracht sein.
Häufig waren diese Menschen in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht sehr belastenden und traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt. Die Erfahrungen, die sie in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland machen, können zentral für ihre längerfristige psychische Gesundheit sowie für ihre aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sein. Die religiöse Prägung eines Großteils der Geflüchteten kann für sie eine zentrale Kraftquelle sein und sollte auch als gemeinsame Ressource genutzt werden.
Die Gründe, aus denen die Geflüchteten ihr Herkunftsland verlassen haben, sind individuell unterschiedlich. Nicht alle Fluchtursachen und -motive werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Schutzgründe anerkannt. Für die Geflüchteten sind ihre Fluchtgründe jedoch sehr real. Äußere soziale Prozesse lösen in ihnen psychische Reaktionen aus. Manche sahen ihr Leben bedroht. Sie wurden von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren verfolgt, gerieten in die Fänge von Menschenhändlern, bangten auf der Flucht in der Wüste oder im Mittelmeer um ihr Überleben. Die Angst sitzt ihnen noch in den Knochen. Andere haben Zerstörung erlebt: Sie wurden missbraucht, gefoltert; kriegerische Auseinandersetzungen haben ihre Wohnung, ihre Stadt, Teile ihres Landes verwüstet. Diese Erfahrungen führen in der Regel zu Traumatisierung. Die Betroffenen durchleben die erschütternden Erlebnisse innerlich immer wieder neu und sie rauben ihnen den Lebensmut. Viele Geflüchtete haben Freunde, Familienangehörige und Verwandte verloren. Und auch ihre Heimat, in der sie sich orientieren konnten, mussten sie verlassen. Sie trauern.
All diese Erfahrungen sind mit der Ankunft in Deutschland nicht einfach verschwunden. Sie belasten die Betroffenen weiterhin. Gleichzeitig bringen viele Geflüchtete unglaubliche innere Ressourcen mit. Andernfalls hätten sie es nicht geschafft, sich auf den gefährlichen und prekären Weg der Flucht zu begeben. Diese Menschen sehnen sich nach Lebensperspektiven. Sie sehnen sich nach einem Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit. Nicht wenige haben den Wunsch, möglichst schnell Deutsch zu lernen, neue Kontakte zu knüpfen, sich durch Arbeit eine eigene Existenz aufzubauen und sich in dieser Gesellschaft einzubringen.
Mit ihren Wünschen stoßen die Geflüchteten in den Erstaufnahmeeinrichtungen jedoch schnell an Grenzen. Die Möglichkeit, Deutsch zu lernen, ist bisweilen sehr eingeschränkt; das Leben in den häufig abgelegenen Einrichtungen erschwert den Kontaktaufbau zu der lokalen Bevölkerung, und eine reguläre Arbeitsaufnahme ist in der Regel nicht möglich.
Sequentielle Traumatisierung
Die erste Zeit nach der Ankunft in Deutschland ist eine Schlüsselphase, in der Weichen für ihre weitere Zukunft gestellt werden. Hans Keilson hat in seiner Forschung zur sequentiellen Traumatisierung nachgewiesen, dass je nachdem, ob nach einer erschütternden, traumatisierenden Erfahrung ein unterstützendes Milieu vorhanden ist oder nicht, solche Erfahrungen relativ gut verarbeitet werden oder eben weitreichendere Schwierigkeiten auftreten.2 Der gesamte traumatisierende Prozess muss also in den Blick genommen werden. Sozialpolitische Faktoren und individuelle Lebenserfahrungen sind miteinander verwoben und bedingen intrapsychische Prozesse. Der Gestaltung der Situation nach einer sehr belastenden, traumatisierenden Erfahrung kommt jedenfalls zentrale Bedeutung zu, um die Traumatisierungskette zu unterbrechen und zu einer Stabilisierung der lebensgeschichtlichen Entwicklung beizutragen.
Die derzeit bestehenden staatlichen Strukturen haben dieses Anliegen jedoch nur unzureichend im Blick. Die materiellen Lebensgrundlagen sind in den Aufnahmeeinrichtungen zwar grundsätzlich gesichert. Doch psychosoziale Zusammenhänge werden in diesen mehr oder weniger geschlossenen Systemen meist nur unzureichend berücksichtigt. Die Einrichtungen sind darauf ausgelegt, die mit dem Asylverfahren in Zusammenhang stehenden Prozesse für eine größere Anzahl von Geflüchteten möglichst effizient zu gestalten. Diese logistische Leistung ist zu würdigen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass es nur sehr bedingt möglich ist, in diesen Einrichtungen auf die seelische Not einzugehen, die viele Menschen mit sich tragen. Hierzu kann Seelsorge einen wesentlichen Beitrag leisten.
Multidimensionale Seelsorge
In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes ist davon die Rede, dass die Kirche mit der gesamten Menschheitsfamilie engstens verbunden ist. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten sollten in Christinnen und Christen einen Widerhall finden. Die Kirche ist aufgerufen, auf individueller und struktureller Ebene daran mitzuarbeiten, dass die Würde jedes einzelnen Menschen geachtet wird und dass eine Gesellschaft weiterentwickelt wird, in der genau diese Würde aller Menschen anerkannt wird.
Doris Nauer spricht vom Konzept der multidimensionalen Seelsorge. Menschen kümmern sich um den ganzen, komplexen, ambivalenten und gottgewollten Menschen und tragen dafür Sorge, dass Leben in Fülle (Joh 10,10) erfahrbar wird. Dies soll sowohl in Alltags- als auch in Glücks- und Krisenzeiten geschehen und ist jeweils abhängig von der individuellen oder kollektiven Lebenssituation und Bedürfnislage. Seelsorge soll in und trotz Krankheit, Behinderung, Gebrechlichkeit, Siechtum, Todesangst, Einsamkeit, Verzweiflung, Leid, Not, Armut, Hoffnungslosigkeit und Fragmentalität stattfinden.3 Gerade im Kontext der sehr belastenden Situation von Flucht ist Kirche aufgerufen, präsent zu sein und dazu beizutragen, dass Geflüchtete Leben in Fülle, ihre Würde, oder biblisch gesprochen: ihre Gottes-Ebenbildlichkeit erfahren dürfen.
Nauer beschreibt, wie eng Geist, Körper/Psyche und soziale Kontexte miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen. Somit muss auch Seelsorge diese verschiedenen Dimensionen im Blick haben. So spricht Nauer von der pastoralpsychologisch-heilsamen, der spirituell-mystagogischen und der diakonisch-prophetischen Dimension von Seelsorge.4 Im Kontext von Flucht gewinnen diese Dimensionen eine besondere Bedeutung.
Pastoralpsychologisch-heilsame
Dimension der Seelsorge
Zahlreiche Geflüchtete haben in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht und auch am neuen Lebensort sehr belastende oder gar traumatisierende Situationen erlebt. Diese Belastungen tragen sie mit sich. Viele von ihnen können nachts nicht schlafen. Immer wieder steigen Bilder des Erlebten in ihnen auf. Die Angst vor der Zukunft, insbesondere vor einer möglichen Abschiebung sitzt ihnen in den Knochen. Eine Therapie ist in der Aufnahmeeinrichtung in der Regel nicht vorgesehen. Viele Geflüchtete sind mit all diesen Sorgen weitgehend allein gelassen. Manche haben noch Kontakt zu Familienangehörigen an anderen Orten – doch auch dort können sie des Öfteren nicht offen reden: Zu hoch ist der Erwartungsdruck, dass die Person in Deutschland ein gutes Leben führt und die Familie im Herkunftsland auch finanziell unterstützt. Und auch die vorübergehenden Kontakte zu anderen Geflüchteten gestalten sich bisweilen als schwierig. Vor allem ist es nicht immer leicht, Schwäche zu zeigen. Deswegen ist es für Geflüchtete hilfreich, am geschützten Ort der Seelsorge zu erzählen und offen die eigenen inneren Nöte auszusprechen. Dies kann manchen Knoten lösen und Entlastung mit sich bringen. Natürlich werden nicht alle Probleme damit beseitigt. Doch Seelsorge kann den Geflüchteten helfen, sich innerlich wieder aufzurichten und sich den Herausforderungen zu stellen. Sie kann ihre Resilienz stärken.
In Deutschland sind Geflüchtete zunächst mit viel Bürokratie konfrontiert. Sie müssen viele offizielle Schritte gehen, werden von verschiedenen Stellen wegen fehlender Zuständigkeit abgewiesen, verstehen das deutsche Asylsystem oft nicht und haben den Eindruck, gegen Mauern zu rennen und keinen Ausweg zu finden. Die Lebensgeschichten geflüchteter Menschen passen nicht immer in das Schema deutscher Bürokratie. So fühlen sie sich bisweilen gedemütigt. Neben dem Auffangen emotionaler Instabilität hilft es, wenn die Seelsorge erste Orientierungshilfe gibt. Wo Zusammenhänge und Regeln verstanden werden, erlangen Geflüchtete wieder einen Teil ihrer Handlungsfähigkeit zurück und werden damit befähigt, nach und nach eigenständiger die notwendigen Schritte zu tun.
Viele geflüchtete Menschen haben in ihrem Herkunftsland eine gute Ausbildung erhalten und bedeutsame Aufgaben erfüllt. Im Ankunftsland machen sie jedoch die Erfahrung, in der gesellschaftlichen Hierarchie zunächst ganz unten zu stehen, sich nicht mit den eigenen Fähigkeiten einbringen zu dürfen und so als Hilfeempfänger in hohem Maße abhängig von Anderen zu sein. Bei ihrer Ankunft sind sie zunächst oft sehr erleichtert und tragen ein sehr positives Bild von Deutschland in sich; sie meinen, es nun endlich geschafft zu haben und nun neue Lebensperspektiven entwickeln zu können. Doch nach einigen Wochen sind viele frustriert. Sie erfahren, dass es nicht so selbstverständlich ist, in Deutschland bleiben zu können. Sie merken, dass sie nicht so willkommen sind, wie sie gedacht hatten, und dass ihnen trotz ihres guten Willens nicht alle Türen offen stehen. Häufig chronifiziert sich diese Situation von Unsicherheit im Laufe der Zeit.
All diese verschiedenen Erfahrungen wirken lähmend auf Menschen und machen sie depressiv. Umso wichtiger sind seelsorgliche Begegnungen, in denen sie in ihrer Würde gesehen und wahrgenommen werden und grundsätzliche Wertschätzung erleben. Es braucht Begegnungen, in denen sie mit ihrer Gebrochenheit, ihren Fragen und Zweifeln, ihren Fähigkeiten und Sehnsüchten da sein dürfen, in denen sie mit all dem gesehen und ernst genommen werden. Solche heilsamen Begegnungen und Begleitungen helfen, dass sich Menschen ihre innere Kraft wieder erschließen können, um sich den Herausforderungen zu stellen. Sie tragen dazu bei, nicht zu verbittern, sondern immer wieder neu aufzustehen, Gestaltungsspielräume wahrzunehmen und sich in die Gesellschaft einzubringen.
Spirituell-mystagogische Dimension von Seelsorge
Viele Geflüchtete kommen aus deutlich religiös geprägten Ländern – sei es christlich, muslimisch oder eine andere Religion. In Deutschland angekommen ist es für sie jedoch nicht immer leicht, Anschluss an eine Glaubensgemeinschaft zu finden. Sprachliche Hürden, kulturelle Unterschiede, räumliche Distanzen, durch das Asylverfahren bedingte Wohnortwechsel in der Anfangszeit des Aufenthaltes in Deutschland und zum Teil stark in sich geschlossene Gemeinden erschweren es auch den Christinnen und Christen unter ihnen, einen Platz in einer Gemeinde zu finden.
Für zahlreiche Geflüchtete ist ihr Glaube jedoch eine wichtige Kraftquelle. Seelsorge hilft, sich diese Kraftquelle neu zu erschließen. Das gemeinsame Lesen in der Bibel, verschiedene Formen der Liturgie und religiöse Rituale helfen, das eigene Leben im Glauben vor Gott zu bringen und Spuren Gottes in der eigenen Lebensgeschichte zu entdecken. So kann etwa das gemeinsame Lesen von Psalmen, in denen Dank genauso wie Klage und Bitten auf sehr klare Weise zum Ausdruck gebracht werden, dabei unterstützen, selbst sprachfähig zu werden und entsprechende eigene Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Manche geflüchteten Menschen stellen angesichts schmerzhafter Lebenserfahrung vieles infrage, ringen um ihren Glauben. Manche wenden sich von ihrem Glauben ab und suchen neue Orientierung. Seelsorge kann diese Auseinandersetzung begleiten. Sie kann einen Resonanzraum bieten, der es ermöglicht, sich den Fragen zu stellen, Trost zu erfahren, Grenzen von Trost anzuerkennen, mit Schuld umzugehen und Versöhnungswege zu gehen, nach und nach klarer zu sehen und in aller Freiheit einen inneren Weg der Bestätigung oder der Neuorientierung zu finden. Für andere Geflüchtete ist gerade ihr Glaube ein wichtiger Anker in ihrer stürmischen Lebensgeschichte. Sie erfahren in ihrem Glauben Halt. Sie erfahren einen Gott, der sie auch angesichts von Leid und Tod nicht fallen lässt, sondern der ihnen trotz und in allem verlässlich zur Seite steht. Diese Erfahrung ist für manche Menschen zentral, um die Hoffnung nicht zu verlieren und sich den Herausforderungen zu stellen. Seelsorge will Raum bieten, um sich diese Kraftquelle zu erschließen.
Für manche Geflüchtete stellt sich die Frage nach einer Konversion. Manche können sich mit dem bisherigen Glauben angesichts ihrer Erfahrungen im Herkunftsland nicht mehr identifizieren und entdecken in einer anderen Religion etwas, das sie anspricht. Hier hilft Seelsorge, den neuen Glauben, neue Glaubensinhalte und Gebetsweisen kennenzulernen. Eine entsprechende Hinführung zum Glauben ist schließlich die Voraussetzung dafür, um sich in aller Freiheit für oder gegen eine Konversion entscheiden zu können.
In einer Aufnahmeeinrichtung kommen Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen. Dabei werden Religionen sowohl als etwas Verbindendes als auch als etwas Trennendes erlebt. Seelsorge sollte einerseits den Menschen Raum geben, um Stärkung in ihrer eigenen Religion zu finden. Andererseits sollte sie grundsätzlich offen sein für alle Geflüchteten, und das bedeutet auch: für interreligiösen Dialog. Die Erfahrung von gegenseitiger Wertschätzung und Verständigung hilft, eine Haltung der Offenheit verschiedenen Religionen gegenüber zu bestärken oder überhaupt erst zu entwickeln, eine Haltung, die für ein friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft von Bedeutung ist.
Diakonisch-prophetische
Dimension von Seelsorge
Die Kirche stellt sich den Anspruch, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Dieser hohe Anspruch muss immer wieder konkretisiert werden, sowohl im Handeln im Kleinen wie auch auf struktureller Ebene. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist in Deutschland Rechtsgrundlage dafür, dass die materielle Situation Geflüchteter grundsätzlich gesichert ist – auch wenn man im Detail an der einen oder anderen Stelle durchaus diskutieren kann. Dennoch können im Einzelfall Versorgungslücken auftauchen. Entsprechende materielle Hilfe ist zwar nicht genuiner Auftrag von Seelsorge. Und doch kann es im Einzelfall geboten sein, die Not zu sehen und in begrenztem Umfang schnelle, unbürokratische Hilfe zu leisten.
Seelsorge kann auch dabei unterstützen, die soziale Vernetzung voranzutreiben. Soziale Kontakte sind zentral, um in einer neuen Gesellschaft anzukommen. Zum einen führt das Leben in persönlichen sozialen Beziehungen aus Einsamkeit heraus und steigert das psychische Wohlbefinden. Zum anderen müssen sich Geflüchtete ein ganz neues Lebensumfeld aufbauen. Dabei sind soziale Ressourcen oft von wesentlicher Bedeutung, um sich bei Bedarf weitere Unterstützungspunkte zu erschließen. Seelsorge baut im Fall der Fälle dabei auch eine Brücke zu Kirchengemeinden vor Ort. Dort ist bisweilen mehr an Gemeindeerfahrung und an sozialer Vernetzung möglich, die für weitere Schritte der Integration und der Partizipation wichtig ist. Gleichzeitig bringt Seelsorge mehr Kompetenzen aus dem interkulturellen, sprachlichen und asylrechtlichen Kontext in die Aufnahmeeinrichtungen hinein mit. So können sich die verschiedenen Dienste gut ergänzen. Auch über die Gemeinden hinaus kann Seelsorge durch ihren weit aufgestellten Blick auf den Menschen erkennen, wo etwa eine weiterführende Rechts- oder Sozialberatung notwendig ist, und entsprechende Kontakte herstellen.
Seelsorge mit ihrem spezifischen Blick auf Menschen in Aufnahmeeinrichtungen kann aus ihrer Perspektive heraus auch besondere Situationen wahrnehmen und analysieren. Im Bedarfsfall ist sie auch gefragt, kritische Punkte anzusprechen und Impulse zur Veränderung von Situationen zu setzen. Dabei muss Seelsorge nicht politische Arbeit in ihren ganzen Dimensionen leisten. Sie kann jedoch im konkreten Einzelfall advokatisch handeln und sich für die Würde und die Rechte von geflüchteten Menschen einsetzen. So leistet sie in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren und Akteurinnen einen wichtigen Beitrag, um auf eine Veränderung ungerechter oder unmenschlicher Praktiken und Strukturen hinzuarbeiten.
Die Aufnahmeeinrichtungen sind daraufhin ausgelegt, einen reibungslosen Ablauf des Asylverfahrens zu ermöglichen. Dieses Anliegen hat seine Berechtigung, doch werden andere psychosoziale Aspekte kaum berücksichtigt, die nicht zuletzt für eine gelingende Integration und Partizipation von zentraler Bedeutung sind. Wenn Menschen über Monate und bisweilen Jahre hinweg kaum Möglichkeiten haben, an einem Sprachkurs teilzunehmen, keine Ausbildung machen und nicht arbeiten dürfen, wenn sie über Jahre hinweg in einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit leben, keine Möglichkeit zur Therapie haben und als Leistungsempfänger in eine Versorgungsmentalität gedrängt werden, dann erschwert dies Schritte zur Partizipation, zur Übernahme von Verantwortung sowohl für das eigene Leben wie auch in der Gesellschaft. Damit wird der Leidensweg von Geflüchteten auf veränderte Weise fortgesetzt. Wertvolle Potenziale dieser Menschen gehen für unsere Gesellschaft verloren. Seelsorge kann hier nicht wegschauen. Sie ist aufgefordert, ihre Stimme zu erheben und auch einen ethisch urteilenden Blick auf die Situation geflüchteter Menschen einzubringen.
Adressatinnen und Adressaten einer solchen advocacy sind konkrete Akteurinnen und Akteure in den Aufnahmeeinrichtungen vor Ort, politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie gesellschaftliche Gruppen. Die Erfahrungen mit geflüchteten Menschen in unserer Gesellschaft sind unterschiedlich. Seelsorge lädt durch Sensibilisierungsarbeit zu einem Perspektivwechsel ein. Durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit kann ein neuer Blick auf geflüchtete Menschen eröffnet werden. Dabei sollen die negativen Erfahrungen, die es auch gibt, nicht übergangen werden, im Gegenteil: Indem Hintergrundinformationen zur Verfügung gestellt werden, wird der Blick auf problematisches Verhalten von Geflüchteten sensibilisiert und werden neue Sichtweisen eröffnet.
So verstanden kann Seelsorge zu einem Stein des Anstoßes werden. Sie kann sich konkret für einzelne Menschen und deren Würde einsetzen und heilsame Erfahrungen ermöglichen. Sie kann die Dimension von Transzendenz für einzelne und das Lebensumfeld offenhalten und erschließen helfen. Und sie kann uns an unsere Verantwortung erinnern, an einer Gesellschaft mitzubauen, in der die Würde und die Rechte aller Menschen geachtet und geschützt werden.