Gespaltene Staaten von Amerika

Corona hat den Atlantik breiter und tiefer werden lassen. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach langer Zeit der selbstgewählten Isolation wieder amerikanischen Boden zu betreten. Der Moment, wenn das Flugzeug in der Neuen Welt Bodenkontakt aufnimmt, ist für mich stets auch mit einem Gefühl der Befreiung verbunden. Man atmet weiter, denkt großzügiger und wagemutiger auf der anderen Seite des Atlantiks. Aber der Zukunftsoptimismus ist auch in den USA vorsichtiger, ja zaghaft geworden. Bedrohliches braut sich zusammen, Angst liegt in der Luft. Man betritt ein zerrissenes Land, das sich an die dunklen Seiten seiner Geschichte erinnert. Das ist mit Händen zu greifen, überall und allgegenwärtig.

Die größten Wunden haben sich die USA selbst zugefügt. Der Bürgerkrieg, entfacht durch die Unmenschlichkeit der Sklaverei, kostete das Land mehr Opfer als jeder andere Krieg. Die Ausläufer dieses Konflikts sind noch immer wirkmächtig. Wer die Vereinigten Staaten unter der Oberfläche kennt, spürt, dass auch heute noch zwei Herzen in ihrer Brust schlagen. Trumps aufpeitschendes letztes Jahr brachte die schwelenden Konflikte ans Tageslicht. Auf der einen Seite waren es nicht mehr die von Gandhi inspirierten Strategien des gewaltlosen Widerstands, die man aus den Zeiten eines Martin Luther Kings kannte: Innenstädte wurden wochenlang zu gesetzlosen Zonen, Feuer züngelten aus Regierungsgebäuden und den Geschäften völlig Unbeteiligter. Auf der anderen Seite waren es bis unter die Zähne bewaffnete rechte Milizen, die selbst vor dem Zentrum der Demokratie, dem Kapitol, nicht Halt machten.

Nichts ist mehr heilig. An den Universitäten hört man von wohlbehüteten jungen Menschen aus bürgerlichen Familien, dass dieses Land durch Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Rassismus so korrumpiert sei, dass allein mit Waffengewalt ein neuer, besserer Staat errichtet werden könne. Die andere Seite aber, die Verteidiger des Amerikas der Gründerväter, will die Denkmäler der glorreichen Vergangenheit nicht einreißen. Sie glauben sich noch mehr bewaffnen zu müssen, um ihren „way of life“ zu schützen. Vierzig Millionen verkaufte Feuerwaffen machten 2020 zu einem Rekordjahr, auch 2021 war der Trend ungebrochen. Das Land wird zum Pulverfass.

Die katholische Kirche spiegelt diesen Konflikt wider. Auch in ihr gibt es ein Lager von Kulturkämpfern, die einer längst vergangenen gesellschaftlichen Ordnung, einem traditionellen Ideal von Familie und einer wirklichkeitsfremden Vorstellung gelebter sexueller Identität Orte des Überlebens schaffen wollen. Sie sehen die Kirche als Stadt auf dem Berge, die der Welt so fern ist wie der Leuchtturm dem Schiff im aufgewühlten Meer. Diese Gruppe ist stärker und mächtiger als in Deutschland. Sie sieht bis heute Benedikt XVI. als ihre geistige Leitfigur. Auf der anderen Seite gibt es jene, die die Kirche als inspirierende Kraft für den Aufbau einer neuen, gerechteren sozialen Ordnung sehen wollen, die den systemischen Rassismus radikal hinter sich lässt. Ihr Bild der Kirche ist das vom Sauerteig: In der Welt aufgehend wird diese zugleich durchdrungen. Die Anpassung klassischer Positionen der Moral an das gesellschaftliche Empfinden wird in diesem Prozess bejaht, ja gefordert. Diese Gruppe orientiert sich an Papst Franziskus. Der Bruch ist nicht nur in der Bischofskonferenz zu beobachten, sondern die ganze Kirche ist in zwei Lager gespalten. Jedes davon verbündet sich mit einer der beiden großen staatstragenden politischen Parteien. Gespräch ist kaum noch erwünscht. Man hat seine passende Gemeinde, seinen passenden Priester, die passenden Freunde, den passenden Fernsehsender und die passgenaue Blase in den Sozialen Medien. Man lebt in verschiedenen Welten.

Vor diesem Hintergrund ist die Rede zu lesen, die der apostolische Nuntius, Erzbischof Christophe Pierre, vor der letzten Herbstversammlung der amerikanischen Bischofskonferenz hielt. Er sprach davon, dass es in der Kirche und besonders in der Bischofskonferenz einer Phase des aufmerksamen Zuhörens bedürfe, wenn man die Spaltung überwinden wolle. Und damit seien nicht Planungen weiterer Treffen gemeint, denn „Konferenzen über Konferenzen“ fänden in den unteren Kreisen von Dantes Hölle statt. Ist das eine sublime Warnung, dass man es nicht den Deutschen nachmachen sollte, die außer viel zu reden in ihrem synodalen Prozess nichts bewerkstelligten? Aber was soll die Alternative sein? Das Schisma? Man muss reden.

Die amerikanische Kirche verfügt über die Tradition der Nationalsynoden. Nicht weniger als dreizehn Mal tagte das Plenarkonzil von 1829 bis 1884 in Baltimore. Der dabei entstandene „Baltimore Catechism“ prägte Generationen von Gläubigen. Die amerikanische Kirche drückte mit diesem synodalen Prozess im 19. Jahrhundert das nationale Selbstverständnis aus. Die Vereinigten Staaten waren und sind ein in vielfacher Hinsicht beispielloses Experiment der Demokratie. Auch die US-Kirche war synodaler als viele andere. An diese Tradition gilt es jetzt anzuknüpfen – mit dem Großmut, dem Wagemut, den wir an unseren nordamerikanischen Freunden schätzen.

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