Identität ist brüchig geworden. Die Frage des Einzelnen, wer er oder sie ist, aber auch die Frage nach der Identität eines Kollektivs ist akut. Metaphysische Antworten haben an Plausibilität verloren oder sind als Ideologien entlarvt. So ist die biblische Bestimmung des Menschen als Abbild Gottes für viele eine leere Floskel geworden. Nationale Identität wiederum kann kaum mehr geistig begründet werden. Ihre Ursprungsmythen und Gründungserzählungen sind durch kritische Geschichtsschreibung dekonstruiert. Verlässliche Erzählungen haben sich aufgelöst. Die Moderne mit ihrem Fortschrittsdenken hat Traditionen überhaupt obsolet gemacht. Die Erzählungen von Liberalismus und Sozialismus sind zudem an der Realität zerbrochen. Nur die naturwissenschaftliche Lehre von Urknall und Evolution scheint standzuhalten. Doch zum Narrativ des Sozialdarwinismus, das dem Stärkeren das Recht gibt, kann und darf Europa nicht zurück.
Dennoch gibt es keine Alternative: Auch im nachmetaphysischen Zeitalter lässt sich Identität nur narrativ-geschichtlich konstruieren. Wer sagen will, wer er oder sie ist, muss eine Geschichte erzählen, muss sagen, woher er kommt und wohin sie geht. Ohne Geschichte bricht dem Menschen und erst recht einer Gesellschaft die Identität weg. Hektik oder sogar Panik brechen aus, wenn einem in jedem Augenblick der Abhang unter den Füßen in die Vergangenheit wegrutscht.
Auf die Dekonstruktion identitätsstiftender Geschichtsschreibungen hat die europäische Kultur mit Erinnerungsarbeit reagiert. Nach den Naziverbrechen musste sich Deutschland zuerst an die Aufarbeitung machen. Langsam kamen dabei die Opfer in den Blick. Die Shoah kristallisierte sich als Gravitationszentrum der Erinnerungskultur heraus. Der Historikerstreit über Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust bildete in den 1980er-Jahren einen Höhepunkt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann man auch in Osteuropa, die Verbrechen an den Juden aufzuarbeiten. Erinnerungsarbeit wurde zum Eintrittsbillett in die Gesellschaft nach dem Kalten Krieg. Heute ist der 27. Januar von der UNO zum Gedenktag der Opfer des Holocaust erklärt. Am 9. November wird über Deutschland hinaus an die Reichspogromnacht erinnert.
Die Reinigung des Gedächtnisses, die zu würdiger Identität verhelfen soll, wird heute jedoch neu herausgefordert. Die Welt hat sich geändert. Die Machtzentren sind seit der Jahrtausendwende global geworden. Damit werden die kolonialen Verbrechen in den Vordergrund gerückt. Der Fokus der Erinnerungsarbeit verschiebt sich. Die post colonial studies kritisieren das eurozentrische Denken und Handeln, allem voran seinen Rassismus. Die Aufarbeitung heißt nun: Rückerstattung von Kulturgütern, Ende der Rassendiskriminierung, weltweite Gendergerechtigkeit, Anerkennung von Völkermorden, wie zum Beispiel jenem, den die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia zwischen 1904 und 1907 an den Herero verübt hat. Gesellschaften und Staaten, die zur globalen Weltgemeinschaft gehören wollen, haben sich der postkolonialen Geschichtsforschung zu stellen.
In den letzten Monaten konnte man in Zeitschriften und Feuilletons heftige bis gehässige Debatten darüber verfolgen, wie Kolonialismus und Faschismus zusammenhängen. Sind die verschiedenen Unrechtsregime zu vergleichen? Verstellt die Erinnerung an die Opfer der Shoah den Blick für frühere Völkermorde oder nicht? Oder hat die Erinnerung an den Judenmord die Wahrnehmung für anderes Unrecht geschärft? Unterschiedliche Opfergruppen streiten um öffentliche Anerkennung. Erlittenes Leid wird gegeneinander abgewogen und ausgespielt. Sebastian Conrad hat in einem erhellenden Beitrag im „Merkur“ vom August 2021 den Streit zwischen zwei Erinnerungskulturen ausgemacht. Durch den sich wandelnden Kontext seien sie, obwohl mit ähnlichen Mitteln arbeitend, einander in die Haare geraten.
Geschichtsschreibung, Erinnerung und Aufarbeitung sind unerlässlich für die Identität eines Kollektivs, so wie jeder und jede seine Herkunft auch mit den Schattenseiten kennen muss. In einer offenen Gesellschaft wird sich eine geschlossene Erzählung nicht mehr formulieren lassen. Der Einzelne wird sich unterschiedliche Narrative aneignen. Zahlreiche kulturelle Gemeinschaften sind in der heutigen Gesellschaft eine Realität, zumal Menschen mit unterschiedlichsten Migrationsgeschichten zusammenleben. Dass bei der Geschichtsschreibung ein Augenmerk auf Minderheiten und Opfergruppen gelegt wird, muss als Verdienst der Aufarbeitungskultur gewürdigt werden. Damit Identität jedoch gelingt und nicht auf Kosten Anderer konstruiert wird, kann sie weder allein aus dem Opferstatus noch aus der Aufarbeitung von Unrecht heraus formuliert werden. Es braucht positive, sinnstiftende Narrative, die eine Unrechtsanerkennung nicht verdrängt, sondern ihr Raum gibt. Angesichts der Ausdifferenzierung der Gesellschaft werden sie vielfältig sein. Naturwissenschaftliche, historische und auch wieder metaphysische Erzählstränge können kohärent aufeinander bezogen werden. Anders ist heute die Frage nach dem Woher nicht zu beantworten.